Gegen alle Widerstände

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An einem sonnigen Nachmittag Anfang Dezember hatte Wei WuXian den Stall für Lan WangJis Kaninchen endlich fertiggestellt. Er war stolz auf sein Werk. An einigen Stellen besaß es zwar ein paar Mäkel, doch er schob es auf seine „eigene Handschrift", als er es Lan SiZhui präsentierte. Der weiße Anstrich, den er dem Rahmen gegeben hatte, war mit hellblauen floralen Elementen verziert.
„HanGuang Jun wird es mögen", sagte Lan SiZhui lächelnd. „Habt Ihr mittlerweile etwas von ihm gehört, Wei-Xiong?"
Wei WuXian schüttelte seufzend den Kopf. „Wenn er in den nächsten Tagen nicht auftaucht werde ich mich mit Zewu Jun auf den Weg machen, obwohl ich weiß, dass er sauer auf mich sein wird... Es verletzt seinen Stolz, wenn ich mich einmische... er will es allein schaffen. Außerdem weiß er, dass ich mich wieder mit Jiang Cheng streiten werde..."
„Ihr habt Euren Bruder lange nicht gesehen, oder?"
Wei WuXian kaute auf seiner Lippe. Lan SiZhui hatte Recht. Das letzte Mal, dass er Jiang Cheng begegnet war, lag über ein Jahr zurück. Sie hatten sich im Kampf getrennt, als herausgekommen war, dass der goldene Kern in Jiang Cheng eigentlich Wei WuXian gehörte. Darüber war sein Bruder nie hinweggekommen und seither hatte er sich nicht mehr innerhalb der Clans blicken lassen. Er verabscheute nicht nur Wei WuXian, sondern auch das Verhalten der anderen Clans, die seiner Meinung nach zu gelassen mit Wei WuXians Fehltritten umgingen. Jiang Cheng verfolgte seine eigenen Vorstellungen von Moral und setzte sie mit harter Konsequenz in seinem Herrschaftsgebiet durch. Dass die Welt der Kultivierung nicht nach seinen Regeln spielte, hatte ihn seit jeher gestört.
Gerade stieß Lan XiChen zu ihnen, doch er kam nicht allein. In seiner Begleitung befand sich eine Frau, die Wei WuXian irgendwo schon einmal gesehen hatte, auch wenn er sich nicht auf Anhieb erinnern konnte wo. Sie trug die klassische weiße Robe des Gusu Lan Clan. Ihr Gesicht erschien rundlich, ihr Körper klein und zierlich. Sie war durchaus hübsch.
Lan XiChen applaudierte. „Gute Arbeit, Wei WuXian! Ich denke du hast WangJis Geschmack auf den Punkt getroffen."
Wei WuXian und Lan SiZhui verbeugten sich, doch dann sagte Lan SiZhui „Bitte entschuldigt mich, Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen."
Wei WuXian sah ihm grinsend nach. Er wusste welche „wichtige" Sache der Junge zu erledigen hatte, schließlich war Mittwoch, der Tag, an dem er sich mit Wen Ning traf, doch das wusste niemand, außer er.
„Du erinnerst dich an Madam ZhiRuo?", begann Lan XiChen und das Mädchen schenkte Wei WuXian ein strahlendes Lächeln, das ein schlechtes Gewissen in ihm heraufvorrief. In Wahrheit hatte er keinen blassen Schimmer, wer vor ihm stand. „Sie ist gerade auf dem Rückweg von einer wichtigen Mission in Caiyi und Jin GuangYao bat mich ihr ein Quartier für die Nacht zu geben. Vielleicht könntest du sie ein wenig herumführen. Sie ist neu in Gusu und soll sich bei uns willkommen fühlen."
Da endlich fiel der Groschen und Wei WuXian wusste wieder, woher er sie kannte. Das Turnier. Jin GuangYaos merkwürdiger Neuzugang, der bei den Kultivistinnen des Lan Clan lebte.
Er empfand ihr gegenüber eine gewisse Skepsis, doch wollte Lan XiChen keine Probleme bereiten.
„Natürlich, warum nicht?"
„Danke", erwiderte Lan XiChen. „Ich muss nun zu einer wichtigen Unterredung. Wir sehen uns beim Abendessen."
Wei WuXian und Lan ZhiRuo verbeugten sich zum Abschied.
„Nun gut, ich soll dich also herumführen", begann Wei WuXian. „Weißt du überhaupt, wer ich bin? Ich heiße Wei WuXian, komme eigentlich aus Yunmeng, lebe aber mittlerweile im Gusu Lan Clan..."
„Ich weiß", entgegnete sie. „Das habt Ihr mir bereits erzählt."
„Habe ich das? Ich erzähle viel, wenn der Tag lang ist. Sag doch bitte auch ‚du' zu mir, sonst komme ich mir wie ein alter Mann vor." Sie kicherte.
„In Ordnung."
„Also folge mir, du wirst Augen machen, wenn du noch nie in den Pavillons warst. Beim ersten Mal war ich ganz schön beeindruckt... und auch entsetzt. Man muss eine gewisse Neigung zu puristischer Einrichtung mitbringen. Aber was erzähle ich dir! Du bist freiwillig dem Lan Clan beigetreten, natürlich wird all das nach deinem Geschmack sein...!"
Wei WuXian schaute sie heimlich von der Seite an und beobachtete ihre Reaktion, während er sie herumführte. Zuerst zeigte er ihr den Hof, das Trainings- und Außengelände, dann brachte er sie in den Pavillon der Ruhe, wo gerade meditiert wurde, zeigte ihr die Unterrichtsräume und schließlich die Bibliothek.
Den Pavillon der Schriften zu betreten, hatte seit einer Weile immer zur Folge, dass Wei WuXians Körper von einem Kribbeln durchzogen wurde. Nie würde er den Augenblick vergessen, als er Lan WangJi dort zum ersten Mal hatte küssen dürfen. Es war ihm als würde er sich und Lan WangJi dort noch immer an der Wand lehnen sehen und er versank in einen kurzem Tagtraum.
Dann fiel sein Blick auf eine Guqin, die auf einem der niedrigen schwarzen Holztische lag. Ihm kam eine Idee.
„Hättest du Lust etwas zu spielen?", schlug er vor. Es war ein Test. „HanGuang Jun, mit dem ich normalerweise Musik mache, ist gerade nicht hier, und ich habe lange nicht mehr mit jemandem gespielt." Er holte seine Flöte hervor und wies ZhiRuo an, am Tisch Platz zu nehmen.
„Oh – ich... fürchte ich bin noch nicht gut genug, um mit dir zu spielen", sagte sie schüchtern.
Wei WuXians Misstrauen wuchs. Sie hatte nicht nur die höfliche Anrede ihm gegenüber vergessen, sie suchte eine Ausrede, um nicht spielen zu müssen, doch so leicht wollte er es ihr nicht machen.
„Das macht nichts, ich bin auch ein wenig aus der Übung, aber wir werden schon einen Rhythmus finden, meinst du nicht?" Er sagte dies mit einem unverkennbar zweideutigen Unterton, der sie erröten ließ.
„Nun, ich... kann es ja mal versuchen...", sagte sie und setzte sich an den kleinen Tisch. Schon die Art wie sie die Finger auf die Saiten legte war an Ahnungslosigkeit kaum zu übertreffen. Als die ersten Töne erklangen, wusste Wei WuXian, dass sie nicht spielen konnte. Ihre Noten hatten keinen Ausdruck, keine Seele. Sie klimperte irgendetwas vor sich hin, also beschloss er ihr eine Melodie vorzugeben, doch sie schaffte es nicht einmal sich daran zu orientieren.
„Das war doch schon ganz gut!", lobte er, ohne seine wahre Meinung durchscheinen zu lassen.
„Ich bin wirklich aus der Übung, entschuldige...!", beteuerte sie immer wieder, doch Wei WuXian dachte nur: Du bist nicht aus der Übung, du hast noch nie eine Guqin angefasst.
„Ich finde du hast dich wacker geschlagen. Der Stil des Lan Clan ist eine Kunst, nur Kultivisten mit großem Potenzial werden aufgenommen, Mitglieder anderer Clans noch seltener... Es muss einen Grund geben, weshalb sie dich ausgewählt haben."
Und den werde ich herausfinden...
„Wei WuXian, du bist sehr freundlich.", sagte sie, ihre Wimpern schlugen auf und ab. Wei WuXian hatte keine Chance ihren großen braunen Augen auszuweichen. Er lächelte, doch jede seiner Gesten war gespielt.
„Das habe ich schon öfter aus dem Mund schöner Frauen gehört."
Sie tat verlegen, doch er durchschaute sie. Was hast du vor, Mädchen?
„Hast du Lust auf ein Abenteuer? Ich war schon lang nicht mehr jagen. Sie lassen mich nicht... weil es sich für ein Mitglied des Gusu Lan Clan nicht gehört Wild zu schießen. Aber mir kribbelt es in den Fingern."
„Das klingt spannend! Lass uns gehen! Niemand soll es erfahren!"
Wei WuXian wusste bereits, dass sie keine echte Kultivistin des Lan Clan war, doch spätestens jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Das Jagen in den Wäldern von Tieren zum Spaß war streng verboten. Der Lan Clan respektierte seine Umwelt mit allen dazugehörigen Lebewesen. Sie aßen noch nicht einmal Fleisch, aus Respekt vor den Tieren des Waldes. Von alledem hatte diese Frau jedoch keine Ahnung.
Bei der Jagd wollte Wei WuXian nun herausfinden, ob sie wenigstens die grundlegenden Fähigkeiten der Kultivierung besaß.
Während Wei WuXian Meisterleistungen mit dem Bogen vollbrachte und einen Vogel nach dem anderen vom Baum holte, hastete sie hinterher. Zumindest das mit ihrem Bein schien zu stimmen. Aus irgendeinem Grund konnte sie nur humpeln.
Jeder ihrer Pfeile traf vorbei. Wei WuXian gab vor nichts zu bemerken. Er tat sogar so, als habe sie einen Vogel geschossen, den eigentlich er getroffen hatte.
„Lan ZhiRuo, was für ein Schuss!", lachte er und hob den Vogel vom Boden auf. „Was für eine Meisterin des Bogens!"
„Ach, du übertreibst!" Wieder kokettierte sie mit ihm. Die Art, wie sie sich genau in diesem Moment durchs Haar strich, sah sehr einladend aus und er nahm die Einladung an. Er umkreiste sie ein wenig, bis sie mit dem Rücken an einen Baumstamm fiel und nicht weiter zurückkonnte.
„Ich... dachte du bist ein Ärmelabschneider.", sagte sie, ihre Stimme klang rau und verführerisch. Wei WuXian näherte sich ihrem Ohr und flüsterte:
„Nun, mein Mann ist gerade nicht da..." Sein Oberschenkel schob sich zwischen ihre Beine und entlockte ihr ein heiseres Stöhnen.
„Oh, Wei WuXian...! Ich hatte von Anfang an Interesse an dir, aber ich dachte nicht, dass du mich beachten würdest...! Du schienst nur Augen für Lan Lei zu haben...!"
Wei WuXian nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und blickte ihr tief in die Augen. „Da irrst du dich... Ich war nur nicht kühn genug mich dir zu nähern. Du bist eindeutig schöner, als Lan Lei... und ich müsste lügen, wenn ich sagen würde ich sei immun gegenüber schönen Frauen..."
Sie keuchte zwischen seine Lippen. „Willst du, dass ich dich küsse?", raunte er. „Willst du, dass ich dich nehme, genau hier?"
„Ja... oh Gott, ja!", rief sie, Lust und Verzweiflung in ihren Augen, doch in diesem Augenblick wurde die sanft Berührung von Wei WuXians Hand zu einem festen Klammergriff. Seine Hand packte ihren Kiefer und drückte ihn gegen den Baum.
„Träum weiter!" Sie schrie auf, einen so plötzlichen Stimmungswechsel hatte sie nicht erwartet. Sie wollte fliehen, doch er hielt sie so eindringlich, dass sie sich nicht bewegen konnte. „Ich würde HanGuang Jun niemals betrügen! Schon gar nicht mit jemandem wie dir! Du bist keine Gusu Lan Kriegerin, du bist nicht mal eine Kultivistin! Also, ich frage dich nur ein einziges Mal, bevor ich dir die Eingeweide rausschneide: Wer bist du und was hast du vor?"
Sie zitterte vor Angst. Seine Augen waren schwarz und bedrohlich. Sie traute ihm zu, dass er Wort hielt und sie hier und jetzt tötete.
„B-Bitte, Wei WuXian, tu mir nichts!", flehte sie. „I-Ich wollte dich nicht verletzen!"
„Ein Elite-Kultivist und eine normal Sterbliche – das wäre ein ziemlich ungleiches Duell, findest du nicht?", lachte er. „Nein, du wolltest mich nicht verletzten... du bist nur das Mittel zum Zweck. Mich interessiert: Wer hat dich geschickt? Welchen Auftrag sollst du aufführen?"
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen presste er sie noch fester an den Baumstamm.
„Lass los, ich bitte dich! Ich will dir alles sagen, nur zerquetsche mich nicht!" Tränen standen in ihren Augen und so lockerte sich Wei WuXians Griff ein wenig.
„Gut. Ich höre."
„Nie... Nie Huaisang hat mich geschickt... Er hat mir eine Menge Geld geboten, wenn ich tue, was er sagt. Ich weiß ich hätte nicht darauf eingehen sollen, aber meine Familie ist arm... Mein Vater liegt im Sterben... Ich bekomme keine guten Aufträge mehr, seit mein Bein verkrüppelt ist. Ich... Ich arbeite in einem Bordell in Moling... aber meine Behinderung kommt nicht gut an bei den Kunden... Ich weiß nicht wie ich meine Familie über Wasser halten soll...!"
Wei WuXian seufzte. „Eine Prosituierte also... ich hätte es wissen müssen! Du wurdest engagiert, um mich zu verführen."
„Ja... Ich sollte dich dazu bringen mit mir zu schlafen...", fuhr sie fort. „Nie Huaisang will deine Hochzeit verhindern."
Wei WuXian schüttelte den Kopf. Er wusste, dass Nie Huaisang ein naiver Ja-Sager war, der solche Pläne nicht allein schmiedete. Nur einer konnte dahinterstecken.
„Jin GuangYao...", murmelte er und ließ das Mädchen los. „Dieser Bastard...! Ich hätte es wissen müssen! Nur gegrinst und geschlichtet hat damals beim Bankett im Koi Turm... die anderen hat er mich beschimpfen lassen... doch ihm ist das alles der größte Dorn im Auge!"
ZhiRuo, endlich frei und noch immer voller Angst, nutzte die Gelegenheit, um davon zu laufen. Wei WuXian sah ihr weißes Gewand im winterlichen Nebel verschwinden.
Nun lehnte er sich an den Baum und blickte in die aufkommende Dämmerung.
Lan Zhan... Es scheint die ganze Welt habe sich gegen uns verschworen. Ich wusste, dass es nicht leicht werden würde, doch ich hätte nie gedacht, dass sich uns so viele Hindernisse in den Weg stellen würden. Dein Gesicht vor meinen Augen wird blasser. Ich habe dich zu lang nicht mehr gesehen. Was auch immer du gerade tust, lass uns zusammenhalten. Lass uns gegen alle Widerstände ankämpfen. Ich weiß, wir werden uns bald wieder in den Armen halten, ich fühle es...
„Ich werde dich heiraten, und wenn es das letzte ist, was ich tue! Jin GuangYao wird mich nicht aufhalten!" Wei WuXians Stimme wurde lauter. „Hörst du das, Yao, du elender Teufel?! Hast du nichts Besseres zu tun, als dich in das Privatleben anderer Leute einzumischen?! Was kümmert es dich, wenn ich HanGuang Jun heirate?! Bist du so im Unreinen mit dir selbst, dass dich so etwas provoziert?"
Wei WuXian war wütend und stieß sich vom Baum ab.
Dieser größenwahnsinnige denkt er stünde über allem, aber ich werde ihm eine Lektion erteilen.

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