Eine dunkelblaue Sternennacht lag über den Wäldern von Yiling, noch immer war es nasskalt. Ohne das Licht ihrer spirituellen Waffen hätten Jin Ling und Jiang Cheng die Hand vor Augen nicht gesehen. Sandu warf seinen violetten Schein auf den von Pfützen übersäten Waldweg, das Wasser schien gerade erneut zu gefrieren.
Zähneklappernd trottete Jin Ling hinter seinem Onkel her und fluchte vor sich hin.
„Ich habe nun seit fast zwölf Stunden nichts gegessen und immer noch scheuchst du mich durch die Gegend, Onkel! Manchmal frage ich mich womit ich das verdient habe! Ich war dir gegenüber immer gehorsam – nun ja, meistens jedenfalls... und was habe ich jetzt davon? Einen leeren Magen, Frostbeulen" Er blickte selbstmitleidig auf seine Fingerknöchel, die sich allmählich blau färbten. „und Blasen an den Füßen! Ehrlich Onkel, ich muss etwas essen, sonst falle ich gleich um und dann kannst du die Suche nach HanGuang Jun sowieso an den Nagel hängen...!"
„Jin Ling, wenn du nicht sofort mit dem Gejammer aufhörst...!" Jiang Cheng deutete einen Klaps auf Jin Lings Hinterkopf an. Jin Ling zuckte zusammen und wagte es nicht, weitere Widerworte zu geben. „Na also! Wieso muss ich dir immer erst drohen...?!"
„Bist du dir sicher, dass HanGuang Jun hier draußen ist? Sollten wir nicht lieber morgen weitersuchen...? Dieser Wald ist riesig, ich habe mich hier schon ein paar Mal verirrt und wir haben nicht mal Fee, um uns wieder hinauszuführen..."
Da blieb Jiang Cheng plötzlich stehen, für Jin Ling so unerwartet, dass er beinahe mit ihm zusammenstieß.
„Mensch Onkel! Kannst du mich nicht vorwarnen, fast wäre ich-!"
„Diese Spuren..." Jiang Cheng beugte sich zum Boden und betrachtete die zerwühlte Erde. „Hier ist jemand vom Weg abgekommen... aber wieso sollte man freiwillig in das Dickicht dieses Waldes hineingehen...? Es sei denn man hätte keine andere Wahl..."
„Oh – nein, nein, nein! Sag mir nicht, dass wir nun auch noch vom Weg abkommen, Onkel?! Was, wenn wir tatsächlich nicht mehr rausfinden? Da mache ich nicht mit! Ich gehe zurück!" Er war bereits im Begriff kehrt zu machen, da packte ihn Jiang Cheng am Arm.
„Du kommst mit! Wir gehen nachsehen!" Jin Ling wehrte sich, doch gegen den festen Griff von Jiang Cheng kam er nicht an.
Sie drangen immer tiefer ein in die Finsternis des Waldes. Es war so still, dass man weit entfernt die Mitternachtsglocke schlagen hören konnte. Ein Zweig knackte und Jiang Cheng erschrak, doch es war nur Jin Ling und er rügte ihn „Pass doch auf!"
„Was kann ich dafür?! Es ist stockfinster!"
Da fiel der violette Schein auf den majestätischen, längst vergessenen Umriss eines Schreins. Aus Erfahrung wusste Jiang Cheng, dass sich böse Geistern gern um heilige Zonen sammelten und so trat er vorsichtig näher, um die Lage zu inspizieren. „Bleib dicht hinter mir!", befahl er, doch als sie vor dem Schrein standen schien sich keine Gefahr anzubahnen. Alles blieb still, bis Jin Ling ein panischer Aufschrei entkam.
„Was ist denn nun wieder?!" Jiang Cheng wurde allmählich wütend. Jin Ling konnte manchmal sehr zimperlich sein, besonders, wenn er hungrig war.
„I-Ich bin mit etwas zusammengestoßen! I-Ich glaube d-da liegt jemand!"
Nun sah Jiang Cheng es auch. Am Boden zusammengerollt, zeichneten sich die Umrisse eines Menschen ab. Jiang Cheng führte Sandu näher heran, das Licht berührte schwarze glatte Haare, die teilweise den Boden bedeckten, ein violettes, von Matsch und Frost übersätes Gewand...
„WangJi!" Jiang Cheng ließ sein Schwert fallen. Es blieb leuchtend am Boden liegen, während er sich zu ihm hinunter beugte. Seine Hände legten sich um Lan WangJis Schultern und drehten ihn auf den Rücken. Er war blass, seine Augen geschlossen. „Endlich haben wir dich gefunden...!"
Jin Ling beobachtete wie Jiang Cheng Lan WangJis bewusstlosen Kopf mit beiden Armen umschlang und an sich drückte. Für einen Moment schien er Jin Lings Anwesenheit zu vergessen, er murmelte irgendwelche unverständlichen Dinge in Lan WangJis Haar.
„Lebt er noch?", fragte Jin Ling.
„Er atmet, aber nicht sehr gleichmäßig. Bringen wir ihn hier weg!"
„Ich helfe dir, Onkel!" Jin Ling wollte mit anpacken, doch Jiang Cheng stieß ihn weg.
„Ich mach das!"
Die ganze Zeit nervst du mich ich müsse dir helfen und nun stößt du mich weg, nur weil es um ihn geht, dachte Jin Ling.
Jiang Cheng schob mit großer Behutsamkeit den rechten Arm unter Lan WangJis Rücken, den linken unter seine angewinkelten Knie und hob ihn vom Boden auf. Einen Momentlang blieb er so stehen, seine rechte Hand hielt Lan WangJis Kopf, der sonst zur Seite abgeknickt wäre, und lehnte ihn an seine Brust.
„Was glotzt du so?! Haben wir nicht vielleicht eine Decke? Er zittert!"
Jin Ling fühlte sich ertappt und kramte etwas aus seinem Ärmel. Jiang Cheng nahm das Leinentuch entgegen, es war nicht besonders groß, doch es genügte, um Lan WangJis Körper zu bedecken.
„Gehen wir!"
Jiang Cheng stapfte voraus, als hätte er keinen ausgewachsenen Mann im Arm. Jin Ling huschte hinterher. Endlich, so hoffte er, würde er ein Bett und ein anständiges Abendessen bekommen.
Er war erleichtert, dass die Suche endlich ein Ende hatte, doch auch befremdet von dem, was nun vor ihnen lag. Jede Geste, die sein Onkel gegenüber demjenigen, den er gerade trug, äußerte, hatte etwas ganz und gar Fremdes für Jin Ling.
Er erinnerte sich wieder daran, was Jiang Cheng unabsichtlich gesagt hatte.
//... während der, den ich liebe, vielleicht schwer verwundet in irgendeinem Graben liegt...//
Er wollte die wahre Bedeutung dieser Worte immer noch nicht wahrhaben, doch Jiang Chengs Verhalten machte es schwer darüber hinwegzusehen und er fühlte, dass es noch schlimmer kommen würde...
Wieder zurück in Yiling, betraten sie eine laute, überfüllte Gaststätte. Es war die einzige in ganz Yiling, die noch ein Zimmer frei hatte. Scheinbar fand in den nächsten Tagen ein Festival in der Stadt statt. Die Lokals waren restlos ausgebucht.
„Nur ein Zimmer?! Wir sind zu dritt wie Ihr seht!", schnaufte Jiang Cheng.
„Es tut mir wirklich leid, junger Mann", sagte der Gastwirt. „aber Ihr besucht uns recht kurzfristig. Vielleicht beruhigt es Euch, dass es sich um ein gehobenes Zimmer handelt. Es ist zwar teurer als die anderen, dafür aber auch sehr komfortabel."
„Was kostet es?" Als Jiang Cheng und Jin Ling den Preis hörten, wurden sie blass.
„So viel?! Seht Ihr nicht, dass wir einen Verletzten dabeihaben?! Er braucht Versorgung, und zwar dringend!"
Jin Ling begann in Lan WangJis Ärmeln herumzuwühlen.
„Onkel, der Lan Clan ist ziemlich reich, oder? Ich wette er hat Geld dabei..."
Jiang Cheng war empört über seinen Neffen. Zornig schlug er seine Hände weg.
„Was fällt dir ein, du Bengel?! Einen bewusstlosen zu bestehlen! Wer sind wir über sein Geld zu bestimmen...?!"
Lan WangJi in der einen, Sandu in der anderen Hand, ging er nun auf den Gastwirt zu und drückte ihm die Klinge in seinen dicken Bauch.
„Hör zu, du gibst uns sofort dieses Zimmer, sonst werde ich ungemütlich! Es geht hier um einen Notfall! Betrachte dies als Anzahlung!" Er leerte seinen Geldbeutel, der Inhalt verteilte sich quer über der Theke. Sein Geld reichte gerade für die Hälfte des Zimmers, doch der Mann hob erschrocken die Hände und kooperierte.
„I-Ich will keinen Ärger!"
„Gut." Jiang Cheng steckte Sandu wieder ein. „Dann führe uns in das entsprechende Zimmer."
Das „gehobene" Zimmer war nicht halb so gehoben, wie der Gastwirt versprochen hatte. Man konnte es als groß und geräumig bezeichnen, doch im Gegensatz zu dem Prunk und Luxus, den Jiang Cheng und Jin Ling kannten, war die Ausstattung lediglich mittelmäßig.
Das Fenster lag auf der Südseite, es gab ein großes Bett, eine Badewanne, einen hohen dunklen Kleiderschrank und einen kleinen flachen Tisch. Laternen hüllten den Raum in schwachgoldenes Abendlicht.
Jiang Cheng legte Lan WangJi aufs Bett und betastete seine Stirn. Während er zuvor eisig kalt gewesen war, glühte er nun förmlich. Schweißtropfen rannen seine Schläfen entlang.
„Er hat Fieber...", sagte Jiang Cheng. „Schnell, mach ein paar Umschläge fertig!"
Jin Ling gehorchte und lief ins Badezimmer.
Jiang Cheng blieb am Bett sitzen und strich ein paar verirrte Haarsträhnen aus Lan WangJis Gesicht. Sie waren ebenso feucht wie seine Haut und obwohl er bleich, seine Lippen nicht annährend so tief rosa wirkten, wie man sie kannte, so nahm ihn seine Schönheit genauso sehr gefangen wie eh und je.
„Vergib mir WangJi...", flüsterte er und drückte seine Hand. „Ich werde alles tun, damit es dir wieder gut geht. Das verspreche ich."
Dann hörte er Jin Ling zurückkehren und stand vom Bett auf.
„Hier die Umschläge, wie du befohlen hast, Onkel! Darf ich mir nun etwas zu essen holen? Bitte?" Jin Ling sah ihn aus großen, hoffnungsvollen Augen an und erinnerte an einen bettelnden Hund.
„Du bist noch nicht fertig", sagte Jiang Cheng streng. „Soll er in seiner durchnässten Kleidung dort liegen bleiben?! Du hast doch mittlerweile Übung im Entkleiden und Baden, dann kannst du dich gleich wieder ans Werk machen! Danach legst du ihm die Umschläge um, verstanden?"
„A-Aber Onkel, ich will das nicht schon wieder tun müssen! Was wenn er währenddessen zu sich kommt!? Er ist gemein, wenn er wach ist!"
„Tu es, oder ich besorge nur Essen für mich, dann darfst du mir zusehen!"
Jiang Cheng ging hinaus und ließ Jin Ling zurück.
Jin Ling seufzte, sein Blick wanderte zu Lan WangJi. „Habe ich Euch nicht gesagt, dass Ihr nicht allein klarkommen werdet, HanGuang Jun? Aber nein, Ihr wolltet ja nicht auf mich hören! Und nun – da sind wir wieder!"
So streifte er erneut Lan WangJis Gewand ab. Mittlerweile wusste er, wo sich die Verschlüsse befanden und wie er Lan WangJis Körper am besten bewegte, um ihn schnellstmöglich aus den Klamotten herauszubekommen, doch als er mit entblößtem Oberkörper vor ihm lag, hielt Jin Ling inne.
„Was... ist das?"
Eine dunkelviolette Stelle in der Nähe von Lan WangJis Bauchnabel ließ ihn zurückschrecken. Male von Flüchen sahen so ähnlich aus, nur schwarz, nicht farbig.
Jin Ling wusste, dass er Jiang Cheng davon berichten musste, doch als sein Onkel mit dem Essen zurückkehrte, vergaß er alles andere.
Um etwa drei Uhr nachts hatten die beiden alles aufgegessen. Der kleine Tisch sah aus wie ein Schlachtfeld. Jin Ling hielt sich den Magen. Er hatte so viel gegessen, dass nun eine gewaltige Müdigkeit über ihn kam. Am liebsten wäre er gleich am Tisch eingenickt.
„Du, Onkel, wo sollen wir heute Nacht eigentlich schlafen? Es gibt nur ein Bett.", bemerkte Jin Ling. Ein großes zwar, aber darin liegt HanGuang Jun.
„Frag den Wirt, er wird einen Futon haben." Jiang Cheng klang, als ob ihn das Thema gar nicht betraf und Jin Ling bekam eine Vorahnung.
„Wo willst du denn schlafen, Onkel?" Darauf antwortete er nicht, er polierte sein Schwert mit einer Servierte. Jin Lings Gesicht verfinsterte sich.
„Onkel", sagte er, seine Stimme klang ernst. „Bist du auch ein Ärmelabschneider?"
Jiang Cheng tat, als habe er diese Bemerkung nicht gehört, doch wenn man genau hinsah, schien er für einen winzigen Moment die Fassung zu verlieren.
„Es ist viel los. Wenn du noch länger wartest hat er vielleicht keinen Futon mehr für dich.", sagte Jiang Cheng. Jin Ling schnaufte und erhob sich.
„Ich bringe dir keinen mit, damit du's weißt! Du kannst auf dem Boden schlafen!" Jin Ling stürmte beleidigt zur Tür hinaus.
Jiang Cheng räumte den Tisch ab und dimmte das Licht, doch gerade als er dabei war die letzten Essensreste zu entsorgen, kamen merkwürdige Geräusche vom Bett. Sofort ließ er alles stehen und liegen, um nach Lan WangJi zu sehen.
Mittlerweile war er gebadet. Er trug einen langes, weißes Unterkleid. Sein offenes Haar lag über dem Kissen und er wand den Kopf unruhig hin und her, als habe er einen schrecklichen Traum. Jiang Cheng ließ sich neben ihm nieder und betrachtete ihn. Seine Haut schimmerte, feucht von Schweiß, ein roter Schleier lag über seinem Gesicht. Jiang Cheng fühlte seine Stirn erneut und erschrak. Das Fieber hatte sich verschlimmert.
Schnell ging er ins Badezimmer und machte neue Umschläge. Er legte sie um Lan WangJis Waden und einen davon sachte auf die glühende Stirn. Gerade in diesem Augenblick schien der Traum seinen Höhepunkt zu erreichen, Lan WangJi keuchte, seine Hände klammerten sich in die Bettdecke. „Verschwinde... komm nicht näher...!", murmelte er. „Lass mich in Ruhe... lass mich-!"
Jiang Cheng wusste nicht, was er da träumte, doch zu sehen, wie sehr ihn seine inneren Bilder aufwühlten, rief Mitgefühl in ihm hervor. Er beugte sich hinunter, legte die Hand auf Lan WangJis Stirn, damit der Umschlag durch seine ruckartigen Bewegungen nicht abrutschte, mit der anderen strich er sanft über seine Wange und flüsterte „Alles wird gut..."
Da schlug Lan WangJi plötzlich die Augen auf und Jiang Chengs Herzschlag setzte aus. Damit hatte er nicht gerechnet. Er war ihm so nah, dass sie nur Zentimeter voneinander trennten. Kaum hatte Lan WangJi Jiang Cheng erkannt, stieß er ihn vom Bett.
„D-Du wagst es...!" Seine Stimme bebte vor Wut, sein Gesicht färbte sich dunkelrot.
Jiang Cheng rieb sich den schmerzenden Rücken, doch der Aufprall war schnell vergessen.
„WangJi...! Du musst dich wieder hinlegen! Du hast hohes Fieber!", rief er, doch Lan WangJi hörte nicht auf ihn. Er hatte sich bereits aufgesetzt und nun wollte er vom Bett aufstehen. „Warte!" Jiang Cheng rappelte sich auf und packte ihn an den Schultern. „So kannst du nicht gehen! Du musst erst wieder gesund werden!"
Lan WangJi riss sich los. „Dann muss ich erst recht gehen, denn dein Anblick macht mich krank!"
Er wollte zur Tür gehen, doch Jiang Cheng war schneller. Er drückte sich gegen die Tür und versperrte ihm den Weg.
„Ich lasse dich nicht raus bis du selbständig in der Lage bist an mir vorbeizukommen!"
Lan WangJis Augen funkelten, doch die heftige Wut brachte große Anstrengung mit sich, die sein fiebernder Körper kaum bewältigen konnte. Er hob die Hand und versuchte einen Zauber auszuführen, doch statt blauem Licht, erschienen nur winzige Funken.
„Siehst du, du bist viel zu schwach! Komm, ich bringe dich wieder ins Bett..." Jiang Cheng kam auf ihn zu, doch kaum lag seine Hand auf Lan WangJis Schulter, traf ihn der harte Schlag einer Faust mitten ins Gesicht. Er fühlte Schwindel, Schmerz breitete sich in seinem Kiefer aus und lähmte kurzzeitig einen Teil seines Gesichtes.
„Ich habe dir gesagt, fass mich nicht an!", zischte Lan WangJi. „Wieso bist du mir überhaupt gefolgt?! Was ich von nun an tue, hat nichts mehr mit dir zutun!" Jiang Cheng wischte sich mit dem Ärmel das Blut von der Nase.
„Wie könnte es nichts mit mir zu tun haben, Lan WangJi?! Ich bin doch derjenige, der für all das verantwortlich ist! Hätte ich anders reagiert wärst du nie geflohen und in den See gestürzt!", entgegnete er. „Du hättest nicht bewusstlos im Wald gelegen! Vielleicht wärst du sogar längst wieder zuhause bei..."
„Ich erlaube dir nicht seinen Namen auszusprechen.", sagte Lan WangJi bedrohlich.
Jiang Cheng fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen, wie erwartet würde Lan WangJi ihm nicht verzeihen. Er senkte den Kopf.
„Was kann ich tun, um das alles ungeschehen zu machen?"
„Nichts.", entgegnete Lan WangJi kalt. Seine Augen wanderten erneut zur Tür. Jiang Cheng achtete gerade nicht darauf, also ergriff er die Chance und eilte hinaus. Jiang Cheng bemerkte seinen fatalen Fehler. Nur ein Augenblick der Unaufmerksamkeit und er hatte Lan WangJi verloren.
„WangJi!", schrie er und rannte die Treppen hinunter. HanGuang Jun war noch immer verdammt schnell. Jin Ling kam ihm entgegen und versperrte die Treppe mit seinem Futon. „Aus dem Weg!"
Er schubste seinen Neffen beiseite und stürmte vorbei an den betrunkenen Gästen, bis hinaus ins Freie, so weit hatte es Lan WangJi mittlerweile geschafft. Es war stockdunkel, die Straßenbeleuchtung reichte nicht bis hinein in die Büsche und Bäume, die am Rande der Häuser wuchsen. Jiang Cheng blickte sich keuchend um, doch er sah nur menschenleere Gassen.
„Nicht schon wieder...! Wie konnte ich...?!" Er raufte sich die Haare.
Der Gedanke Lan WangJi nach so langer Suche ein weiteres Mal verloren zu haben war schlimmer als der Tod. Die Tränen in seinem Hals schienen sich lösen zu wollen, doch er rügte sich, er nahm sich zusammen. Er ballte die Fäuste. „Denk nach, wo könnte er hingegangen sein...? Er ist klug, er wird nicht allein in den Wald zurückgehen...! Außerdem ist er geschwächt, er kann nicht weit sein...!"
„Onkel, Onkel!", rief Jin Ling, der mittlerweile ebenfalls nach draußen gelaufen war.
„Jetzt nicht!" Jiang Chengs Stimme klang fast bösartig, so außer sich war er, wenngleich Jin Ling damit nichts zu tun hatte. Er befand sich nur zur falschen Zeit am falschen Ort.
„Aber Onkel...!"
„Jin Ling, es ist dir vielleicht noch nicht aufgefallen, aber ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch und wenn du nicht willst, dass dir etwas geschieht, dann solltest du mindestens zehn Meter Abstand von mir halten und wieder auf den Zimmer gehen! Wenn ich Lan WangJi nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten finde zerlege ich diese ganze verdammte Hütte in ihre Einzel-!"
Als Jiang Cheng sich zu Jin Ling umdrehte wurden seine Knie weich. Jin Ling war nicht aus dem Haus, sondern aus einer Seitenstraße gekommen. Nun kniete er am Boden, an den Schultern hielt er Lan WangJi. Ohnmächtig.
Sofort kam Jiang Cheng herbeigerannt. Seine Hände zitterten, als er ihn aus Jin Lings Armen nahm. „WangJi..."
„Er wollte nach Westen fliehen, aber dann haben ihn die Kräfte verlassen. Er ist einfach in sich zusammengesackt..."
Jin Lings Stimme klang nicht mehr so argwöhnisch wie noch einige Stunden zuvor. Wenn er Lan WangJi nun sah, nicht mehr Herr über sich selbst, geschwächt von einer unbekannten Krankheit, womöglich sogar einem schrecklichen Fluch, sah er gar nicht mehr den kalten und strengen HanGuang Jun, den er nicht leiden konnte.
„So etwas darf nie wieder passieren!", sagte Jiang Cheng, als sie Lan WangJi wieder ins Bett brachten. „Schließ die Tür ab! Ich werde heute Nacht neben ihm Wache halten."
Ich wusste er würde einen Vorwand finden, um bei HanGuang Jun im Bett schlafen zu können... Durchschaubar, Onkel... so durchschaubar.
Jin Ling ging schweigend zur Tür und schloss ab, dann rollte er endlich seinen Futon aus. Er war hundemüde und schlief sofort ein.
Jiang Cheng hingegen konnte kein Auge zu tun. Er machte sich zu große Sorgen.
Lan WangJis Fieber schien immer schlimmer zu werden. Alle halbe Stunde stand er auf, um die Umschläge zu erneuern. Auch seine Alpträume wurden nicht weniger. Zuweilen zitterte er so heftig, dass Jiang Cheng nicht anders konnte als die Arme eng um seinen Rücken zu schlingen. Er musste irgendwie wahrnehmen, dass er nicht allein war.
Neben all den Schuldgefühlen und der Angst Lan WangJi zu verlieren, gab es jedoch noch einen anderen Grund, der Jiang Cheng nicht schlafen ließ. Es war die Tatsache, dass er nie zuvor neben Lan WangJi geschlafen hatte. So fehl am Platz es ihm vorkam, er empfand eine gewisse Aufregung deswegen. Er wollte die Augen nicht schließen, denn das hätte bedeutet Lan WangJi nicht mehr ansehen zu können. Stundenlang lag er neben ihm und blickte ihn über seine Schulter hinweg an. Er wusste es würde nicht viele Momente wie diesen in seinem Leben geben.
*
Wieder betrat Nie Huaisang Jin GuangYaos Büro, doch dieses Mal schien der Clanführer nicht in Arbeit zu versinken. Er saß vorm Kamin und las ein Buch. Als Nie Huaisang den Raum betrat, hob er neugierig den Blick.
„Huaisang, mein lieber! Ich hatte gar nicht sobald mit Euch gerechnet."
Nie Huaisang vernahm Vorfreude in Jin GuangYaos Stimme und zog den Nacken ein. Ein wenig gekrümmt lief er zu dem Sessel, in den er vorhatte, sich zu setzen.
„Ich schätze du überbringst mir gute Neuigkeiten. Hat Wei WuXian schon angebissen? Ich hoffe es sehr, denn in Yiling gab es ein paar Komplikationen."
„Komplikationen?", wiederholte Nie Huaisang und war dankbar über diesen Einwurf, denn so konnte er noch eine Weile vom Thema ablenken.
Jin GuangYao überlegte einen Momentlang, ob er Nie Huaisang gefahrlos davon erzählen konnte, was sich sein Genie in aller Heimlichkeit ausgedacht hatte. „Nun, da Ihr mich darauf ansprecht... ich denke Ihr solltest auch davon erfahren, schließlich seid Ihr ein Teil des Vorhabens, doch lasst mich Euch warnen Huaisang, solltet Ihr etwas ausplaudern könnte es unangenehm werden..."
Nie Huaisang schluckte heftig. „N-Nein, Clanführer Yao, w-wie könnte ich...?!"
„Nun, es ist so: Ich habe einen Gehilfen ausgesandt, um HanGuang Jun ein wenig zu beschäftigen, während wir unser kleines Vorhaben in die Tat umsetzen. Leider geriet ihm Jiang Wanyin in die Quere, der momentan in Begleitung von A-Ling ist... Ich wusste das Kind würde mir wieder nur Sorgen bereiten...! Wie dem auch sei! Mein Gehilfe hat mir berichtet, dass HangGuang Jun mit einem Fluch belegt wurde, der ihn eine Weile außer Gefecht setzen wird. Der Plan kann also ungefährdet weitergehen."
Nie Huaisangs Gesicht wurde bleich. Zwischen Jin GuangYaos Zeilen lagen viele versteckte, grausame Wahrheiten. Er kannte ihn lang genug, um sie zu erkennen. Der Gehilfe konnte kein anderer als Xue Yang sein... und wenn Xue Yang einen Fluch aussprach war er bisher immer tödlich gewesen.
„Also, Huaisang, spann mich nicht weiter auf die Folter, wie macht sich unsere kleine Gusu Lan Kultivistin?"
Nie Huaisang seufzte schwermütig. „Clanführer Yao, ich denke nicht, dass wir Erfolg haben werden. Beim Turnier hat sich Wei WuXian überhaupt nicht für sie interessiert."
„Dann spielt sie ihre Rolle nicht gut genug!"
„Wie könnte ein normales Mädchen die Gepflogenheiten des Gusu Lan Clan so schnell erlernen? Er muss fühlen, dass sie eigentlich keine Kultivistin ist... Ich glaube er hat uns noch nicht einmal die Geschichte mit ihrem Bein abgekauft. Erinnert Ihr Euch an das Misstrauen in seinem Gesicht?"
„Gut, vielleicht habe ich mich getäuscht. Vielleicht wird er sich nicht in sie verlieben, aber das muss er auch nicht. Es reicht, wenn er nur ein Mann ist." Jin GuangYao beugte sich nach vorne, um Nie Huaisang in die Augen zu sehen. „Wenn es mit herkömmlichen Methoden nicht funktioniert, müssen wir eben zu drastischeren Maßnahmen greifen! Sie beherrscht nicht das Kunstwerk der Kultivierung, doch ich wüsste einen Bereich, worin sie meisterhaft ist... Ihr wisst was ich meine, Huaisang. Wir haben sie nicht umsonst bezahlt."
Nie Huaisang errötete. „J-Jawohl, Clanführer Yao!"
„Wir machen Wei WuXian ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann... und wenn es erstmal geschehen ist, müssen wir nur noch dafür sorgen, dass HanGuang Jun davon erfährt..."
Jin GuangYaos Augen funkelten, als wäre er beeindruckt von seiner eigenem eigenen kühnen Geist.
„Clanführer Yao", sagte Nie Huaisang besorgt. „Wie weit würdet Ihr gehen, um den Ruf des Gusu Lan Clan zu wahren?" Er blickte auf seine Knie und krallte die Hände in den Stoff seinen Rockes. „Würdet ihr... vor dem Tod zurückschrecken?"
Jin GuangYao schwieg, doch es war Nie Huaisang, als würden seine Augen jegliche Dreidimensionalität verlieren. Seine Iris wurde eins mit seiner Pupille, alles versank im gleichen rabenschwarzen Abgrund und Nie Huaisang fühlte einen kalten Schauer über sich kommen. Angst nistete sich in seiner Brust ein.
Wenige Sekunden später lachte Jin GuangYao. „Huaisang, was redet Ihr da? Natürlich würde ich nicht über Leichen gehen, doch wie ich schon sagte" Er stand auf und führte Nie Huaisang zur Tür. „Das Wohl des Landes liegt mir sehr am Herzen. Ich danke dir für deinen Besuch und deinen Bericht. Ich denke du weißt, was du als nächstes zutun hast."
„Jawohl, Clanführer Yao...", sagte Nie Huaisang kleinlaut und verschwand nach draußen.
Jin GuangYao setzte sich in seinen goldenen Sessel, schlug elegant die Beine übereinander und widmete sich wieder seine Buch. Einen Momentlang betrachtete er gedankenverloren den Titel.
Die vier Flüche des Nian.
![](https://img.wattpad.com/cover/213690838-288-k280830.jpg)
DU LIEST GERADE
The Secret
FanfictionAls Wei WuXian um Lan WangJis Hand anhält, steht die Welt der Kultivierung Kopf. Um Jiang Cheng zu überzeugen, macht sich Lan WangJi auf eine beschwerliche Reise am Rande von Leben und Tod...