Wen Qings Vermächtnis

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Der Winter in diesem Jahr war eisig und sonnig. Jeden Morgen erstrahlte der Himmel in tiefem Azurblau. Die Mitglieder des Gusu Lan Clan verbrachten den Vormittag damit die Wege frei zu schaufeln und Wei WuXian half ihnen dabei. Gemeinsam mit Lan SiZhui, Lan JingYi und anderen Schülern hatte er dabei großen Spaß. Wenn sie unbeobachtet waren, tollten sie herum und lieferten sich Schneeballschlachten.
Seit ein paar Tagen war Wei WuXian wie ausgewechselt. Seine trübe Stimmung gehörte der Vergangenheit an. Er schien eine neue Strategie entwickelt zu haben, um mit Lan WangJis Abwesenheit klarzukommen und die bestand daraus alles Erdenkliche für seine Rückkehr vorzubereiten.
Aus seiner Trauer und Wut war eine unbändige Motivation erwacht. Morgens gehörte er zu den ersten, die zum Frühstück erschienen. Er trug wieder die weiße Garderobe des Gusu Lan Clan und begegnete jedem mit einem freudestrahlenden Lächeln.
Man begann über ihn zu reden und sich zu wundern. Neuerdings nahm er an allen Kursen Teil, sogar an solchen, die er früher gemieden hatte, sehr zur Freude von Lan XiChen, der Wei WuXians Entwicklung mit Stolz beobachtete.
Im Hinblick auf eine mögliche Aufnahme von Wei WuXian in den Gusu Lan Clan, minderten sich seine Sorgen. Wenn Wei WuXian so weitermachte, würde er ihnen alle Ehre machen. Dennoch stellte sich Lan XiChen, ebenso wie alle anderen, eine bestimmte Frage: Was hatte Wei WuXians plötzliche Änderung herbeigeführt?
Lan XiChen wanderte über die von Frost bedeckten Kieselwege des Hofes. Es war noch sehr früh am Morgen, doch wie erwartet hatte Wei WuXian bereits das Bett verlassen.
Von weitem sah man seine schlanke, weiß gekleidete Gestalt auf dem Boden vor einem Holzgestell knien. Lan XiChen kam näher, während Wei WuXian Nägel in ein Brett schlug. Dass Ganze erzeugte einen Ohrenbetäubenden Lärm.
Lan XiChen lächelte. „Wenn du so weiter machst, brauche ich morgens nicht mehr die Glocke zu läuten."
Wei WuXian, vertieft in seine Arbeit, drehte den Kopf zu Lan XiChen, den er jetzt erst bemerkte. Er hielt sich den Arm vors Gesicht, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.
„Ich muss früh anfangen, damit es noch rechtzeitig fertig wird! Wenn der Unterricht beginnt habe ich keine Zeit mehr.", erklärte Wei WuXian.
Er schien ein wenig außer Atem, Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Sein Übermantel lag nicht weit entfernt über dem Ast eines Baumes, die Ärmelenden seines Untergewandes waren bis über die Ellenbogen hochgekrempelt. Seine Haut hatte einen leichten Karamellton angenommen.
„Was wird das eigentlich?", fragte Lan XiChen und ließ sich elegant auf einem Baumstamm neben Wei WuXian nieder.
„Ein Stall." Lan XiChen sah ihn verwundert an und Wei WuXian fügte hinzu: „Lan Zhan liebt seine Kaninchen... Ich weiß, er hätte sie gern näher bei sich. Er macht sich ständig Sorgen, dass sie von wilden Tieren gerissen werden..."
Ein sanfter Ausdruck legte sich auf Lan XiChens Gesicht. „Ich weiß noch als ich mit WangJi deswegen gestritten habe... Er wollte sie unbedingt behalten, obwohl Onkel es nicht erlaubte..."
„Armer Lan Zhan, und all das wegen mir..." Wei WuXian grinste. „Wenn ich fertig bin streiche ich den Stall weiß und dann stellen wir ihn ganz in die Nähe unseres Hauses. Dann kann er jeden Morgen zu ihnen."
„Soll ich jemanden zur Verfügung stellen, der dir hilft?"
Wei WuXian schüttelte den Kopf. „Lass nur, XiChen, ich will es allein schaffen... Lan Zhan soll wissen, dass ich es für ihn gemacht habe. Wenn A-Yuan mir hilft ist es nicht dasselbe."
Lan XiChen nickte. „Wei WuXian", sagte er dann. „Du solltest am Turnier teilnehmen. Ich denke du bist in guter Verfassung."
Wei WuXian hielt einen Moment inne.
Das Turnier. Natürlich hatte er davon gehört. Jedes Jahr maßen sich die Kultivisten des Gusu Lan Clan in einem Wettkampf. Es war eine Möglichkeit großes Ansehen zu erlangen, nicht nur innerhalb des Lan Clan. Zu den besten Kultivisten eines Clans zu gehören, bedeutete auch von anderen Clans respektiert zu werden.
„Ich... Ich weiß nicht.", erwiderte Wei WuXian zögerlich und starrte auf das Brett, das er gerade im Begriff war zu befestigen.
„Ich weiß du bist verunsichert... Du hast deinen goldenen Kern verloren und das lässt dich zweifeln, doch ich habe dich beobachtet. Etwas hat sich verändert, seit du bei den Grabhügeln warst. Die Clans waren sehr überrascht von dir, besonders der Lanling Jin Clan. Sie haben dir nicht zugetraut, dass du deine Worte wahrmachen würdest, doch du hast es geschafft! Du bist allein mit dieser Bedrohung fertig geworden! Dein Stand ist gut. Die Leute beginnen dich ernst zu nehmen. Du darfst jetzt nicht nachlassen! Wenn du es schaffst der beste Kultivist des Gusu Lan Clan zu werden, wird es einfacher für uns dich aufzunehmen. Es wäre ein Stein weniger, den wir aus dem Weg räumen müssten, im Hinblick auf..." Er zögerte es auszusprechen.
Wei WuXian lachte. „Zewu Jun, ist es dir immer noch unangenehm darüber zu sprechen, dass ich deinen Bruder heiraten möchte?"
Wei WuXian legte die Arbeit nieder und ließ sich neben Lan XiChen auf den Baumstamm nieder. Er schloss die Augen und sonnte sich.
„Es ist nicht so, dass ich nicht längst darüber nachgedacht hätte... Ich weiß auch nicht was mit mir los ist, XiChen.", seufzte er. „Von jetzt auf gleich fühlte ich mich als könnte ich Bäume ausreißen. Am liebsten würde ich einmal um den ganzen Berg laufen und wieder zurück! Ich fühle mich plötzlich so lebendig, so frei... Die finsteren Gedanken sind einfach verschwunden! Aber ich kann nicht kämpfen... Das letzte Mal, dass ich Suibian angefasst habe, ist ewig her und ich erinnere mich noch, wie bleischwer es in meinen Händen lag... Ich konnte es kaum aufrecht halten... Ich müsste hart trainieren... und selbst wenn ich gut bin, wie soll ich der beste werden? Ohne meinen goldenen Kern kann ich nicht an das Niveau der anderen heranreichen...!"
Lan XiChens Augen funkelten. Als wäre dies sein Stichwort gewesen, nahm er Wei WuXian am Handgelenk.
„Hey – was...?! Warte, wo gehen wir hin?! I-Ich wollte doch noch-!"
„Du kannst später weitermachen, ich erlasse dir die Morgenstunden!", sagte Lan XiChen und zog ihn mit eiligen Schritten hinter sich her. Er lief zielsicher in eine bestimmte Richtung...
„Oh – nein, nein, nein! Da gehe ich nicht hin! XiChen, lass mich los! Du bist genauso stur wie Lan Zhan!", jammerte Wei WuXian.
Er versuchte sich loszumachen, doch Lan WangJi und Lan XiChen verfügten über eine unglaubliche Kraft in ihren Händen. Er kam nicht dagegen an, so sehr er sich auch bemühte.
Im nächsten Augenblick befand er sich auf dem Trainingsgelände des Gusu Lan Clan, einer großen Grünfläche, umwachsen von hohen Kiefern. Im Sommer war der Platz eine Augenweide mit bunten Blumen und tausend Düften, nun versank man meterhoch in Schnee.
Sie hoben ihre Röcke und stapften vorwärts. Lan XiChen räumte den Schnee beiseite, dann betrat er den Pavillon der Waffen. Im Innern dieses Hauses herrschte ein zügiges Lüftchen, den hier wurde nicht geheizt. An den Wänden befanden sich dunkle Halterungen aus Holz, die über hundert verschiedene Waffen hielten.
Er zog ein beliebiges Schwert heraus. Es flog in hohem Bogen auf Wei WuXian zu. Eine Blitzreaktion war erforderlich und so fing Wei WuXian es auf.
„Was soll das werden, XiChen, willst du mich testen?!", fragte er, als Lan XiChen Shuoyue aus der Scheide zog. Die Klinge des mächtigen spirituellen Schwertes leuchtete und brachte Wei WuXian instinktiv dazu eine Verteidigungshaltung einzunehmen.
Lan XiChen zögerte nicht. Er griff an und trieb Wei WuXian über die Türschwelle. Wei WuXian war so überrumpelt, dass er im ersten Moment lediglich an Abwehr denken konnte. Jeden Hieb von Shuoyue fing er in Windeseile ab.
„Sehr gut!" Lan XiChen hielt einen Moment inne, ihre Schwerter über den Köpfen gekreuzt. „Deine Geschwindigkeit hat sich verbessert!"
„XiChen", sagte Wei WuXian etwas verärgert. „Ich wollte nur einen Kaninchenstall bauen und du bringst mich derart außer Atem...!"
„Bist du wütend?", fragte Lan XiChen herausfordernd.
„Nein – ich meine ja! Ich... weiß gar nicht auf was ich wütend bin! Lan Zhan ist immer noch fort und ich bin... ich bin... unausgefüllt!", sagte Wei WuXian zähneknirschend, seine Wangen färbten sich rot.
„Stell dir vor ich wäre jemand, auf den du wütend bist!", sagte Lan XiChen. „Und dann greif mich an, mit aller Kraft, die in dir steckt!"
„Auf wen bin ich wütend...? Auf wen... bin ich wütend?" Wei WuXian überlegte.
Sogleich erinnerte er sich an das Bankett.
Ja, das ist ein guter Ansatz! Su She, der widerliche Verräter, der alles tut, um Lan Zhans guten Ruf zu zerstören! Jin ZiXun, so dumm, dass er nur mit den Fäusten denken kann! Jin GuangYao, vor aller Welt freundlich, doch in Wirklichkeit eine Schlange! Und mein bescheuerter Bruder, der einfach den Kontakt zu mir abgebrochen hat, weil er denkt ich würde die ganze Welt gegen ihn ausspielen! Muss ich in meiner Situation ausgerechnet auf ihn angewiesen sein?! Jiang Cheng, du undankbarer Mistkerl...!
So landete der erste Schwerthieb von Wei WuXian auf Shuoyues Klinge und verursachte ein lautes Klirren.
„Sehr gut, weiter so!", spornte Lan XiChen ihn an und Wei WuXian ließ seinem Zorn freien Lauf. Auf einmal erwachte eine unbändige Kraft in seinen Gliedern. Ein lebendiges, goldenes Feuer entfachte in seinen schwarzen Augen, das Lan XiChen dazu brachte den Atem anzuhalten.
Plötzlich war es Lan XiChen, der von Wei WuXian in die Enge getrieben wurde. Er bewegte sich so schnell, dass man seinen Bewegungen kaum folgen konnte, sein Schwert glitt durch die Luft wie ein scharfes Blatt Papier. Wei WuXian's Kampfstil sah ein wenig wie Tanzen aus, eine Mischung aus Präzision und kraftvoller Eleganz.
Es war sehr lang her, dass man diesen besonderen Stil hatte beobachten können, nun jedoch schien er zurückgekehrt und stellte Lan XiChens Erinnerungen in den Schatten.
Wei WuXian jonglierte mit dem Schwert in der Luft, als wäre es ein Kinderspiel und als er wieder zum Stehen kam, befand sich ein dünner Einschnitt auf Lan XiChens Wange. Ein winziger Bluttropfen rollte sein Kinn hinab.
Wei WuXian war außer Atem, seine Wangen gerötet. Das weiße Haarband wehte im Wind.
Lan XiChen holte ein Taschentuch hervor, um das Blut abzuwischen, während er Wei WuXian mit geweiteten Augen anstarrte.
„Nun schau nicht so, XiChen, ich habe dir doch gesagt... das mit dem Turnier wird schwer! Ich kann eben ohne meinen goldenen Kern nicht-"
„Wei WuXian!" Lan XiChen packte ihn an den Schultern und starrte ihn entgeistert an. „Spürst du es denn immer noch nicht?!"
Er schien Wei WuXian aufrütteln zu wollen. Seine unruhigen Augen kamen näher, seltsam verdunkelt, und mit gedämpfter, fast flüsternder Stimme fügte er hinzu: „Dein goldener Kern strahlt heller als je zuvor!"
Wei WuXian wurde blass und befreite sich aus Lan XiChens Fängen. „XiChen, hast du dir heimlich an meinen Weinvorräten zu schaffen gemacht?! Nun wird mir klar, warum du die ganze Zeit so komisch bist! Mein goldener Kern soll strahlen...!" Wei WuXian lachte. „Das ist lustig und deprimierend zugleich! Habe ich ihn nicht meinem Bruder gegeben, der daraufhin den Kontakt mit mir abgebrochen hat? Ich hätte es besser nicht getan, vielleicht wären wir dann noch Freunde... Aber XiChen, mal ehrlich, selbst wenn...? Wo hätte ich einen neuen golden Kern auftreiben sollen? Es ist nicht so, dass man sowas auf dem Magd in Caiyi kaufen kann!"
Bei diesen Worten verstummte Wei WuXians Lachen allmählich.
„Nicht in Caiyi.", sagte Lan XiChen ernst. „Doch vielleicht in Yiling. Vielleicht am Fuß der Grabhügel..."
Ein merkwürdiger Schwindel kam über Wei WuXian. Er verlor das Gleichgewicht und landete auf den Knien. „A-Am Fuß der... der...!"
„Erinnere dich! Was ist dort geschehen?!" Lan XiChen beugte sich zu Wei WuXian, der auf einmal merklich zitterte.
„Wen Qing...!", rief er. „Ihr Geist hat mich zu sich gerufen, um mir Lebewohl zu sagen...! Nur aus diesem Grund haben sich die Kreaturen an den Grabhügeln versammelt...! Sie haben auf meine Ankunft gewartet! Wen Qing sagte sie müsse eine Aufgabe erfüllen, doch als ich ihr anbot zu helfen, verschwand sie und alles war vorbei...!"
„Verstehst du jetzt, welche Aufgabe sie erfüllen wollte?" Lan XiChen legte eine Hand auf Wei WuXians bebende Schulter.
„Wieso...?!", krächzte er, Tränen brachen aus seinen Augen. „Ich bin kein Held! Nicht mal beschützen konnte ich sie, als das Feuer damals an den Grabhügeln ausbrach! Ich hatte mich damit abgefunden schwach zu sein...!"
„Sie muss den Brand für einen Anschlag gehalten haben...", sagte Lan XiChen. „Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie dich, ihren Anführer, zu Unrecht verurteilt sah... Du warst der einzige, der sich hinter die Verstoßenen des Wen Clan gestellt hat. Als sie starb hielt sie etwas in dieser Welt und es war vermutlich der Wille sich bei dir zu bedanken..."
„Ihr goldener Kern lag die ganze Zeit in den Grabhügeln versteckt, damit ich ihn abhole?! XiChen, das ist so abstrus, dass ich es kaum glauben kann! Womit soll einer wie ich eine zweite Chance verdient haben...?!"
„Habe ein wenig mehr Vertrauen in dich, Wei WuXian.", sagte Lan XiChen. „Du hast zwar viele Feinde, doch die Liste deiner Anhänger ist auch nicht gering..."
Er streckte Wei WuXian die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen.
„Was wird Lan Zhan sagen...? Er hat sich so daran gewöhnt mich zu beschützen...!"
Lan XiChen lächelte. „WangJi hat sicher auch nichts dagegen hin und wieder beschützt zu werden."
„Ha!", rief Wei WuXian. „Dafür ist er viel zu stolz! ...und trotz goldenem Kern immer noch stärker als ich." Wei WuXian blieb für einen Moment stehen. „Ich denke ich werde ihm erst mal nichts sagen... Wer weiß wie er reagiert... Wenn er nachhause kommt soll er erst mal Ruhe finden."
„Verschweige es ihm besser nicht zu lang", sagte Lan XiChen. „Geheimnisse haben noch keiner Beziehung gutgetan..."
Wei WuXian grinste und hakte sich bei Lan XiChens ein. „Warte... spricht da etwa jemand aus Erfahrung?! Zewu Jun, Zewu Jun, du hast noch nie über dein Privatleben gesprochen! Solltest du dich mir nicht ein wenig mehr öffnen, nun da ich so etwas wie dein Schwiegersohn bin?"
Und so machten sich Wei WuXian und Lan XiChen lachend und scherzend zurück zum Hof.

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