Das Ende

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Jiang Cheng war körperlich und seelisch am Ende.
Seit Stunden lag er bei Lan WangJi und hielt ihn mit aller Kraft fest. Immer wieder gab er ihm Medizin, doch sie zeigte keine Wirkung. Jiang Cheng konnte nichts tun, außer abzuwarten und Beistand zu leisten.
Er war ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und stark ausgeprägten Armmuskeln, doch die Gewalt, die im Körper eines gefolterten steckte über Stunden in Zaun zu halten, brachte selbst ihn ins Schwitzen.
Man konnte es nicht anders nennen als Folter, mit dem einzigen Unterschied, dass das Folterinstrument nicht äußerlich sichtbar war. Es befand sich irgendwo in Lan WangJis Körper und dort dehnte er es sich unaufhörlich weiter aus.
Er wollte sich nicht vorstellen, wie es mittlerweile in ihm aussah, wenn das Monster tatsächlich seine Organe auffraß, doch er konnte jede Einzelheit dieses Leides auf Lan WangJis Gesichtsausdruck nachverfolgen.
Seine Augen, wenn sie nicht zusammengepresst waren, schienen ein trübes Nichts zu sein, sein Kopf die letzte, nicht verfärbte Stelle, doch Jiang Cheng wusste, dass auch Lan WangJis hübsches Gesicht bald in dunklem Violett versinken würde. Es kletterte bereits seinen Hals hinauf.
Jiang Cheng wusste nicht mehr, ob sein Gesicht feucht von Schweiß, Tränen oder beidem war.
Immer wieder streichelte er Lan WangJis Kopf und beteuerte alles würde gut werden, doch Lan WangJi schien ihn längst nicht mehr zu hören, zumindest glaubte er das, bis Lan WangJi zwischen all dem Stöhnen und Schreien auf einmal sehr still wurde. Seine Lippen formten die ersten Worte seit Stunden. Zuerst kam kaum etwas heraus.
„W...W..."
Jiang Cheng löste seinen festen Griff, als er spürte, dass Lan WangJis Körper nun all seine Kräfte aufgebraucht hatte. Der Schmerz mochte noch derselbe sein, doch die letzte Stufe leitete sich bereits ein und seine Glieder reagierten nicht mehr.
„Ich bin hier", flüsterte er, seine Hände glitten zärtlich über Lan WangJis zerwühltes Haar. Er sollte glauben dürfen, dass er Wei WuXian war, Hauptsache es schenkte ihm Trost in dieser ausweglosen Lage. „Ich bleibe an deiner Seite, was auch geschieht..."
Lan WangJi sah ihm fest in die Augen, als versuche er krampfhaft etwas zu erkennen. Seine Hände betasteten Jiang Chengs Schultern und Gesicht.
„Nicht weinen.", sagte er, wie bereits einige Stunden zuvor, doch es brachte Jiang Cheng erst recht dazu bittere Tränen zu vergießen.
Jin Ling, wo steckt du nur? Du müsstest schon längst da sein...! Du wirst es doch geschafft haben, oder? Komm bloß schnell... Sein Leben geht zu Ende...!
„Ich weine nicht... I-ich...", brachte Jiang Cheng hervor. „Ich bin glücklich an deiner Seite sein zu dürfen, Lan WangJi..."
„Lan WangJi...", murmelte er, etwas schien ihm wohl merkwürdig vorzukommen an diesem Namen, doch Jiang Cheng konnte sich den Grund nicht herleiten. Er dachte nicht daran, dass Wei WuXian ihn immer ‚Lan Zhan' nannte. „Ich... kann dich nicht mehr sehen...!"
„Mach dir keine Sorgen! Das alles ist... Teil deiner Heilung...! Bald wird es dir wieder besser gehen...!"
Jiang Cheng konnte seinen eigenen Worten nicht glauben, sie waren schlicht und ergreifend gelogen. Es gab keine Rettung, wenn Jin Ling nicht jeden Moment mit Wei WuXian und dem Gusu Lan Clan auftauchte.
Sein Herz schlug immer unruhiger. Er konnte nun mit eigenen Augen die rasende Geschwindigkeit verfolgen, mit der das violette Ungeheuer Lan WangJis Gesicht hinaufkletterte.
„I-Ich werde sterben, nicht wahr...?", flüsterte Lan WangJi, doch Jiang Cheng schüttelte heftig den Kopf.
„Nein...! Nein, du wirst nicht sterben!", rief er verzweifelt und drückte Lan WangJis Hand.
„Wei Ying..." Lan WangJi betrachtete ihn schwach. Jiang Cheng fühlte seine Hände sich um seinen Nacken schlingen, doch dieses Mal hielt er ihn nicht davon ab. „Ich will, dass du weißt, dass ich dich immer lieben werde... selbst nach meinem Tod... Ich werde dich immer lieben..."
Jiang Cheng konnte diese Worte kaum ertragen. Sein Kopf sank auf Lan WangJis Brust. „WangJi... Ich kann doch nicht einfach tatenlos zusehen, wie du stirbst...! Es muss doch einen Weg geben...! Was soll ich nur tun?! Ich..."
Er fuhr auf und rannte verzweifelt zu dem Buch, das noch immer in der Ecke des Zimmers lag, wo er es am Mittag achtlos hingeworfen hatte.
Hektisch begann er erneut darin herumzublättern. Seine zitternden Finger konnten kaum die Seiten richtig fassen, einige zerrissen unter seinen unkoordinierten Bewegungen.
„Dieses verfluchtes Mistding muss doch für irgendetwas gut sein! Wir können doch nicht umsonst darüber gestolpert sein!"
Plötzlich rutschte der Einband herunter. Er hatte sich bei der Kollision gelöst und schwebte nun leise, wie ein Herbstblatt, zu Boden. Aus dem Einband fiel etwas heraus, ein Notizzettel, bekritzelt mit einer Skizze und einem langen Text.
Jiang Cheng hob ihn verwundert auf. Er musste im Einband versteckt gewesen sein. Als er ihn betrachtete, stockte ihm der Atem.
„Wie man einen goldenen Kern transferiert", las er. „Von Wen Qing..."
Er verlor das Gleichgewicht, sein Rücken fiel gegen die Wand. Das Buch. Die alte Frau, die es Jin Ling verkauft hatte... konnte sie Lan SiZhuis Großmutter gewesen sein? Ein ehemaliges Mitglied des Wen Clan, das mit Wei WuXian an den Grabhügeln gelebt hatte? Sollte er nun tatsächlich Wen Qings Notizen in Händen halten, die damals entstanden waren, als Wei WuXians goldener Kern auf ihn übertragen wurde?!
„... der goldene Kern eines Kultivisten befindet sich leicht unterhalb seines Brustkorbes.", las Jiang Cheng. „Er ist etwa fünf Zentimeter groß und ähnelt äußerlich dem menschlichen Herzen. Seine Struktur ist jedoch eher wie die Vernetzung des Gehirns, ein komplexes Gefüge aus Nerven. Er verfügt über ein gewisses Bewusstsein, das jedoch nicht so stark ist, wie das des Gehirns. Es ist eher mit dem Gefühlszentrum verbunden, denn spirituelle Energie wird mithilfe von Emotionen kontrolliert.
Der Transfer eines goldenen Kernes kann somit nur zwischen Kultivisten erfolgen, die in sehr guter emotionaler Verbindung zueinanderstehen. Die Intensität dieser Verbindung hält beide Kultivisten während des Transfers am Leben. Der Austausch kann nicht zwischen Feinden erfolgen, da der goldene Kern sonst bei der Übertragung abstirbt.
Um den goldenen Kern aus dem Körper zu lösen muss ein Einschnitt mit einer spirituellen Waffe in die Haut vorgenommen werden. Er darf nicht zu tief sein, damit der Kern nicht unheilbar beschädigt wird (In seltenen Fällen kann die spirituelle Macht einer Person ausreichen, um den goldenen Kern zu zerstören, wie im Fall von Wen Zhuliu. Diese Fähigkeit ist jedoch nicht weit verbreitet).
Beide Personen müssen den Einschnitt vornehmen, damit der Prozess eingeleitet wird. Der goldene Kern wird durch das Aufrechterhalten der emotionalen Verbindung vom einen zum anderen Körper geleitet. Es ist ein langwieriger Prozess, indem beide eng verbunden bleiben müssen. Sollte auch nur eine Ablenkung stattfinden stirbt der Kern ab und der Gebende mit ihm.
Verläuft der Vorgang bis dahin reibungslos, senkt sich der goldene Kern langsam ab. Sobald er den Körper des Gebenden verlassen hat, strebt er intuitiv in Richtung des Empfangenden. Der Gebende wird im gesamten Prozess starke Schmerzen empfinden, vergleichbar mit dem Gefühl eine Gliedmaße abgeschnitten zu bekommen, während der Empfangende ein andauerndes Brennen verspürt, bis der Kern vollständig eingedrungen ist.
Sobald der Kern den Empfangenden erreicht hat, werden beide Körper sich automatisch versiegeln.
Der Körper des Gebenden wird für eine Weile geschwächt sein, während der Körper des Empfangenden von der Energie des neuen goldenen Kerns geflutet und optimiert wird.
Der Empfangende wird in den ersten Tagen nach der Transferierung einen Drang nach Bewegung verspüren und sich wie neu geboren fühlen.
Die Transferierung des goldenen Kerns wurde am Beispiel Wei WuXian und Jiang Cheng des Yunmeng Jiang Clan vorgenommen. Die Überlebenschance stand bei fünfzig Prozent."
Jiang Chengs Kopf war leer. Er sank zu Boden und ließ den Zettel fallen.
Wei WuXian... ist es wahr? Kann der goldene Kern nur zwischen Menschen übertragen werden, die eine tiefe Beziehung zueinander haben? Aber du bist mir egal...! Ich kann dich nicht einmal leiden! Wieso hat es dann funktioniert...?!
Während er das dachte wanderte seine Hand zu der Stelle unter seinem Brustkorb, wo er den goldenen Kern vermutete. Ob man ihn mit den Händen ertasten konnte?
Er war kaum über all dies hinweg, da kam ein leidvolles Stöhnen aus Lan WangJis Richtung. Jiang Cheng zögerte nicht. Wenige Sekunden später erschien er an Lan WangJis Bett.
„Nein...!", schrie er, als er Lan WangJis Gesicht sah. Nun konnte man ihn definitiv nicht mehr erkennen. Alles war violett, bis auf sein linkes Auge. „WangJi!" Er zog Lan WangJis Kopf in seine Arme und schluchzte. „Jin Ling, du elender Verräter! Ich habe dir vertraut! Ich dachte du würdest kommen! Aber niemand wir uns helfen! Wir sind verloren!"
Hastig nahm Jiang Cheng das nun merkwürdig fremde Gesicht in beide Hände.
„Du bist nicht dieses Monster...! Du bist nicht dieser Fluch...! Du bist immer noch WangJi... mein WangJi...!" Seine Tränen strömten über Lan WangJis Gesicht.
„WangJi...", wiederholte Lan WangJi.
Jiang Cheng bebte.
„Ich lasse dich nicht sterben...! Ich gebe dich nicht auf...!", rief er, seine zitternde Hand fuhr zur rechten Seite des Bettes, wo sein Schwert lag.
Er führte die Klinge zu seiner Brust. Er hatte nur eine Chance. Er biss sich auf die Zähne, während Sandus Schneide in seine Haut drang. Blut strömte hervor.
„Vertraust du mir...?", flüsterte er Lan WangJi zu, der zu ihm aufsah. „Es wird nur noch einmal weh tun... dann ist alles vorbei...!"
„Ich... vertraue dir...", brachte Lan WangJi hervor.
Mit einer Hand hielt Jiang Cheng Lan WangJi fest, mit der anderen führte er den gleichen Schnitt aus, den er auch bei sich gemacht hatte. Für Lan WangJi war der Einschnitt nur eines von vielen Leiden der vergangenen Stunden.
Jiang Chengs Körper sank auf Lan WangJis. Beide Einschnitte lagen genau übereinander.
„W...was geschieht mit... mit uns?!", wimmerte Lan WangJi, er spürte bereits den Sog zwischen ihm und Jiang Cheng.
Jiang Cheng befand sich ihm ganz nah, ihre Nasenspitzen berührten sich fast.
„Lan WangJi... was auch passiert... du darfst mich nicht hassen. Hast du verstanden?", flüsterte er. Er wusste, dass er seine Tarnung nicht länger aufrechterhalten konnte, sobald Lan WangJi seinen goldenen Kern spürte. „Wenn du anfängst mich zu hassen werde ich dich nicht mehr retten können...! Verstehst du...?"
„I-Ich... Ich habe dich nie gehasst...!"
Und so geschah es.
Lan WangJi ließ sich nicht mehr aufhalten. Er wusste genauso wie Jiang Cheng, dass er sterben würde, doch nicht ohne einen Kuss von dem Mann, den er über alles liebte. Seine Lippen schlugen gegen Jiang Chengs, heiß von Fieber und feucht von Speichel. Jiang Cheng hätte sich noch zurückhalten können, wenn es irgendeine Form von Vorwarnung gegeben hätte, doch mitten im Kuss, war es zu spät.
Von Lan WangJi geküsst zu werden war ein ewig anhaltender, quälender Traum, der nun endlich, am Rande von Leben und Tod zur Wahrheit wurde und auf einmal spielte nichts mehr eine Rolle, nicht einmal, dass er so merkwürdig entstellt und am ganzen Körper violett war.
Seine Liebe brannte wie Feuer.

The SecretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt