Ein merkwürdiger Fund

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An einem warmen Spätsommerabend befand sich Wei WuXian nach Ewigkeiten wieder vor der Pforte des Wolkennestes. Monate lagen hinter ihm, die sich dank vieler Ereignisse und Herausforderungen wie Jahre anfühlten. Er blieb einen Moment stehen. Während der Wind durch sein schimmerndes Haar streifte erinnerte er sich an seinen allerersten Besuch.Niemals hätte er für möglich gehalten hinter diesem Tor, das er damals so regelwidrig überwunden hatte, seine Bestimmung zu finden. Nun schlug sein Herz schnell vor Aufregung und Vorfreude auf die Menschen, die er dahinter anzutreffen hoffte. Besonders einen. Langsam durchschritt er die blumigen Gärten, vorbei an ruhenden Häusern und stillen Teichen. Er wunderte sich über die spärliche Laufgesellschaft. Ein paar Schüler spazierten mit wallenden Gewändern vorüber, die Nasen in Büchern versunken.„Entschuldigung", sprach er sie an. Sie hoben ihre blassen Porzellangesichter. „Wei WuXian!", riefen sie aufgeregt. Jeder hier hätte ihn sofort erkannt. Mittlerweile galt er als regelrechte Berühmtheit. „Ihr wollt sicher zu ZeWu Jun. Er ist leider gerade außer Haus."„Wie schade." Wei WuXian verbeugte sich. „Dass ich ZeWu-Jun heute verpasst habe ist ein Jammer. Könntet ihr mir stattdessen sagen, wo ich HanGuang Jun finde?" Die beiden tauschten fragende Blicke. „Zuletzt hörten wir der junge Herr sei in seinen Gemächern, um zu meditieren", sagte der jüngere. „mit Gewissheit können wir es allerdings nicht sagen." „Danke, das hilft mir schon. Ich werde ihn finden!" Die Schüler verbeugten sich und setzten ihren Weg fort, während Wei WuXian vor sich hin grinste. Was für eine galante Verleugnung seines eigentlichen Besuchsgrundes ihm gelungen war, ohne dass er überhaupt hatte lügen müssen... Er kannte den Weg zu Lan WangJis Gemächern genau. Oft war er dort gewesen, um still und heimlich auf dem Dach des Hauses zu liegen und Flöte zu spielen, während sein Freund längst geschlafen hatte. Er erinnerte sich an blaue Mondnächte und jede Menge Reiswein...Als er die Türen ruckartig aufzog und „Lan Zhan!", rief, um ihn zu erschrecken, fand er einen leeren Raum vor. Transparente Vorhänge wogen sich langsam wie Blätter im Wind. Wei WuXian trat langsam ein, um sich zu vergewissern wirklich allein zu sein. Sein Blick überflog den glatten Holzboden, das feinsäuberlich gemachte, weiß bezogene Bett und die Orchideen auf dem Schreibtisch. Er beugte sich hinunter, um ihre Blüten zu berühren. Makellos, wie alles andere in dieser Umgebung.Wei WuXian ließ sich auf das Kissen nieder und betrachtete die Dinge auf dem Tisch. Ein Kaligrafie Pinsel, frisches Pergament, eine bemalte Vase mit goldenem Rand... Lan WangJi liebte kunstvolle und kostbare Gegenstände. Ganz im Gegensatz zu Wei WuXian, der sich mehr aus einfachen und praktischen Dingen machte. Dennoch lag eine gewisse Faszination im Betrachten dieser Sachen, da sie Lan WangJi gehörten, der nichts ohne Grund besaß. Wei WuXian wusste, dass sich hinter jedem dieser Dinge eine Geschichte verbarg, ein tieferer Sinn, der einen gewissen Reiz in ihm auslöste und seine Kreativität weckte. So nahm er den Kaligrafie Pinsel, tauchte ihn in schwarze Tinte und begann zu zeichnen. Zuerst die Orchideen, dann die Vase und schließlich sogar den Pinsel selbst. Danach war Lan WangJi immer noch nicht aufgetaucht und Wei WuXian langweilte sich so sehr, dass er die oberste Schublade des Schreibtisches aufzog, um dort vielleicht weitere Motive zu finden. Er fand einen hübschen, mit Jadesteinen besetzten Kamm. Für einen Augenblick sah er Lan WangJi vor sich, der sich das Haar kämmte. Ein süßliches Lächeln legte sich auf Wei WuXians Gesicht, doch diese Vorstellung wurde schnell verdrängt, als ihm eine Mappe mit gebundenem Pergament begegnete. Sie war so ordentlich in Seide eingewickelt, dass er zig Schlaufen lösen musste, bis sich das Geheimnis ihres Innern offenbarte. Sofort erkannte er die geschwungene Handschrift Lan WangJis. Er blätterte durch viele beschriebene Seiten. Was hatte er da gefunden? Lan WangJis Memoiren? Als er zufällig einen aus dem Zusammenhang gerissenen Satz las, überkam ihn ein heißer Schauer. Ging es etwa um ihn?

//... als ich ihn zum ersten Mal sah, trug er dieses dreiste Lächeln im Gesicht und ich wusste er würde mir mehr Ärger, als Freude bereiten.//

Etwas in Wei WuXian schrie er möge seinen Fund schleunigst wieder in die Tiefen des Schreibtisches versinken und ihn nie mehr auftauchen lassen, doch etwas anderes lechzte vor Sensationsgier. Dies musste ein Tagebuch sein. Hier schien der rätselhafte Lan WangJi seine unartikulierten Gefühle festgehalten zu haben. All jene Dinge, die sonst nie seine Lippen verließen, lagen ihm nun in ihrer Ausführlichkeit zu Füßen. Wie sehr es Wei WuXian, der selbst so mitteilungsbedürftig und redselig war, danach verlangte die mysteriösen Gedanken von Lan WangJi zu kennen... So viel Lebenszeit hatte er damit verschwendet darüber nachzugrübeln, was wohl in ihm vorging, dass sein Verlagen nach Wahrheit ihn dazu zwang weiterzulesen. 

//... Ich fühlte auch, dass ich nie jemandem wie ihm begegnet war. Er zog alle Aufmerksamkeit auf sich, doch vor allem meine und das schmerzte mich sehr, wusste ich doch vom ersten Augenblick, wie einseitig ich ihn verehrte, so sehr, dass ich kaum mehr schlafen konnte.//

Wei WuXians Hand begann zu zittern. Er verehrt mich? Vom ersten Augenblick an? Er konnte nicht glauben was dort geschrieben stand. Er blätterte einige Seiten weiter, der festen Überzeugung Lan WangJi habe diese Zeilen womöglich am Abend ihrer gemeinsam Trunkenheit verfasst, doch dort ging es ganz ähnlich weiter.

//Es ist nun bereits der zweite Monat vergangen seit Wei WuXian den Unterricht im Wolkennest besucht und doch geschehen jeden Tag neue Überraschungen. Es fällt mir schwer mich gegen meine inneren Stimmen zu wehren. Er hat viele Freunde. Auch mich will er für sich gewinnen, doch ich kann ihm diese Genugtuung nicht geben, ich kann mich ihm nicht nähern. Ich würde mich verlieren. Ich will nicht blutend wie ein Reh vor seinem Räuber liegen, während er längst ein anderes reist...//

„Lan Zhan..." Wei WuXian fühlte Tränen in sich aufsteigen und legte eine Verschnaufpause ein. Seine Gedanken wanderten weit in die Vergangenheit, um all diese Momente zu rekapitulieren. Lan WangJi war immer so kalt und abweisend zu ihm gewesen, doch nur, um sein Interesse zu verbergen? Aus Sorge er könne verletzt werden? Wei WuXians Brust brannte vor Reue. Wieso bin ich nicht hartnäckiger gewesen? Wieso habe ich mich zurückweisen lassen? Ich hätte spüren müssen, was in dir vorgeht, Lan Zhan... In schwierigen Situationen hast du mich immer beschützt...!Er bemerkte wie sehr es ihn mitnahm in diesem verbotenen Werk zu lesen und beschloss nur noch eine weitere Seite zu lesen, eine neuere, um sich zu vergewissern, ob Lan WangJi immer noch so fühlte wie damals. Er blätterte zum aktuellsten Eintrag – und tatsächlich. Gerade heute hatte er etwas hineingeschrieben. Vielleicht sogar nur einige Stunden zuvor.

//Wieder schenkt uns die Sonne einen goldenen Tag voller Freude und Glück. Ich höre die Schüler draußen kämpfen und scherzen. Sie genießen ihre Zeit, während ich allein bin. Ich wollte es so, denn so fühle ich mich am besten. Warum nur ist mein Herz dann so schwer? Voll von Sehnsucht nach etwas weit Entferntem. Unausgesprochene Dinge werden nie gehört sein. Ich denke an ihn, jeden Tag mehr. Ich frage mich, was er macht und ob es ihm gut geht. Sicher hat er genauso viel zu tun wie ich. Ob ihm auch nichts zugestoßen ist seit unserer Trennung?Ich habe Angst, dass er sich verändern könnte. Ich empfinde Eifersucht für jeden mit dem er in meiner Abwesenheit spricht. Vielleicht hat er mittlerweile eine Frau gefunden? Bin ich dann überhaupt noch von Bedeutung?Ich versuche ihn mir vorzustellen, sein schlankes Gesicht, umrahmt von Schwarz und Rot. Die kraftvollen, eleganten Bewegungen seines Körpers. Seine fröhlichen Augen, seine Lippen, auf denen ein vorlautes Wort liegt... Ich vermisse ihn.//

Wei WuXians Tränen fielen auf das Pergament und verwischten die letzten Schriftzeichen. „Oh nein!", fluchte er, doch als er versuchte die Tropfen wegzuwischen, verschmierte die Tusche nur noch mehr. Nun würde sein Verrat offensichtlich werden. Lan WangJi würde ihm sicher nie verzeihen, dass er in seinem Tagebuch gelesen hatte. Es gab nur eine Rettung: die Mappe so schnell wie möglich zu zuklappen und wieder in den Schreibtisch verschwinden zu lassen. Genau das tat er. Dann erhob er sich schwankend vom Boden und ging zum Fenster. Mit den schwarzen Lederarmschienen seiner Uniform trocknete er sich das Gesicht, doch sie konnten seine Tränen nicht auffangen. Er wusste nicht einmal, warum er weinte, doch je länger er vorm Fenster stand, desto mehr Klarheit gewann er. Ein Knoten in ihm hatte sich endlich gelöst und daraus hervor kam eine lang verdrängte Erkenntnis. Er liebte Lan WangJi schon so lange. Nie hätte er gewagt es sich einzugestehen, wäre nicht dieses Buch in seine Hände gefallen, das zum ersten Mal etwas möglich machte: Lan WangJi und ihn. Plötzlich ließ er sie alle zu, die vergessenen Träume von seinem besten Freund, Blicke, die zu intensiv erschienen, als dass man sie unter Freunden teilte. Sanfte Worte gefüllt mit Nichtigkeiten, nur ausgesprochen, weil sie zärtlich klangen...„Du bist so langweilig...", hatte er Lan WangJi ins Ohr geflüstert, als sie irgendwann einmal von ihren Begleitern am Lagerfeuer vergessen worden waren. Gemeint hatte er „Du bist so wunderschön..." denn das Feuer war in Lan WangJis silbernem Stirnreif zu einem Funkeln geworden, das heller strahlte als der Mond. Noch heute fühlte er den Nachklang dieser Szene in seinem ganzen Körper...„Wei WuXian!" Er fuhr herum, begegnete dem Saum eines hellblauen Seidengewandes und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, so voller Hoffnung endlich den zu erblicken, den sein Herz so sehr zu sehen wünschte.

The SecretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt