Wassergeist

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„Hör auf zu zappeln, Fee, was soll das!? Du wirfst noch das Boot um!" Die Stimme eines Jugendlichen, gerade erst im Stimmbruch, krächzte durch die dumpfe, winterliche Landschaft. Das Eis war mittlerweile meterweit an den Ufern des riesigen Sees zugefroren. Kein anderes Boot trieb auf dem Wasser, einzig und allein das seine, und das verärgerte Jin Ling.
Ich hätte heute so viele sinnvolle Dinge tun können, aber nein, ich muss ausgerechnet zu Onkel, nur weil der werte Herr Yao sich mal wieder zu fein dafür ist persönlich den Mund aufzumachen! Lass es doch Jin Ling erledigen, der hat ja ohnehin nichts Besseres zu tun! Ich hasse diese Familie.
Er stand auf, denn Fee hörte nicht und das Boot begann schon deutlich zu schwanken. Er packte seinen Hund am Halsband. Er bellte und knurrte, als habe er eine Katze gesehen.
„Hörst du nicht was ich sage?! Lass das! Da ist doch nichts, wir können spielen, wenn wir wieder an Land s-"
Gerade als er an der Spitze des Bootes stand, bemerkte er plötzlich, wieso Fee so außer sich war. Etwas lag im Wasser. Jin Ling bekam einen riesigen Schreck, stolperte und plumpste auf den Boden des Bootes, das nun noch heftiger schwankte. Mit beiden Händen versuchte er sich festzuhalten und wieder Stabilität zu schaffen. Als er die Lage wieder im Griff hatte, sah er noch einmal genauer hin. Unter der trüben Wasseroberfläche erkannte man ein Netz aus schwarzen Haaren, in denen sich Eisklumpen sammelten. In starkem Kontrast dazu schimmerte auch ein fahles Violett durch die grünen Algen.
Ein Wassergeist? Doch Wassergeister bewegten sich schnell, man hatte nie die Chance sie länger als ein paar Sekunden anzusehen.
Ein wenig ängstlich nahm Jin Ling das Ruder und stupste den Geist an, um zu sehen, was geschah. Nachdem er sich nicht rührte, versuchte er ihn umzudrehen, bis die dicke Schicht schwarzer Haare einen Teil des wachsartigen Gesichtes freigab.
Jin Ling rutschte das Herz in die Hose. Er ließ das Ruder fallen und schlug sich die Hand vor den Mund.
„Oh Fee, was machen wir nur...?! Was machen wir...?!"
Vor ihm im Wasser lag kein Wassergeist. Der Mann der leblos im Wasser trieb war niemand anders als HanGuang Jun, einer der beiden berühmten Jaden von Gusu. Eines der wichtigsten Mitglieder des Lan Clan und jemand, den erst selbst zu Weilen mehr gefürchtet hatte als eine Kriegsverletzung. Nicht nur einmal hatte HanGuang Juns eisiger Blick ihn getroffen oder seine Zauber ihn zum Schweigen gebracht. Nun trieb dieser ach so mächtige, zweite Clanführer bewusstlos vor seinem Boot und alles schien verändert.
Der Hund bellte, als wolle er Jin Ling zu einer Handlung bewegen.
„Jaja, schon gut, ich... ich helfe ihm!"
Jin Ling beugte sich vorsichtig über die Vorderseite des Bootes und streckte das Ruder aus, bis er HanGuang Jun nah genug herangeschafft hatte, dann versuchte er ihn an den Schultern ins Boot zu ziehen. Auch wenn ziemlich viel Wasser hinein schwappte, kippte es nicht um.
Es überraschte ihn nicht, dass HanGuang Jun, trotz seiner durchnässten Kleidung, für ihn leicht zu packen war. Er hatte sich immer gefragt, wie ein Mann so dünn sein konnte, bis er einmal den Fehler gemacht hatte beim Gusu Lan Clan zu essen. Scheinbar aß man dort von morgens bis abends nur Salat und Gemüse. Was das Essen betraf, gefiel Jin Ling die Küche des Yunmeng Jiang Clans wesentlich besser, denn dort gab es eine deftige Kost mit viel Fleisch.
Als HanGuang Jun selbst vom harten Aufprall nicht zu sich kam und auch nicht, als Fee begann sein Gesicht abzulecken, nisteten sich ernste Sorgen in Jin Lings Brust ein. Er erkannte die Notsituation. HanGuang Juns Lippen waren bläulich verfärbt, seine Augenbrauen von dichtem Eis umwuchert. Er sah aus, als wäre er längst tot.
„Wie lang hat er wohl im See gelegen...?!", murmelte Jin Ling und fühlte den Puls dieses dünnen Handgelenkes, um das er fast seine ganze Hand schlingen konnte. Er seufzte erleichtert, als er ein schwaches Pulsieren wahrnahm. „Er lebt noch, Fee, kehren wir um! Ich kann ihn unmöglich mit zu Onkel nehmen! Er würde mich umbringen!"
Jin Ling ruderte so schnell er konnte zurück zum Hafen. Die Frage was er tun sollte, stellte sich ihm nicht mehr. Er musste ein Menschenleben retten, ganz egal, ob es sich hier um jemanden handelte, mit dem er bisher kein so gutes Verhältnis gehabt hatte.
Er legte an und hievte HanGuang Jun auf seinen Rücken.
„Gnn... wenn man ihn so trägt, ist er doch schwer...!", knurrte er und schleppte sich zu einer Gaststätte, die zufällig genau jene war, in der Lan WangJi vor gar nicht allzu langer Zeit übernachtet hatte. Mit dem leichenhaft blassen jungen Mann auf dem Rücken wurde das Personal sofort auf Jin Ling aufmerksam.
„Um Gotteswillen, was ist passiert?!", rief die Besitzerin. Jin Ling war dankbar für jede Unterstützung.
„Könntet Ihr uns bitte ein freies Zimmer geben? Am besten eines mit einer Badewanne, er muss sich aufwärmen! Ein Bisschen Medizin würde auch helfen!"
„Aber natürlich! Ich bringe dir alles aufs Zimmer!"
„Entschuldigung, Hunde sind doch kein Problem, oder?" Die Frau betrachtete Fee und seufzte.
„Ich will eine Ausnahme für dich machen.", sagte sie und verschwand, um alle notwendigen Dinge für Jin Ling vorzubereiten.
Als sei es Schicksal, wurde Jin Ling in eben jenem Zimmer einquartiert, in dem Lan WangJi zuvor geschlafen hatte.
Er legte ihn aufs Bett und starrte ihn eine Weile zögerlich an. Wieder war es Fees Bellen, das ihn zum Handeln bewegte.
„Aus!", fluchte er. „Ich tue es, ich tue es ja schon...! Mensch Fee, du bist wirklich unbarmherzig zu mir! Versetz' dich mal in meine Lage...! Er ist so etwas wie... mein Vorgesetzter... I-Ich... wie kann ich solche Dinge mit ihm tun?"
Zögerlich zog er Lan WangJis Stiefel aus. Ein großer Schwall Wasser floss auf den Holzboden und Jin Ling wischte ihn auf.
„Hinzu kommen diese Gerüchte... du weißt schon, Fee, dass er ein Ärmelabschneider ist und so... Ich glaube da ist was dran. Er könnte die Situation für sich ausnutzen und über mich herfallen. Es ist nur natürlich, dass ich mich ziere!"
Er schien zufrieden mit seiner Rechtfertigung, wenngleich ihn der Hund nur fragend anguckte.
„Sag Mal Fee..." Jin Ling war gerade dabei das violette Gewand zu öffnen. „Wieso trägt er Kleidung vom Jiang Clan?!"
Jin Ling hielt den Hanfu in die Höhe und betrachtete ihn von allen Seiten. Eindeutig – das war ein Original. „Das macht überhaupt keinen Sinn...!"
Nachdenklich befreite er HanGuang Jun von seiner restlichen Kleidung, nur die Unterhose traute er sich nicht herunterzuziehen.
Die runde Holzbadewanne stand hinter einem verzierten Raumtrenner und verbreitete bereits einen esoterischen Duft. Die hilfsbereite Inhaberin der Gaststätte hatte das Bad vorbereitet, sodass er HanGuang Jun nur noch hineinlegen musste.
Kaum berührten seine Füße das heiße Wasser, ging ein merkliches Zucken durch seinen Körper. Es war die erste Bewegung, die Jin Ling von ihm seit ihres Aufeinandertreffens vernommen hatte und sie ließ ihn sofort einen halben Meter zurückweichen, doch ansonsten geschah nichts. HanGuang Jun lag leblos im Wasser wie eine Puppe und Jin Ling, der sich weiterhin Sorgen machte, beschloss sich einen Hocker zu holen und neben ihm sitzen zu bleiben. Der Gedanke er würde weggehen und HanGuang Jun vielleicht ausversehen ins Wasser abtauchen und ertrinken, rief schreckliche Szenearien in ihm hervor. Er hörte schon die wütenden Stimmen seiner Verwandten. Besonders Jiang Cheng würde toben.
Jin Ling konnte es sich nicht erklären, doch im vergangenen Jahr war etwas höchst Seltsames geschehen und es betraf seinen Onkel. Seit er sich erinnern konnte, hatte Jiang Cheng aus seiner Abneigung gegenüber des zweithöchsten Gusu Lan Clan Mitgliedes kein Geheimnis gemacht. Doch eines Tages, es musste genau um die Winterzeit gewesen sein, schien all das plötzlich vergessen.
Jin Ling war gerade im Lotus Pier zu Besuch, als HanGuang Jun plötzlich an ihm vorbeilief. Es hatte nie eine Erklärung gegeben, warum, doch seit diesem Tag sah man ihn dauernd und immer trug er irgendwelche Bücher mit sich herum. Heute musste man nur einen falschen Satz über den Gusu Lan Clan oder HanGuang Jun sagen, da kassierte man schon eine Ohrfeige.
„Hab' ich dir nicht beigebracht, dass man nicht über andere lästert?!", hörte er Jiang Cheng sagen.
„Doch das hast du...", murmelte Jin Ling und schaute dem dampfenden Wasser zu. „Aber wenn man über andere lästert, ist es dir egal... nur deinen heiligen HanGuang Jun darf niemand in den Dreck ziehen..."
Sein Kopf sank immer tiefer auf die Brust und schließlich nickte er ein.

Stunden später ertönte ein leises Plätschern im sonst so stillen Raum. Lan WangJi kam allmählich zu sich. Obwohl das Wasser in der Badewanne bereits lauwarm geworden war, kam es ihm wie glühende Lava vor. Seine Haut brannte. Wenn er an sich herunterblickte, schimmerte alles feuerrot. Kein Wunder, er hatte Ewigkeiten in einem winterlichen See gelegen.
Seine Augen schweiften in der seltsam vertrauten Umgebung umher. Er erkannte den Raumtrenner und auch das Waschbecken, wo er sich vor einer Weile das Gesicht gewaschen hatte. Er war sehr erschöpft und konnte kaum die Augen offenhalten, doch als er in das Gesicht eines wolfartigen Hundes blickte, erschrak er so sehr, dass er sich abrupt aufrichtete. Dies hatte zur Folge, dass Jin Ling nassgespritzt wurde und schlagartig aufwachte.
Er rieb sich die Augen und gähnte einmal ausgiebig. Als er bemerkte, dass HanGuang Jun wieder bei sich war, nahm er schnell Haltung an.
„Ha-HanGuang Jun!" Er verbeugte sich und sah, dass Fees Kopf auf dem Rand der Badewanne lag. „Komm her, bei Fuß!"
Der Hund gehorchte und setzte sich neben ihn.
Lan WangJi war überfordert mit der Situation. Er versuchte seine Blöße mit beiden Armen zu bedecken, doch das half nicht viel.
„Wie komme ich hier her?!", fragte seine Stimme in jenem kühlen, strengen Tonfall, den Außenstehende von ihm gewöhnt waren.
Natürlich ist er ganz der Alte, dachte Jin Ling. So friedlich sah er aus, als er schlief und nun muss er wieder seine Autorität raushängen lassen.
„HanGuang Jun! Ich fand Euch halb erfroren im See des Lotus Pier! Bitte verzeiht, ich musste Euch entkleiden und Euch ein Bad nehmen lassen, sonst wärt Ihr nicht regeneriert! Ich schwöre ich habe nichts getan, was Euch in irgendeiner Weise beschämen könnte...!"
Während seiner Verbeugung sah er nicht, wie Lan WangJi vor Beschämung errötete.
Er... hat mich entkleidet.
„D-Dreh dich sofort um!", rief er.
Jin Ling wagte es nicht den Kopf zu heben, als er HanGuang Jun aus dem Wasser steigen hörte. Er schien sich ein Handtuch zu nehmen. Ein dumpfes Geräusch brachte Jin Ling dennoch wieder dazu aufzublicken und er hatte es zurecht getan, denn HanGuang Jun war kaum in der Lage sich auf den Beinen zu halten. Er musste abgerutscht sein und nun hielt er sich mit Leibeskräften am Rand der Badewanne fest. Jin Ling fuhr auf, um ihm zu helfen.
Lan WangJi wollte ihn wegdrängen, doch musste einsehen, dass er in seiner momentanen Verfassung auf Hilfe angewiesen war. Er erlaubte Jin Ling ihn zum Bett zu führen.
„Du kannst gehen.", sagte er dann. „Ich komme allein zurecht."
„Nein, das glaube ich nicht! Seht Euch nur an...! Wenn mein Onkel das wüsste...!"
Die Erwähnung von Jiang Cheng legte einen Schatten auf Lan WangJis Gesicht. Jin Ling bemerkte es. Ungefragt ließ er sich auf Lan WangJis Bett sinken.
„Was wolltet Ihr überhaupt am Lotus Pier... noch dazu in Kleidung des Yunmeng Jiang Clans...?"
Lan WangJi schwieg.
„Habt Ihr Euch mit Onkel getroffen? Er war ein wenig sauer, weil Ihr Euch so lange nicht habt blicken lassen. Das solltet Ihr nicht wiederholen. Er ist unausstehlich zu mir, wenn Ihr nicht zu Besuch kommt."
„Ich werde nie wieder zum Lotus Pier kommen.", entgegnete Lan WangJi kühl.
„Nie wieder?! Soll das ein Scherz sein?! Das könnt Ihr mir nicht antun! Ihr habt gestritten, oder? Ich könnte versuchen zu schlichten, ich bin gut in so etwas! Onkel wirkt zwar etwas nachtragend, aber ich wüsste nicht, dass er Euch jemals nicht verziehen hätte! Anderen vielleicht nicht, aber Euch!"
Lan WangJi drehte den Kopf weg. „Selbst wenn er mir vergibt werde ich ihm nicht vergeben."
Jin Ling starrte ihn nachdenklich an.
So ist das also. Onkel und er haben gestritten, vielleicht sogar gekämpft... doch ist es so ausgeartet, dass Onkel ihn am Ende in den See geworfen und dort liegen gelassen hat? Nein, dazu wäre er nicht fähig...
Jin Ling seufzte. „Manchmal frage ich mich wieso Onkel Euch so mag. Ihr seid noch sturer als er und was Gefühle angeht seid Ihr ein richtiger Eisblock.", sagte er. „aber ich kann nicht zulassen, dass Ihr nicht mehr mit ihm redet! Ich werde Euch etwas erzählen, etwas, das streng geheim ist..."
Lan WangJi betrachtete ihn müde.
„Nun... Es ist ein wenig... gemein, wenn ich so darüber nachdenke..." Jin Ling knetete seine Hände. „Wisst Ihr, Onkel schreibt Euch seit einer Weile Briefe..."
„Briefe?" Lan WangJi versuchte sich zu erinnern, ob er jemals einen Brief von Jiang Cheng bekommen hatte, doch ihm fiel nichts ein.
„Er gibt sie mir immer mit, weil er weiß, dass Zewu Jun oft bei uns zu Besuch kommt. Er vertraut niemandem, natürlich auch nicht dem regulären Postverkehr...?", fuhr er fort. „Er weiß nicht, dass ich sie Euch nie gegeben habe... Ich wollte nicht, dass Ihr sie bekommt. Ich wollte nicht, dass Onkel mit Euch in Kontakt steht... Wenn ich Euch sagen würde was darin steht - puh! Seid froh, dass Ihr es nicht gelesen habt!"
„Was steht darin?" Lan WangJis Augen verengten sich zu Sicheln.
„A-Ach... nicht so wichtig, nicht so wichtig! Jedenfalls... Ich habe meine Meinung geändert, seit ich weiß, dass Ihr Wei WuXian heiraten wollt. Das Gerücht hält sich hartnäckig, es ist doch wahr, oder nicht?"
Lan WangJis Gesicht verfärbte sich nun von Rot zu Violett.
Dieser Junge... Dieser...!
„Jedenfalls brauche ich mir jetzt keine Sorgen mehr zu machen, dass Ihr meinen Onkel zu einem Ärmelabschneider macht. Selbst wenn, dann wollt ihr schließlich lieber mit dem Yiling Patriarchen-!"
„Raus!" Lan WangJi funkelte ihn mit zornigen Augen an. Seine Stimme war so kalt und herrisch, dass Jin Ling vom Bett aufsprang.
„Schon g-gut! Ich verschwinde, ich verschwinde!" Er rief seinen Hund und verbeugte sich. „HanGuang Jun."
Lan WangJis Blick folgte ihm hinaus. Als die Türe in Schloss fiel sank er tiefer in die Bettdecke und raufte sich die feuchten Haare.
Was für ein Desaster...

Jin Ling blieb noch einen Moment vor der Tür stehen und lauschte, doch im Innern des Zimmers war es still geworden.
„Nicht mal Danke hat er gesagt, dieser undankbare, schnöselige...!" Noch andere Ausdrücke fielen ihm ein, doch die verbiss er sich und ging die Treppenstufen hinunter.

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