„Halte dein verdammtes Schwert aufrecht, wie oft muss ich dir das noch sagen!" Der angesprochene war etwa fünfzehn Jahre alt, sein Haar reichte ihm gerade bis zur Schulter. Er korrigierte seine Haltung, doch das Schwert in seiner Hand zitterte. „Wie einfältig bist du? Gerade halten sollt du es! Nimm deine zweite Hand zu Hilfe, du bist noch nicht stark genug!"
Jiang Cheng verschaffte seinen Worten Nachdruck, indem er die andere Hand des Jungen hinter seinem Rücken hervorholte und auf den Griff des Schweres platzierte.
„Heute hat Clanführer Jiang wieder ganz fürchterliche Laune...", raunte einer der Schüler seinem danebenstehenden Freund zu.
„Erzähl' mir mal was Neues..."
Jiang Cheng drehte sich um, sein violettes Gewand schlug dabei große Böen im winterlich frischen Morgenwind. „Ihr da, was habt ihr zu tuscheln?! Fühlt ihr euch nicht ausgelastet? Wollt ihr zusätzliche Aufgaben? Dann sagt es einfach!"
Die beiden standen stramm, als Jiang Chengs schwere Stiefel sich auf sie zubewegten. „Nein, Clan Führer Jiang! Wir sind ausgelastet!", sagten sie wie aus einem Mund. Jiang Cheng blieb vor ihnen stehen und musterte sie von Kopf bis Fuß, seine Augen kalt und verärgert.
Auf seinem Gesicht hatte seit jeher eine steinerne Verbitterung gelegen, doch sie schien sich in den letzten Monaten noch vertieft zu haben. Falten des Argwohns lagen auf seiner Stirn und um seine Mundwinkel. Keiner der Schüler hatte ihn je Lachen sehen und auch jetzt zeigte er kein Mitleid.
„Auf den Boden mit euch!", befahl er, seine Stimme hallte in den hohen Mauern des Trainingshofes wider wie ein Kriegshorn. Die Schüler tauschen gebannte Blicke.
„Na wird's bald!" Sie gehorchten und gingen in die Knie. „Fünfhundert Liegestütze, sofort!"
„Fünfhundert?!", rief einer der beiden verzweifelt. Er war bereits müde vom Training. Seit sieben Uhr morgens übten sie mit ihren Schwertern und Jiang Cheng hatte nicht gerade leichte Kampftechniken für sie ausgesucht.
„Was bist du für ein Weichei?!", schrie er den Jungen an, Blitze schossen aus seinen Augen, die den Jungen sofort in die Knie zwangen. Ohne weitere Widerworte folgte er, doch Jiang Cheng war noch nicht fertig. „Du glaubst wohl, weil du aus einer guten Familie stammst werden dir die Dinge im Leben geschenkt! Aber ich werde dich eines Besseren belehren! Der Yunmeng Jiang Clan belohnt dich nur, wenn du hart arbeitest! Für Faulpelze ist hier kein Platz!" Er wandte sich zu den anderen. „Lasst euch das eine Lehre sein!"
„Ja, Clan Führer Jiang!", antworteten die Schüler im Chor, dann schickte er sie zum Mittagessen, während die beiden Störenfriede sich noch eine weitere Stunde damit abrackerten ihre Liegestütze hinter sich zu bringen. Jiang Cheng ließ sie mit Wachen beaufsichtigen. Ihre letzten Bewegungen waren träge und als sie es endlich geschafft hatten blieben sie einen Moment regungslos auf dem Boden liegen, bis die Wachen sie auf die Beine zogen.
So oder ähnlich verlief jeder Tag in den Mauern des Yunmeng Jiang Clans. Jiang Cheng war ein unbarmherziger Führer, in seiner Strenge kaum zu übertreffen. Seine Art den Clan anzuführen hatte etwas von einer Militärdiktatur. Er war nicht gerade beliebt, eher gefürchtet. Menschen, die ihm auf der Straße begegneten, senkten ihre Köpfe aus Furcht seinem Blick zu begegnen. Sie hatten es längst aufgegeben ihn verstehen zu wollen. Niemand wusste was in Jiang Cheng vorging. Man erklärte sich sein Verhalten damit, dass er den Verlust seiner Eltern womöglich nie hundertprozentig verkraftet hatte.
Er selbst ging nie mit den anderen zum Mittagessen und so verbrachte er auch an diesem Tag seine Mittagspause damit über den Hof zu schlendern und über die vielen Dinge nachzudenken, die ihn am Lotus Pier störten. Seitdem er vor einem Jahrzehnt vom Qishan Wen Clan weitestgehend zerstört worden war, hatte er jede freie Minute – wenn er sich nicht gerade mit dem Ausbilden neuer Kultivisten beschäftigte – damit verbracht Schäden zu beseitigen.
Heutzutage gab es keine Schäden mehr und doch konnte er nicht aufhören Dinge zu verändern. Es war als wäre er getrieben von seinen eigenen Idealen, an die er niemals heranreichen konnte...
Er war gerade vertieft in einen solchen Gedanken, da begegneten ihm die braunen Stiefel eines Fremden. Ein langer, violetter Rock mit weißen Lotusstickereien zeichnete sich in der von Schnee bedeckten Umgebung ab wie eine Blume, die eigentlich nur im Sommer blühte.
Im ersten Augenblick dachte Jiang Cheng, dass sich ein Schüler hierher verirrt hatte. Er war bereits im Begriff ihn zurecht zu weisen, da bemerkte er die ungewöhnlich graziöse Figur und Körperhaltung. Dieser junge Mann konnte unmöglich einer seiner Schüler sein. Die meisten von ihnen waren zwar schlank, doch eher stämmig und wenig elegant. Dieser jedoch hatte eine schmale Taille, einen graziösen Hals und ein unwahrscheinlich hübsches, wenngleich männliches Gesicht. Seine Haare waren aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Zopf frisiert, sodass man keine Chance hatte seinen schmalen, schwarzen Mandelaugen auszuweichen. Er blickte Jiang Cheng so direkt an, dass ihm der Atem stoppte.
„Han... HanGuang Jun?"
Lan WangJi trat vorsichtig auf ihn zu und verbeugte sich. „Jiang Wanyin."
Lan WangJi bemerkte wie Jiang Cheng ihn sprachlos musterte. Auf seinem Gesicht war eine sehr deutliche Verwunderung zu erkennen. Da Lan WangJi ihn nur anstarrte, fühlte er sich gezwungen etwas zu sagen.
„Warum habt Ihr...? Eure... Eure Aufmachung...?!"
Lan WangJi äußerte sich nicht weiter dazu. „Ich muss mit Euch reden." Nachdem Jiang Cheng seine Fassung wiedererlangt hatte, zog das gewohnte Gewitter in seinem Gesicht auf.
„Ich habe keine Zeit.", sagte er kühl und wollte sich abwenden.
„Jiang Wanyin!", rief Lan WangJi und er blieb stehen. „Es handelt sich um eine dringende Angelegenheit."
Jiang Cheng drehte sich mit verschränkten Armen zu ihm um. „Dringend.", wiederholte er. „Plötzlich ist es also dringend." Er schüttelte den Kopf. „Monatelang lasst Ihr Euch nicht am Lotus Pier blicken und jetzt gibt es etwas ach so Dringendes, wobei ich Euch helfen soll? HanGuang Jun, wo ist Euer Stolz, Eure Ehre?"
Lan WangJi trat einen Schritt auf Jiang Cheng zu. „Ich bitte Euch.", sagte er, sein Tonfall ein wenig milder als man es von ihm kannte.
Ein kaum merkliches Beben erschütterte Jiang Cheng. Mit tief in die Stirn gezogenen Brauen schwieg er und schien abzuwägen.
„Ihr wagt es mich zu stören!", fluchte er. „Ich war mit wichtigen Dingen beschäftigt, bevor Ihr kamt!"
Er stapfte mit wütenden Schritten voraus und Lan WangJi folgte ihm. Er wusste, dass Jiang Cheng nie offensichtlich vor anderen einknickte. Sein Fluchen allein schien jedoch eine gewisse Einsicht zu zeigen und tatsächlich – Jiang Cheng nahm den Weg zum Audienzraum.
Dort ließ er sich auf einen der goldenen Stühle sinken und wies Lan WangJi einen Platz unmittelbar in seiner Nähe zu. Lan WangJi sah sich um. Er war bereits hier gewesen, doch die Positionen der Möbel hatten sich verändert, auch einige neue schienen hinzugekommen. Farblich umgab ihn eine Mischung aus Weiß und Gold. Der Raum strahlte vor Prunk und Überfluss und doch wirkte Jiang Cheng so unzufrieden in seinem „Thron".
Den Kopf in die Hand gestützt schien er fast darin einzusinken. Er blickte durchs Fenster nach draußen in die weite Schneelandschaft.
„HanGuang Jun", sagte er plötzlich. „Ihr seid tatsächlich eine ganze Weile nicht hier gewesen." Lan WangJi saß still auf seinem Platz und hörte seinen Worten zu. „Wisst Ihr was sie von mir sagen? Jiang Cheng, der Diktator... so nennen sie mich. Ist das nicht lächerlich? Ich habe alles getan, um den Lotus Pier wiederaufzurichten und so danken sie es mir... indem sie mir abfällige Namen hinter meinem Rücken geben. Ich bin doch kein Tyrann, oder...?"
Lan WangJi wusste nicht was er sagen sollte, seine rechte Hand steckte im Innern seines Ärmels, bereit etwas hervorzuholen, doch er hatte das Gefühl, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür war.
„Sie alle wissen nichts...! Sie können immer nur große Reden schwingen! Keiner war je in so einer Situation! Man müsste sie einen Tag an die Spitze setzen, dann würden ihnen ihre hämischen Reden vergehen, das ganze Land würde zu Grunde gehen...!"
Er lachte, doch es schien nicht im Geringsten ein ernstes Lachen zu sein. Dann auf einmal wechselte er das Thema, seine Augen wanderten orientierungslos im Raum herum.
„Han Guang Jun" Auf einmal wirkte seine Stimme schwach und ausgezehrt. „...wieso habt Ihr mich so lange nicht besucht?"
Lan WangJi hob vorsichtig die Augen.
„Ich habe auf Euch gewartet... Wolltet Ihr nicht den Wettkampf besuchen? Ich habe die Schüler gut trainiert. Es hätte Euch gefallen sie beim Bogenschießen zu sehen. Ein paar einfältige sind unter ihnen, aber selbst sie entdecken allmählich ihre verborgenen Stärken... Es hätte Euch gefallen..."
Da sprang Jiang Cheng auf und packte ihn am Handgelenk. Lan WangJi war überrumpelt und ließ sich von ihm mitreißen. Es folgte ein unerwarteter Spaziergang durch sämtliche Abschnitte des Lotus Pier. Jiang Cheng führte ihn herum und zeigte ihm den Trainingsplatz, die Unterkünfte der Schüler, den renovierten Essenssaal und andere Dinge, die sich in der Zwischenzeit verändert hatten. Lan WangJi blieb keine Wahl, er musste ihn begleiten, seiner euphorischen, wenngleich etwas abgehetzt klingenden Stimme zuzuhören und den Tag voranschreiten zu sehen.
Es dämmerte bereits und noch immer hatte er kein Wort über den Grund seines eigentlichen Kommens verloren. Jiang Cheng lud ihn zum Abendessen ein, sie aßen Lotus Rippchen Suppe und einige Stunden später saßen sie in Jiang Chengs Zimmer.
Zum Abendessen hatte Jiang Cheng etwas Wein getrunken, doch man merkte kaum eine Veränderung seines Verhalten, das ohnehin ein unberechenbares Auf und Ab war. Einzig und allein ein gläserner Schimmer über seinen Augen verriet, dass er ein wenig angetrunken war.
Er schlenderte durch den Raum und fand scheinbar keine Ruhe. Immer wieder ging er hin und her, während Lan WangJi vor einem flachen Tisch auf dem Boden saß und mit sich haderte. Er konnte nicht länger warten. Der perfekte Moment, so wusste er nun, würde nicht kommen.
„Jiang Wanyin, der eigentliche Grund meines Kommens ist-!"
„Shh!"
Völlig überraschend ließ sich Jiang Cheng ihm gegenüber vor dem Tisch nieder und legte den Zeigefinger auf seine Lippen. „Sagt es mir noch nicht... HanGuang Jun. Ich habe lange keinen so guten Tag mehr verbracht. Lasst uns das Gespräch auf morgen vertagen..."
Lan WangJi biss sich auf die Lippen. Jiang Cheng holte einen Krug Wein hervor und goss sich ein. Auch Lan WangJi schob er ein gefülltes Porzellan Schüsselchen hin. Lan WangJi starrte es nur an.
„Lasst uns zusammen trinken, als wären wir fünfzehn, als wären all die schlimmen Dinge nie geschehen!"
Er hob seinen Becher und erwartete, dass Lan WangJi das gleiche tat, doch er schüttelte nur leise den Kopf.
„Ach ich vergaß, der Gusu Lan Clan verbietet das Trinken! Nehmt es mir nicht übel, HanGuang Jun... ich bin noch immer etwas irritiert über Eure Aufmachung! Fast dachte ich Ihr wärt ein Schüler meines eigenen Clans!"
Er lachte und trank den Becher in einem Zug aus. Dann grub er seine Augen forschend in Lan WangJis. „Wollt Ihr mir nicht sagen, was es damit auf sich hat?"
Lan WangJi fühlte wie unerwartet tief dieser Blick drang. Auf einmal schien es, als wolle eine unsichtbare Hand nach seinem Herzen greifen. Unerklärlich beschleunigte sein Herzschlag.
„Was hat es damit auf sich?", wiederholte Jiang Cheng. „Wollt Ihr mir... damit vielleicht etwas sagen...?"
Lan WangJi wich unterbewusst vor ihm zurück. Kaum merklich rückte er ein Stück näher an die Wand, denn er hatte das Gefühl von Jiang Cheng ginge in diesem Moment etwas aus, das ihn zu sich ziehen wollte, wie ein Magnet. Er nickte nachdrücklich, kaum ahnend, was er damit auslöste. Jiang Cheng schien nicht zu bemerken, wie Lan WangJi reagierte, ganz im Gegenteil. Der gläserne Schimmer über seinen Augen verdichtete sich, Tränen standen in seinen Augen und auf einmal sackte er in sich zusammen, seine Hände umfassen Lan WangJis Handgelenke auf der Oberfläche des Tisches.
„Ich... Ich wusste es..." Seine Stimme klang leise und brüchig. „Ich wusste ich habe Euch nicht verloren...! Sie können alle schlecht über mich reden, mich verachten, doch Ihr... Ihr würdet nie..."
Lan WangJi betrachtete erschrocken, wie eine Träne auf die Oberfläche des Tisches fiel.
„Ich hatte es gehofft... Ich wollte Euch nur nicht darum bitten. Ich habe es nicht gewagt... ihr wisst schon wieso... Wei WuXian. Er stand immer im Weg... ich hatte Sorge Ihr könntet wieder zu ihm finden, obwohl ich weiß, wie sehr Ihr mit ihm im Streit steht... Wenigstens eins... wenigstens ein habe ich, das ihm nicht gehört..."
Lan WangJi saß auf seinem Platz wie versteinert und versuchte zu begreifen, was sich so ungeheuerlich vor ihm ausbreitete. Ungeheuerlich doch wahr. Wie konnte er jetzt noch die Wahrheit sagen ohne Jiang Cheng völlig zu zerschmettern?
Gerade sank sein Kopf auf Lan WangJis Hände, seine Tränen berührten ihn. Seine Schulter zitterte. „Ich habe mich stets gefragt, was sich verändert hat... Wieso ich Euch seit einer Weile nicht mehr hassen kann... Ich glaube es ist der goldene Kern. Mit seinem goldenen Kern muss Wei WuXian etwas von sich auf mich übertragen haben... und das übertrug sich dann auf Euch... Wie kann er es jetzt noch haben, wenn ich es habe...?"
Lan WangJi erschauderte, als Jiang Cheng seine Hand küsste und zu ihm aufblickte.
„WangJi..." Die schwarzen Augen Jiang Chengs richteten sich in seine. „WangJi ich nehme an... Ich will dein Partner der Kultivierung sein."
Da hielt Lan WangJi es nicht mehr aus. Er fuhr ruckartig auf. Nie war er in einer solchen Situation gewesen, doch plötzlich verstand er das große Missverständnis, das sein Aufzug bei Jiang Cheng ausgelöst hatte.
Plötzlich allein über den Tisch gebeugt, wirkte Jiang Cheng sehr hilflos. Er konnte sich nicht erklären, was Lan WangJi plötzlich dazu brachte von ihm Abstand zu nehmen. Gerade in dem Moment, als er im Begriff war sich ganz zu offenbaren.
„Jiang Wanyin!", sagte er, von Jiang Cheng abgewandt. Seine Stimme klang betont kalt und distanziert, obwohl jede Faser seines Körpers bebte. Er war extrem bedacht darauf die höfliche Form der Anrede und nicht Jiang Chengs wirklichen Namen auszusprechen, denn diese Barriere hatte Jiang Cheng bereits einreißen wollen. „Ich habe mich nie von Wei Ying abgewandt."
Gerade, dass er Wei WuXians höfliche Anrede nicht gebrauchte, ließ Jiang Cheng erstarren. Die kommenden Worte waren sehr hart.
„Ich bin gekommen, um Euch zu sagen, dass Wei Ying seit einiger Zeit nicht mehr durch die Wälder zieht. Er lebt in den Bergen in Gusu. Im Wolkennest mit mir gemeinsam." Lan WangJi wagte es nicht sich zu Jiang Cheng umzudrehen. Er war merkwürdig still geworden. „Er ist mein Partner der Kultivierung!"
Nun musste sich Lan WangJi dennoch umdrehen. Er hatte Sorge Jiang Cheng würde jeden Augenblick etwas Unkontrolliertes tun. Noch lag er nur auf dem Tisch, den Kopf in den Händen verborgen.
„Das ist eine Lüge...! Du lügst mich an, um mit mir zu spielen...! Im nächsten Moment wirst du alles aufdecken und... und mein Partner der Kultivierung werden, wieso solltest du sonst... wieso solltest du...?"
Da schien eine Erkenntnis über Jiang Cheng zu kommen. Er hob den Kopf, seine Augen weiteten sich. Er raufte sich die Haare und taumelte, als er aufstand.
„Nein... das würdest du nicht wagen! Du würdest es nicht...! Das ist absurd... völlig weltfremd... nur ein verblendeter würde...!"
„Jiang Wanyin, ich brauche Eure Erlaubnis, um Wei WuXian heiraten zu können.", sagte Lan WangJi nun mit gefestigter Stimme. Er biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten.
Jiang Cheng und er starrten sich einen Moment lang in die Augen. Der Moment schien ewig anzuhalten. Keiner sagte ein Wort, keiner zeigte eine Regung. Dann verlor Jiang Cheng die Kontrolle. Er packte einen Stuhl und holte aus. Lan WangJi war flink und wich aus, der Stuhl zerbrach in einer Ecke des Zimmers in tausend Einzelteile. Im Nu hatte sich die Idylle in ein schreckliches Chaos verwandelt.
Lan WangJi legte eine schützende Hand um Hue, der sich die ganze Zeit in seinem Beutel versteckt hatte und nun erschrocken die Ohren hob, die andere zog BiChen aus der Klinge, gerade noch rechtzeitig. Zidians violettes Feuer loderte bereits um Jiang Chengs Handgelenk. Er fühlte sich verraten, zutiefst verletzt. Zorn beherrschte jede Faser seines Körpers. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Peitsche nach ihm ausschlug.
Vor der Tür waren die Wachen auf den lauten Knall im Zimmer aufmerksam geworden. Als Lan WangJi die Flucht ergreifen wollte, stürmten sie ihm entgegen. Ein, zwei geschickte Hiebe und BiChen hatte sie beiseite geräumt, doch Jiang Cheng ließ ihn nicht entkommen.
Zidian schlug jedes Mal haarscharf an seinem Rocksaum vorbei, während ihn Jiang Cheng über das Gelände verfolgte. Es war eine gewaltige Hetzjagd über Dächer und Tore, bis Jiang Cheng Lan WangJi zum Steg getrieben hatte. Er versuchte in eines der Bote zu klettern, doch sie waren festgefroren. Er schlug mit BiChen darauf ein, doch das Eis war dick, nur ein paar ädrige Linien entstanden auf der Oberfläche ohne, dass es brach.
Im nächsten Augenblick wollte er auf BiChens Klinge springen und davonfliegen, doch Zidian legte sich nun von hinten um seinen Hals. Ein lähmender Schmerz durchfuhr seine Glieder und er konnte nicht anders als ganz und gar still zu halten, während Zidians glühend heiße Energiewellen durch seine Glieder flossen.
„Du elender Verräter!", brüllte Jiang Cheng. Mit einer ruckartigen Bewegung zog er Zidian zurück. Die Schlinge löste sich um Lan WangJi und er wurde auf einen Steg geschleudert. Ein Hieb von Zidian bewirkte mehr Schaden als dreihundert Peitschenhiebe, doch von Zidian mehrere Minuten lang gehalten zu werden, das konnte die Organe schädigen und innere Blutungen verursachen.
Lan WangJi hustete Blut und krümmte sich, während sich die hölzernen Bretter des Steges unter Jiang Chengs näherkommendem Gewicht bogen.
„Ich hielt dich für meinen Freund....! Ich dachte du meinst es ernst mit mir...! Du warst der einzige, dem ich noch vertraut habe! Aber es musste ja einen Grund geben, dass du plötzlich so freundlich zu mir warst... dass du mich besucht hast, obwohl es niemand anders tat! Ich hätte wissen müssen, dass alles nur seinetwegen war! Du wolltest nur bei mir sein, weil du ihn nicht sehen konntest... es war dir lieber als nichts, habe ich recht?!"
Lan WangJi blickte schwach zu ihm auf.
„Wie konnte ich dir nur jemals vertrauen!" Er holte nun mit dem Schwert aus und Lan WangJi sah sein Leben wie ein Film an sich vorbeiziehen. Er konnte sich kaum bewegen, doch Jiang Chengs Klinge, ob beabsichtigt oder nicht, verfehlte ihr Ziel. Sie stach wenige Zentimeter neben Lan WangJis Kopf in den Steg und dennoch... eine kleine Blutlache breitete sich neben seinem Ohr aus. Verwundert drehte Lan WangJi den Kopf zur Seite.
Sein Herz brach. Seine Hände tasteten hastig nach der Bauchtasche. Sie war leer. Wie konnte sie leer sein?! Hue musste während des Kampfes herausgesprungen sein. Er hatte ihn nicht beschützen können. Die Klinge des Schwertes steckte in etwas flauschig weißem, das von rotem Blut getränkt wurde. Mit zitternden Gliedern, seine letzte Kraft sammelnd, richtete sich Lan WangJi auf.
„Nein... oh nein...!" Tränen bildeten sich in seinen Augen. Seine verzweifelten Finger glitten über das weiche, ruinierte Fell. „Hue... mein armer Hue...!" Er murmelte vor sich hin.
Jiang Cheng bemerkte seine heftige Reaktion und stolperte einige Meter zurück.
„Wieso reagierst du so, es ist doch nur ein Kaninchen...?! Die gibt es an jeder Ecke! K-Kauf dir einfach ein neues!" Schon bereits als er diese Worte ausgesprochen hatte, fühlte er, dass sie ihm nicht helfen würden. Der Blick, der ihn traf, war voller Hass und Abscheu. Nie zuvor hatte Lan WangJi ihn so angehsehen. Er bemerkte, dass ihm ein großer Fehler unterlaufen war.
„W-WangJi", sagte er mit bebender Stimme. „Ich... ich wollte nicht...!"
Lan WangJi hörte ihm nicht weiter zu. Er rappelte sich auf, mit beiden Händen zog er das Schwert aus dem leblosen Körper Hues heraus und warf es achtlos auf den Steg, als wäre es keine spirituelle Waffe, sondern nur ein alter, verdorrter Ast. Dann hob er Hue zärtlich vom Boden auf und bettete seinen leblosen Körper in seine weiten Ärmel. Er machte eine elegante Handbewegung und BiChen erhob sich vom Boden in die Horizontale.
„WangJi, warte! Es tut mir leid! Bleib hier!"
Jiang Cheng packte ihn am Handgelenk, doch er drehte sich um, seine Augen stachen wie Dornen. Er riss sich los.
„Fass mich nicht an!", fauchte er. „Ich will nichts mehr mit dir zutun haben!" Er sprang auf BiChen und flog davon.
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The Secret
FanfictionAls Wei WuXian um Lan WangJis Hand anhält, steht die Welt der Kultivierung Kopf. Um Jiang Cheng zu überzeugen, macht sich Lan WangJi auf eine beschwerliche Reise am Rande von Leben und Tod...