Letzte Rettung

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Es gab einen lauten Knall, der Jiang Cheng und Jin Ling irgendwann im Laufe des nächsten Tages aus dem Schlaf schreckte. Als Jiang Cheng aufwachte und feststellte, dass das Bett neben ihm zerknüllt und leer war, erschrak er zu Tode.
Für einen Moment glaubte er Lan WangJi sei wieder weggelaufen, doch als er neben das Bett blickte, bemerkte er, dass er nur vom Bett gefallen war. Ziemlich unsanft jedoch, sodass Jiang Cheng sofort aufsprang, um zu sehen, ob er sich verletzt hatte.
„Onkel, was ist passiert?"
Jin Ling rieb sich die Augen und kam näher. Jiang Chengs Aufmerksamkeit jedoch lag ganz bei Lan WangJi. Er wollte ihn gerade vom Boden aufheben, da fiel sein Blick auf sein verrutschtes Gewand. Es öffnete sich zur Vorderseite, sodass ein großer Teil seiner nackten Brust hervortrat und was sich dort zeigte, löste pures Grauen in ihm aus.
Er legte ihn wieder in die weiche Matratze. Von dort fiel mehr Licht auf ihn, sodass der dunkelviolett verfärbte Bereich, der sich von Lan WangJis Bauch bis über die Brust ausdehnte, noch deutlicher sichtbar wurde.
„Ach du meine Güte, Onkel, was ist das?! Gestern Abend ist es noch viel kleiner gewesen!"
Jiang Cheng drehte sich entgeistert zu Jin Ling um. „Du wusstest davon und hast mir nichts gesagt?!"
„Entschuldige, ich wollte ja, aber ich habe es vergessen... Ich kann nicht denken, wenn ich hungrig bin...", knurrte Jin Ling. „Wir hätten ohnehin nichts unternehmen können mitten in der Nacht...!"
Jiang Cheng konnte nicht glauben, was Jin Ling da sagte. Eine blinde Wut kam über ihn, er verlor die Beherrschung und packte Jin Ling am Kragen. „D-Du hast es vergessen?! Bist du eigentlich noch bei Trost?! Hast du überhaupt den Hauch einer Ahnung wie gefährlich das hier ist?! Wenn es gestern Abend noch kleiner war und jetzt so groß ist, zählt jede Minute!"
Jin Ling starrte ihn erschrocken an, er war noch nicht ganz wach und hatte nicht damit gerechnet so hart angegangen zu werden. „O-Onkel... Es tut mir leid, i-ich wollte dir keinen Ärger machen...!"
„Mir keinen Ärger machen?! Du hast immer noch nicht begriffen worum es geht, oder?!" Jiang Chengs Stimme bebte.
Er ließ Jin Ling los und beugte sich zu Lan WangJi. Mit zitternden Fingern teilte er das Gewand nun in zwei Hälften, um das ganze Ausmaß der Verfärbung zu begutachten.
„Verdammt...!", entkam es Jiang Cheng. Nicht nur Lan WangJis Brust, auch die Hälfte seiner Beine hatte sich verfärbt.
Er versuchte ruhig zu atmen, obwohl wenn sein Herz raste. Tief in sich spürte er eine Vermutung, sie war nur noch nicht greifbar für sein Bewusstsein, nicht ausreichend bewiesen, vielleicht sogar noch ein wenig weit hergeholt. Sie versetzte ihn in höchste Alarmbereitschaft.
„Es muss ein Fluch sein...", sagte Jin Ling. „Vielleicht waren doch Wassergeister im Lotus Pier..."
„Ausgeschlossen", erwiderte Jiang Cheng finster. „In meinen Gewässern treiben sich keine Kreaturen herum."
„Dann hat er es sich vielleicht in Yiling geholt. Die Gegend ist am Verdächtigsten, findest du nicht? Vor allem, da Xue Yang-!"
„Wir können später über die mögliche Infizierung sprechen!", unterbrach ihn Jiang Cheng. „Jetzt müssen wir schnell etwas unternehmen, damit es sich nicht weiter ausbreitet!" Er griff in seine Ärmeltasche und holte seinen Geldbeutel hervor.
Verflucht, ich habe alles dem Gastwirt gegeben!
„Jin Ling, wir brauchen dringend Medizin! Am besten etwas Spirituelles, das den Körper reinigt! Wir haben kein Geld, also musst du dir was einfallen lassen! Beeil dich!" Jiang Cheng schob Jin Ling zur Tür.
„Aber Onkel, ich bin noch nicht einmal richtig angezogen! Wie soll ich etwas bekommen, wenn ich nicht bezahlen kann?! Willst du mich etwa zum Dieb machen...?!"
„Jin Ling, ich sage das jetzt zum letzten Mal!" Wieder packte Jiang Cheng seinen Neffen mit beiden Hände am Kragen, dieses Mal so inbrünstig, dass sich Jin Lings Füße ein paar Zentimeter vom Boden entfernten. „Wenn Lan WangJi wegen deiner Fahrlässigkeit stirbt, dann sorge ich dafür, dass du ihm folgst! Ist das klar?!"
Jin Ling verzog schmerzerfüllt das Gesicht. „Ist klar, ist klar! Lass mich runter! Lass mich runter!"
So schnell er konnte rannte Jin Ling hinaus, während Jiang Cheng überlegte, was sich in der Zwischenzeit unternehmen ließ, um Lan WangJi zu helfen. Er ging hinunter zum Gastwirt und fragte nach Medizin.
„Junger Mann, gestern Abend seid Ihr mir gegenüber sehr grob aufgetreten, ich weiß nicht, ob ich gewillt bin Euch zu helfen."
Wieder empfand Jiang Cheng großen Zorn. Sollte Lan WangJis Leben am Ende in den Händen von seinem unzuverlässigen Neffen und diesem mürrischen Gastwirt liegen?! Er versuchte sich zusammenzureißen, womöglich würde die freundliche Tour bei diesem Mann größeren Erfolg versprechen als seine Drohung am Vorabend.
„Ihr wisst wir haben einen schwerkranken Mann im Schlepptau, Ihr habt ihn gestern Abend selbst gesehen. Augenscheinlich leidet er unter einem Fluch. Ich würde Euch nicht anbetteln, wenn es nicht um das Leben meines Freundes ginge...", erklärte Jiang Cheng. „Bei unserer ersten Begegnung bin ich ein wenig unhöflich gewesen, doch nur, weil mich die Sorge um ihn an den Rand der Verzweiflung bringt... Hätte ich nur ein Bisschen Medizin..."
„Schon gut, Ihr müsst nicht vor mir auf die Knie fallen. Ich bin kein Unmensch.", knurrte der Gastwirt. „Ihr habt Glück, vor ein paar Tagen kamen Kultivisten des Moling Su Klans hier vorbei. Sie haben Geschenke dagelassen. Vielleicht könntet Ihr etwas davon gebrauchen. Mir nützt es nichts, da ich mit Kultivierung nichts anfangen kann."
Er verschwand einen Moment und kehrte mit einer Kiste voll Utensilien zurück. Darin befanden sich vor allem kleine Schmuckstücke und Accessoires, mit denen Kultivisten ihre spirituellen Waffen aufhübschten, doch auch ein paar nützliche Dinge. Jiang Cheng fand eine Flasche magisches Desinfektionsmittel, Medizin und eine Halskette, versehen mit einem spirituellen Heilstein.
„Ich danke Euch!", rief Jiang Cheng, ein wenig erleichtert. Mit diesen Gegenständen würde er etwas anfangen können. Er schwor dem Mann sich eines Tages erkenntlich zu zeigen, wenngleich er ihm womöglich nicht glaubte, und kehrte zu Lan WangJi zurück.
Zu Jiang Chengs großer Überraschung schlief er nicht mehr. Er lag flach auf dem Bett lag und blinzelte zur Decke. Vorsichtig näherte sich Jiang Cheng, darauf bedacht Lan WangJi nicht wieder zum Ausreißen zu bewegen, doch dieses Mal blieb er ruhig liegen, selbst, als er bereits neben dem Bett stand.
Er drehte sich zu Jiang Cheng und blickte auf. Der Nebelschleier über seinen Augen hatte sich so stark verdichtet, dass sich Jiang Cheng fragte, ob er ihn überhaupt wahrnahm. Er setzte sich langsam aufs Bett. „Ich habe ein paar Dinge mitgebracht, die helfen könnten, dich zu heilen."
„Heilen...", murmelte Lan WangJi, seine Hände umfassen das Kissen. Jiang Cheng holte die silberne Halskette hervor und legte sie um seinen Hals. Lan WangJi betastete sie mit den Fingern.
„Für mich...?"
Jiang Cheng beobachtete sein seltsames Verhalten, er musste ganz unter Einfluss des Fiebers stehen.
„Für dich.", sagte Jiang Cheng und holte das Desinfektionsmittel hervor. „Leg dich gerade hin, nicht zappeln..." Lan WangJi tat wie ihm befohlen.
Jiang Cheng träufelte das Desinfektionsmittel auf ein dünnes Tuch und betupfte damit die violetten Stellen. „Ich bin nicht sicher, ob es wirkt... aber es ist besser als nichts."
Lan WangJi zuckte bei der ersten Berührung zurück.
„Tut es weh...?", fragte er sanft. Lan WangJi schüttelte den Kopf, doch als er mit der Behandlung fortfuhr versteifte sich sein Körper und er biss merklich die Zähne zusammen. Erst als Jiang Cheng das Desinfektionsmittel weglegte und die Vorderseite von Lan WangJis Gewand behutsam verschloss, entspannte er sich wieder.
Zuletzt goss ihm Jiang Cheng eine Schüssel Medizin ein. „Trink das, es tötet das Gift in dir... du wirst bald wieder gesund sein."
Da legte sich ein unverhofftes Lächeln auf Lan WangJis Lippen, das Jiang Cheng durch Mark und Bein fuhr.
„Wei Ying...", murmelte er, seine Hand streckte sich zu Jiang Chengs Wange aus. Jiang Cheng versteinerte.
Er hält mich... für Wei WuXian.
Jiang Cheng bewegte sich nicht, während Lan WangJis Hand zärtlich über seine Wange fuhr. Er wusste nicht was er tun sollte. Einerseits erfasste ihn ein gewisser Schmerz, da Lan WangJi ihn für jemand anderen hielt. Andererseits war er nie zuvor so von ihm berührt worden. Er konnte nicht anders als es zu genießen, wenngleich ihm jede Faser seines Körpers zubrüllte, wie falsch es war.
„Nicht weinen", raunte Lan WangJi. „Ich bin doch jetzt wieder bei dir." Lan WangJis Finger fingen eine Träne auf, die sich aus Jiang Chengs Augen gelöst hatte. Zuerst nur eine, doch dann schien sich ein Knoten in ihm zu lösen und seine Verzweiflung brach aus ihm heraus. Er ergriff Lan WangJis Hand, drückte sie an seine Wange und küsste sie.
Selbst wenn du mich für einen anderen hältst... Wie könnte ich dich loslassen? Ich liebe dich. Ich liebe dich...!
„Wei Ying... Ich muss etwas zugeben", sagte Lan WangJi dann, seine Stimme klang ein wenig verlegen. Jiang Cheng hob überrascht den Kopf. „Als du nicht da warst bin ich unartig gewesen..."
Jiang Chengs Herz brannte, als er diese Worte hörte, sie klangen so liebenswert, so honigsüß. Unmöglich dabei einen klaren Kopf zu bewahren.
„Da war dieser Händler in Yiling und..." Er hielt inne, da er nicht wusste, wie er sich ausdrücken sollte. Er hatte nie gut mit Worten umgehen können und wenn es um Dinge ging, für die er sich schämte, fiel es ihm erst recht schwer. Dennoch hatte er das Gefühl Wei WuXian unbedingt von seinem Ausrutscher erzählen zu müssen, um sich sein Gewissen zu erleichtern. In seiner streng monogamen und konservativen Auffassung von einer Beziehung, hätte er sich sonst vorgeworfen Wei WuXians Vertrauen missbraucht zu haben.
„...Ich hatte sehr großes Verlangen nach dir... und so habe ich etwas gekauft... eine Skulptur... ich habe mir vorgestellt, dass du es bist... also fühle dich bitte nicht betrogen..."
Mehr wagte er nicht zu sagen, die Hälfte der Geschichte fehlte, doch Jiang Cheng hatte genug gehört, um sich den Rest zusammenzureimen.
Er war leichenblass und erstarrt von diesen Neuigkeiten. Da war der Beweis, den sein Unterbewusstsein brauchte, um die Angst, die bereits in all seinen Gliedern saß, zur Wirklichkeit zu machen. Er rief sich nun all die schrecklichen Dinge, die Xue Yang gesagt hatte, in Erinnerung...
// Zuerst wird es sich gut anfühlen, besser als alles, was sie je empfunden haben... Ihre Freuden werden sie davon ablenken, dass meine Kreatur von ihnen Besitz ergreift. Langsam, aber sicher wird sie sich in ihre Eingeweide fressen, bis der ganze Körper befallen ist. Wir zapfen ihre Lebensenergie ab und pressen sie aus wie Zitronen. Wenn sie erst gestorben sind werden sie auferstehen, in Form von Geistermarionetten, stärker und bedrohlicher, als alle je dagewesenen... doch das Beste ist...//
„...bei Kultivisten werden nicht nur die Eingeweide gefressen... sondern auch ihr goldener Kern...", murmelte Jiang Cheng.
„Hm?" Lan WangJi sah ihn mit glasigen Augen an. „Bist du böse auf mich...?"
Jiang Cheng schüttelte den Kopf, stille Tränen rollten seine Wangen hinab.
Er wird sterben... Er wird sterben...!
Nun ließ sich die Situation kaum noch aushalten, er zog Lan WangJi in die Arme und umklammerte ihn so fest er nur konnte.
„Nein...! Nein, ich bin nicht böse auf dich...!", schluchzte er. „Wieso musstest du so etwas nur tun?! Wieso?! Du bist doch HanGuang Jun... d-du bist doch...!?"
„Wei Ying...", murmelte Lan WangJi und schuf nur so viel Abstand zwischen sich und Jiang Cheng, dass er ihn ansehen konnte. Selbst als sich Jiang Chengs Augen direkt vor ihm befanden, erkannte er ihn nicht. „Manchmal ist es ganz schön schwer HanGuang Jun zu sein..."
„Es ist alles meine Schuld...!", brachte Jiang Cheng hervor.
Da schlang Lan WangJi die Arme um seinen Nacken. Jiang Cheng fühlte, was geschehen würde und sprang auf, er durfte es auf gar keinen Fall zulassen.
Es ist nicht richtig. Er hält mich für Wei WuXian. Wüsste er, dass ich es bin, würde er mich niemals küssen wollen.
Im selben Moment kam Jin Ling zur Tür hinein. Jiang Cheng war überrumpelt von seinem plötzlichem Auftauchen, nicht bereit für die Gegenwart eines anderen. Er ging zum Fenster und tat, als würde er dort draußen irgendetwas beobachten, doch stattdessen wischte er sich nur das Gesicht trocken. Jin Ling trat neben ihm.
„Du bist schnell zurückgekehrt, ich hoffe nicht mit leeren Händen."
Jiang Chengs Stimme klang kalt und herrisch wie zuvor, als habe sein Gefühlsausbruch, wenige Minuten zuvor, nie stattgefunden.
„Natürlich nicht, Onkel! Du hast gesagt ich soll mich beeilen und das habe ich!"
Jiang Cheng blickte in Jin Lings ausgestreckte Hände. „Ich habe leider keine Medizin bekommen, keiner der Händler hat mir eine umsonst gegeben... außerdem wäre das alles nichts gewesen, er hat schließlich keinen Husten. Aber dieses Buch könnte uns helfen. Ich habe es gegen meinen Anhänger eingetauscht... du weißt schon, den, den mir Clanführer Yao letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hat. Die alte Frau, die es verkauft hat, sah aus wie eine ehemalige Kultivistin, ich denke man kann ihr vertrauen. Sie sagte, dass das Buch alle Flüche der letzten hundert Jahre kennt."
Jiang Cheng stützte die Hände in die Hüften und seufzte. Viele Dinge lagen ihm auf der Zunge, doch er hatte keine Kraft Jin Ling erneut auszuschimpfen. Er nahm ihm das Buch aus der Hand und setzte sich damit an den Tisch. Sofort begann er zu blättern und zu lesen.
„Steh nicht rum, kümmere dich um WangJi, solange ich beschäftigt bin!"
Wieso höre ich eigentlich auf ihn? Er schikaniert mich nur! Nicht mal Danke sagt er zu mir! Möchte mal sein Gesicht sehen, wenn ich mich eines Tages weigere...
Missmutig brachte er Lan WangJi ein Glas Wasser, das ihm regelrecht aus der Hand gerissen wurde.
„Mehr.", sagte Lan WangJi. Jin Ling starrte ihn irritiert an und holte noch ein Glas. Genau wie das erste war es in Windeseile geleert. „Noch mehr."
„Wieso sagt Ihr nicht gleich, wieviel Ihr wollt, anstatt mich drei Mal laufen zu lassen?!", rief Jin Ling verärgert. Noch einmal ging er Wasser holen, doch dieses Mal kam er mit einer großen Schüssel zurück. Lan WangJi betrachtete die Schüssel kopfschüttelnd.
„Nicht mehr durstig.", knurrte er und sank ins Kissen. „XiChen redet komisch heute..."
Jin Ling wandte sich ein wenig irritiert an Jiang Cheng. „Ich glaube ihm ist das Fieber zu Kopf gestiegen...!"
„Er halluziniert. Sag ihm einfach, dass er schlafen soll...", raunte Jiang Cheng, während er las.
„Habt Ihr gehört? Schlafen sollt Ihr! Ihr könnt ohnehin kaum die Augen offenhalten, wieso zwingt Ihr Euch überhaupt...?!"
Tatsächlich kämpfte Lan WangJi mit aller Macht gegen die Erschöpfung. Sein Kopf lag bereits im Kissen, doch drehte sich ein wenig in Jiang Chengs Richtung. Er streckte die Hand aus. „Wei... Ying..."
Nun starrte Jin Ling abwechselnd Lan WangJi, dann Jiang Cheng an.
Jiang Cheng seufzte und schlug das Buch zu. „In Ordnung, ich mache das. Such du den Fluch, während ich ihm Gute Nacht sage."
„Er... er denkt du seist Wei WuXian!" Jin Ling konnte sich das Lachen kaum verkneifen. „Onkel, Onkel...! Das ist deine Chance...!"
„Hüte deine freche Zunge!", zischte Jiang Cheng. „Was für ein Mann wäre ich würde ich die Wehrlosigkeit eines Kranken für mich ausnutzen...!"
Jin Ling setzte sich an den Tisch, blätterte im Buch und warf heimliche Blicke zu Jiang Cheng und Lan WangJi.
Nicht ausnutzen... von wegen. Du hältst seine Hand, du siehst ihm tief in die Augen. Du sprichst mit sanfter Stimme zu ihm. Du genießt es gerade der einzige an seiner Seite zu sein. Heuchler.

Das alte Buch der Flüche war nicht gerade dünn und den Fluch zu finden dauerte eine ganze Weile, zumal sie nicht einmal sicher sein konnten ob etwas darüber in diesem Buch stand. Nachdem Lan WangJi eingeschlafen war, kehrte Jiang Cheng zu Jin Ling zurück.
„Blaue Flecken, blaue Flecken... Wir brauchen keine blauen, sondern lila Flecken, wieso gibt es das nicht?!", jammerte Jin Ling. Er befand sich nun bereits auf Seite fünfzig und hatte immer noch kein sinnvolles Ergebnis gefunden.
„Was, wenn die Farbe keine Rolle spielt? Was wenn sie... je nach... Situation anders ist." Beinahe hätte er ‚je nach Modell' gesagt, doch es sich im letzten Moment verkniffen. Er wollte auf keinen Fall, dass Jin Ling erfuhr wie Lan WangJi sich den Fluch zugezogen hatte.
Jin Ling stöhnte. „So kommen wir nicht weiter. Fieber und Hautverfärbungen... das könnte jeder Fluch sein!"
„Gib mal her!" Jiang Cheng holte sich das Buch zurück.
Wenn es stimmt, was Xue Yang gesagt hat, ist die nächste Stufe des Fluches, dass die Kreatur von WangJi Besitz ergreift. Sie befällt seine Organe, oder besser gesagt, sie verschlingt sie...
Ein kalter Schauer überkam ihn bei der Vorstellung. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was es für Lan WangJi bedeutete, wenn diese Stufe erreicht wurde.
Hastig durchsuchte er das Buch nach Flüchen, die auf parasitäre Monster hinwiesen. Monster, die goldene Kerne fraßen. Das grenzte die Auswahl erheblich ein. Übrig blieben vier Flüche, doch sie schienen alle zum gleichen Thema zu gehören.
„Die vier Flüche des Nian", murmelte Jiang Cheng, sein Finger wanderte über die Illustration einer mystischen Kreatur mit dem flachen Gesicht eines Löwen. Sein Körper jedoch bestand aus schlangenartigen Strängen, wie Rüssel von Elefanten. Seine Haut erschien schuppenartig, wie die einer Wasserkreatur. Jiang Cheng las vor:
„Befallen vom ersten Fluch des Nian, verwandelt sich der Betroffene in ein Tier... der zweite Fluch des Nian verwandelt den Befallenen in eine Pflanze... der dritte Fluch des Nian lässt Menschen zu Steinen werden... und der letzte..."
„...tritt besonders bei mächtigen Kultivisten ein.", las Jin Ling weiter. „Er erschafft aus ihnen eine Geistermarionette, nachdem er ihren golden Kern vollständig gefressen hat."
Jiang Cheng und Jin Ling starrten sich an, beide erfüllt von einer riesigen Menge Gedanken. Jiang Cheng wusste, dass er die Wahrheit nun nicht mehr vor Jin Ling verbergen konnte. Jin Ling musste bereits in dem Moment, als er den letzten Satz laut vorgelesen hatte, eine Verbindung zu Xue Yang geschlagen haben. Nun wussten beide, wie Lan WangJi zu dem Fluch zukommen war.
„Wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlierst, Jin Ling...!"
Jin Lings Gesicht war hochrot, er versuchte noch zu verarbeiten, was er gerade beiläufig erfahren hatte. All das schien zu viel für sein jugendliches Gemüt.
„Das bedeutet er... er hat tatsächlich dieses Ding... in seinen... seinen...!"
„Schweig!", befahl Jiang Cheng. „Das muss sofort aus deinem Kopf und vor allem von deinen Lippen verschwinden, Jin Ling! Ich muss dir nicht erklären was es für WangJi bedeutet, wenn so etwas vor den Kultivisten der anderen Clans öffentlich wird, oder?! Ich weiß, dass du ihn nicht leiden kannst, doch einmal im Leben wirst du schweigen müssen! Am besten bis an dein Lebensende!"
Was Jiang Cheng da von ihm verlangte, erschien Jin Ling fast unmöglich. Er war ein Plappermaul, er konnte keine Geheimnisse für sich behalten. Dennoch war er gezwungen zu nicken.
„Wenn es wirklich der vierte Fluch des Nian ist, Onkel, wie sollen wir HanGuang Jun davon befreien...? Das scheint kein gewöhnlicher Fluch zu sein..."
„Sei still und lass mich weiterlesen...!"
Jiang Chengs Finger wanderte über die aufgeschlagene Seite. Bisher hatten sie keine der Beschreibungen bis zum Ende gelesen und so erwartete Jiang Cheng, dass die Heilungsmethode zum Schluss genannt wurde. Umso erboster war er, als er auf den Beginn einen neuen Kapitels stieß. „Verfluchte Scheiße!"
Er warf das Buch in die Ecke. „Dieses Buch füllt fünfhundert Seiten mit Informationen, aber die wichtigsten fehlen! Hier steht nichts von Heilung!" Er raufte sich sie Haare. „Das einzige was wir nun erfahren haben, ist wie der Fluch heißt!"
„Was machen wir jetzt, Onkel?!"
Jiang Cheng war ratlos. Schon wieder hatten sie so viel Zeit vergeudet, die Uhr zeigte fast fünf Uhr nachmittags. Für eine Weile lief er schweigend im Zimmer herum, um zu irgendeiner Entscheidung zu kommen, doch sein erhöhter Puls machte es schwer einen klaren Gedanken zu fassen.
Er hatte furchtbare Angst um Lan WangJi, und sie wurde noch größer, als ein schmerzvoller Schrei aus seiner Richtung kam.
Erschrocken liefen Jiang Cheng und Jin Ling zum Bett. Lan WangJi wand sich hin und her. Dieses Mal hatte er keinen Alptraum, er schlief nicht. Der Schmerz hatte ihn aufgeweckt.
„Was ist mit ihm?!", rief Jin Ling, denn Lan WangJis Schmerzensschreie ließen nicht nach.
„Schnell, hol die Medikamente, geben wir ihm mehr von der Medizin! Desinfizieren wir die dunklen Stellen noch einmal!"
Jiang Cheng musste Lan WangJi festhalten, denn er zappelte so wild, dass sie kaum Hand an ihn legen konnten. Jin Ling holte die Medizin. Als der Ärmel von Lan WangJis Gewand verrutschte, trat Panik in ihre Gesichter. Auch seine Arme waren nun violett.
„Oh Gott...!" Jin Lings Hände zitterten, als er das Desinfektionsmittel auf Lan WangJis Körper auftrug. Schweißperlen bildeten sich auch auf Jiang Chengs Stirn.
„Bleib ruhig, Jin Ling...!"
„Es reicht nicht! Das Desinfektionsmittel ist schon fast aufgebraucht! Ich weiß nicht ob wir genug haben, um alle Stellen zu versorgen!", rief Jin Ling verzweifelt.
„Was ist mit der Medizin?!" Nachdem Jin Ling das Desinfektionsmittel aufgebraucht hatte, versuchte er Lan WangJi eine weitere Schüssel Medizin zu verabreichen, doch die Hälfte davon verschüttete. Lan WangJi ließ sich nicht mehr kontrollieren.
„O-Onkel, es tut mir leid...!" Er versuchte sein Missgeschick zu entschuldigen, doch Jiang Cheng schien Einsicht zu haben. Die Umstände hätten es kaum anders zugelassen.
„So kommen wir nicht weiter! Wir müssen Hilfe holen!", sagte er schließlich. Schon die ganze Zeit hatte er überlegt, ob er nach anderen Kultivisten schicken sollte, doch der Gedanke an die Konsequenzen für Lan WangJi hatte ihn aufgehalten. Sie alle würden erfahren, wie der Fluch über ihn gekommen war. Nun, da es um Leben und Tod ging, wusste er keinen anderen Ausweg. „Es gibt nur einen, der sich mit Flüchen auskennt, besser als jeder andere!"
„Der Yiling Patriarch, Wei WuXian!", schlussfolgerte Jin Ling sofort.
„Du musst ihn und die Mitglieder des Gusu Lan Clan herholen, so schnell es geht!"
„Ja! Ja, du hast Recht! Doch wie soll ich das schaffen? Es ist so weit bis Gusu...! Wird HanGuang Jun so lange durchhalten?!"
„Hör zu: Du musst zum Lotus Pier. In der Ahnenhalle gibt es eine geheime Kammer. Dort sind sämtliche Dinge verborgen, die einst Wei WuXian gehörten. Seine Flöte, das Tiger Yin Siegel..."
„D-Das Siegel...?!" Jin Ling machte große Augen.
„... auch ein telepathischer Talisman. Damit kannst du dich nach Gusu telepathieren, aber ihn einzusetzen bedeutet eine große Schwächung deiner spirituellen Kräfte. Du kannst ihn nur einmal verwenden, also konzentriere dich! Wenn du in Gusu bist, gib ihn Zewu Jun. Wei WuXian hat keinen goldenen Kern mehr, das bedeutet, er kann ihn nicht benutzen, um wieder zu uns zurück zu kehren, aber ich weiß, dass Zewu Jun einen Weg finden wird. Wenn alles nach Plan läuft, werden sie rechtzeitig hier sein... Schaffst du das, Jin Ling?!"
Jin Ling fühlte Furcht in sich aufsteigen. Er wusste nicht, ob er in der Lage war eine so wichtige Mission in die Tat umzusetzen. Sein Erfolg oder Scheitern würde Lan WangJis Leben oder Tod bedeuten. Er bebte, doch ballte schließlich die Faust.
„Ich werde es schaffen! Verlass dich auf mich, Onkel!"
Jiang Cheng seufzte. Man mochte über seinen Neffen sagen was man wollte, doch in brenzligen Situationen hatte er ihn nie im Stich gelassen.
„Du wirst hierbleiben?", fragte Jin Ling, während er in seine Stiefel schlüpfte und seinen Waffengürtel anlegte. Eigentlich musste er diese Frage nicht stellen, die Antwort von Jiang Cheng lag auf der Hand. Noch immer hielt er Lan WangJis bebende Arme fest.
„Es wäre zu gefährlich ihn jetzt allein zu lassen."
Jin Ling nickte. Er war aufbruchbereit, doch kurz bevor er das Zimmer verließ, hielt Jiang Cheng ihn auf. Auf einmal wurde her herumgedreht und fest umarmt. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah. In Jiang Chengs Augen lag ein Anflug von Sanftmut, der Jin Ling die Sprache verschlug.
„Ich... bin stolz auf dich."

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