Lebendig

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Der Saal verwandelte sich in ein wildes Kampfgetümmel, als auch die Wachen des Koi Turms zu ihnen hineinstürmten. Während Lan WangJi und Wei WuXian mit Jin GuangYao hoch oben kämpften, beschäftigten sich Jiang Cheng und Jin Ling am Boden mit Jin ZiXun, Su She und den Wachen.
Jiang Cheng war beeindruckt von Jin Lings Fähigkeiten, selten hatte er ihn bisher in einer Kampfsituation erlebt, doch der Junge war kräftig, seine Attacken brachten die Wachen leicht ins Schwanken. Jin Ling gehörte nicht zu den schmächtigen Teenagern, seine Arm und Bein Muskulatur war gut trainiert. In Windeseile hatte er zehn Wachen zu Fall gebracht, die anderen nahm sich Jiang Cheng vor. Als ihm der Schwertkampf zu schwerfällig wurde, stieg er auf seine blanken Fäuste um, und tatsächlich: die Methode funktionierte wie er es sich vorgestellt hatte. Nachdem die Wachen bewusstlos am Boden lagen, blieben nur noch Jin ZiXun und Su She übrig.
„Du übernimmst Su She!", sagte Jiang Cheng und stürzte sich auf Jin ZiXun.
„Aber Onkel-!"
Jin Ling wollte ihn aufhalten, den Jin ZiXun war eindeutig der schwierigere Gegner von beiden. Sein Level der Kultivierung war hoch, wenngleich es unter normalen Umständen unter Jiang Chengs lag. Hätte er über die Macht von Zidian verfügt wäre er ein Kinderspiel für Jiang Cheng gewesen, doch nun waren die Voraussetzungen anders.
„Wo ist dein Schwert, Wanyin? Machst du einen auf Wei WuXian?", provozierte Jin ZiXun.
„Halt die Klappe, Jin ZiXun! Du kannst nicht mal mit einem Schwert umgehen!"
Jiang Cheng griff ihn an, doch seine Attacken funktionierten nicht so gut wie bei den Wachen. Jin ZiXun stieß ihn zurück und schmetterte ihn zu Boden.
Hoch oben wand Lan WangJi den Kopf zu ihnen, doch er konnte nicht weg. Sie hatten Jin GuangYao umzingelt, Lan WangJi bedrohte ihn von links, Wei WuXian kam von rechts.
„Was ist das für ein Ding an Eurer Hand, Jin GuangYao? Ob ich es mal halten dürfte?", fragte Wei WuXian bedrohlich. „Am besten Ihr überreicht es mir ohne Widerrede... Ihr sitzt bereits in der Falle!"
Jin ZiXun beugte sich nun zu Jiang Cheng hinunter und begann ihm ins Gesicht zu schlagen.
„Onkel, halte durch! Ich bin gleich bei dir!", rief Jin Ling, doch Su She beschäftigte ihn sehr. Lan WangJi hörte Jin Lings Schreie. Wieder wandte er den Blick nach unten. Jin GuangYao spürte seine Unsicherheit. Wei WuXian, der vor ihm stand, konnte nichts aus der Fassung bringen, doch das Herz hinter ihm klopfte laut. Blitzschnell drehte er sich um und stieß Lan WangJi in die Tiefe.
„Lan Zhan!", rief Wei WuXian, doch Lan WangJi war bereits auf BiChens Klinge gesprungen. Anstatt wieder zu ihm hinaufzuklettern, steuerte Lan WangJi zielstrebig nach unten.
Was tut er da...? fragte sich Wei WuXian und während er weiter mit Jin GuangYao kämpfte folgten seine Augen dem weißen Gewand.
Jin ZiXun spuckte in Jiang Chengs blutiges Gesicht. „Schon so lange warte ich auf die Gelegenheit dich fertig zu machen, Jiang Wanyin, du elender Ärmelabschneider!" Die Klinge seines Schwertes legte sich auf Jiang Chengs Brust. „So arrogant bist du gewesen... und nun sieh dich an! Du liegst vor mir wie ein Stück Dreck!"
„Jin ZiXun... warum hegst du so einen Groll gegen mich?!"
„Wagst du es ernsthaft zu fragen, Mistkerl?!" Die Klinge drückte sich durch Jiang Chengs Uniform und berührte seine nackte Haut. „Wo warst du als wir damals deine Hilfe gebraucht haben?! Als die Bedrohung an den Grabhügeln, dem Dafan Gebirge oder anderen Orten Oberhand nahm?! Wir haben auf deine Truppen gewartet, doch du hast einfach den Schwanz eingezogen! Du hast stets nur deinem eigenen Reich gedient... der Zustand der Welt war dir egal...!"
„Ich diene nicht Jin GuangYao, dem Verbrecher! Nicht in hundert Jahren! Töte mich, wenn es dir damit besser geht, doch das wird meine Meinung nicht ändern!"
„Du hast es so gewollt!"
Jin ZiXuns Schwert sauste auf Jiang Cheng nieder, doch kurz bevor es sich vollständig absenken konnte – Jiang Cheng hatte bereits die Augen zusammengekniffen – hielt er inne. Seine Augen wurden starr. Blut tropfte aus seinem offenen Mund.
Eine silberblaue Klinge hatte sich durch seinen Körper gebohrt. Er sackte leblos zu Boden.
Lan WangJis schlanke Gestalt tauchte vor Jiang Cheng auf, sein Gesicht kühl und unversehrt. Er ließ BiChen mit einer eleganten Bewegung zurück in seine Scheide verschwinden und beugte sich zu Jiang Cheng.
„WangJi...", sagte Jiang Cheng sanftmütig, er versuchte sich zu erheben, doch seine Brust schmerzte. Lan WangJi nahm ihn an den Schultern, holte ein Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte das Blut von seinem Gesicht.
„Sei vorsichtig...", sagte Lan WangJi. „du kannst nicht kämpfen wie zuvor..."
Wei WuXian war verwirrt über die Szene, der Kampf mit Jin GuangYao beinahe zur Nebensache geworden.
Seit wann versteht sich Lan Zhan so gut mit meinem Bruder...? Er wäre ihm früher nie zu Hilfe geeilt.
Jin GuangYao nutzte Wei WuXians Unaufmerksamkeit aus. Die rote Energie aus dem Handschuh schoss auf ihn zu und schleuderte ihn gegen die Wand.
Lan WangJi wandte erschrocken den Kopf. Sofort brach er auf, um Wei WuXian zu Hilfe zu eilen und wie Jiang Cheng zuvor, fing er nun Wei WuXian auf. Wei WuXian stellte eine merkwürdige Parallele fest, doch war vor allem froh wieder in Lan WangJis Armen zu liegen.
Jin GuangYao hatte jetzt die Macht von oben anzugreifen und er hätte es getan, wäre in diesem Augenblick nicht ein weiterer im Raum erschienen, dessen Auftreten alle Anwesenden überrascht verstummen ließ. Jin Ling und Su She pausierten ihren Kampf, Lan WangJi setzte Wei WuXian auf den Boden, Jiang Cheng rappelte sich auf und Jin GuangYao kehrte langsam zum Boden zurück.
„Was ist hier los...?", fragte Lan XiChen. Sein geordnetes Auftreten wirkte inmitten des allgegenwärtigen Chaos völlig fehl am Platz. Seine Augen wanderten bestürzt über den zugerichteten Raum. Überall lagen Steinbrocken und Blut.
„WangJi...!", rief Lan XiChen. Er hatte seinen Bruder erblickt, doch gerade als er auf ihn zugehen wollte, drängte sich Jin GuangYao in den Vordergrund. Aufgelöst lief er zu Jin ZiXun, der am Boden lag und sich nicht mehr rührte.
„ZiXun, ZiXun!" Er versuchte eine Herzmassage, doch es war zwecklos. Jin GuangYaos Kopf färbte sich rot, seine Augen wurden glasig. Übermäßig emotional warf er sich über Jin ZiXuns Körper und begann zu schluchzen.
Wei WuXian verdrehte die Augen. Jeder, der Jin GuangYao einigermaßen gut kannte, musste durchschauen, was er hier inszenierte, doch Lan XiChen eilte besorgt zu ihm.
„Er ist tot!", brachte Jin GuangYao hervor und wischte sich über sein tränenverschmiertes Gesicht. „Wie konnte das nur geschehen...?!"
Lan XiChen legte die Hand auf seine Schulter. „Es tut mir so leid, Meng Yao...! Ich wusste nicht was hier vorgeht, sonst hätte ich eingegriffen!"
„Es ist nicht deine Schuld, XiChen... Es hat so kommen müssen. Wei WuXian glaubt ich wolle seine Hochzeit verhindern...! Eine Reihe von Zufällen hat sich ergeben, die ihn wohl zu dieser Annahme verleitet haben. Ich kann es ihm nicht verübeln..."
Wei WuXian ballte die Fäuste, sein Inneres brodelte. Lan WangJis kühle Hand legte sich um seine Handgelenk. Als ihre Blicke sich trafen, schüttelte er den Kopf.
„Zewu Jun!", rief Jiang Cheng und verbeugte sich. „Es besteht allerhand Grund zur Annahme, dass Jin GuangYao die Hochzeit von Wei WuXian und HanGuang Jun verhindern wollte!"
Jin Ling schaltete sich ein. „Das stimmt! Er hat Xue Yang auf mich gehetzt, damit ich Euch nicht zu Hilfe hole! Er wollte, dass HanGuang Jun stirbt!"
„Wieso sollte ich so etwas wollen!?", rief Jin GuangYao. „Ich habe Xue Yang beauftragt, das ist wahr! Doch nicht um jemanden zu töten! Er sollte lediglich ein paar Dinge in Yiling für mich erledigen, genauso wie Jin ZiXun es für mich tut! Ich wollte ihm noch eine Chance geben, denn er war einmal ein guter Freund von mir! Was dann geschah konnte ich nicht wissen...!"
Jiang Cheng biss zornig die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er dem trügerischen Jin GuangYao sofort den Gar ausgemacht.
Wei WuXian beobachtete alles mit wachsender Neugier und sog jedes Wort in sich auf.
„Lan Zhan... was ist auf deiner Reise passiert?", fragte er verwundert, doch Lan WangJi antwortete nicht.
Lan XiChen half Jin GuangYao auf, dann warf er anklagende Blicke zu den Umstehenden.
„Wer ist für Jin ZiXuns Tod verantwortlich?!"
Alle Anwesenden schwiegen, ihre Augen schweiften zu Lan WangJi. Sein Ausdruck blieb unnahbar und gefasst. Er wirkte wie ein winterlicher Berggipfel. Lediglich sein Adamsapfel sprang auf und ab. Dann trat er vor.
Lan XiChens Augen weiteten sich ungläubig. Er hatte Lan WangJi sehr vermisst, den Augenblick seiner Rückkehr ungeduldig erwartet, doch nun, da er vor ihm stand und solch eine Sache geschehen war, konnte er keine Wiedersehensfreude empfinden.
Während Lan WangJi so still dastand, dass man ihn für eine Statue halten konnte, näherte sich Lan XiChen, seine Augen voll Trauer und Entsetzen.
„Wie konntest du so etwas tun?! Es gibt andere Methoden einen Kultivisten kampfunfähig zu machen! Du hättest ihn nicht gleich töten müssen!"
„Hätte ich es nicht getan wäre Jiang Wanyin getötet worden", erklärte Lan WangJi. „Es gab keinen anderen Weg."
Jiang Cheng wandte sich in Lan WangJis Richtung. In seinen Augen lag ein tiefer Schmerz und eine ebenso tiefe Zuneigung, die niemand bemerkte, außer Wei WuXian.
„Jiang Wanyin ist einer der besten Kultivisten des Landes! Jin ZiXun ist im Vergleich deutlich unterlegen!", entgegnete Lan XiChen. „Es war völlig unnötig sich in diesen Kampf einzumischen!"
Lan WangJi hätte widersprechen müssen, doch er konnte nicht vor allen Anwesenden erwähnen, dass Jiang Cheng seinen goldenen Kern nicht mehr besaß. Er blickte streng gerade aus.
„Als ich mich näherte, ist Jin ZiXuns Klinge bereits in Jiang Wanyins Brust eingedrungen. Ich durfte nicht zögern."
Daraufhin schallte eine Ohrfeige durch den Raum, die den Zuhörern ein erschrockenes Seufzen entlockte.
„Hat dich der Gusu Lan Clan so etwas gelehrt?!" Lan XiChens Stimme bebte. „Wie kann es sein, dass dich ein paar Monate Abwesenheit vom Unterricht zum kaltblütigen Mörder gemacht haben?!"
„Zewu Jun! Ich habe die Szene beobachtet!" Wei WuXian meldete sich zu Wort. „HanGuang Jun hatte tatsächlich keine Chance die Situation anders zu lösen! Jiang Wanyin lag bereits schwer verwundet am Boden!"
„Ist das wahr?" Lan XiChens Augen richteten sich nun in Jiang Chengs.
„Es ist wahr.", sagte Jiang Cheng schwermütig. „In den letzten Wochen habe ich wenig trainiert. Meine Kondition hat sich verschlechtert. Ich war nicht bereit für diesen Kampf. Es ist meine Schuld, dass es so kam, nicht HanGuang Juns."
Lan WangJi betrachtete Jiang Cheng nun mit dem gleichen schmerzvollen Ausdruck, mit dem ihn Jiang Cheng zuvor angesehen hatte. Tränen schienen sich in Jin Lings Augen zu sammeln.
Wei WuXian versuchte sich diese emotionale Stimmung zu erklären, doch fand keine Hinweise.
„Was hier geschehen ist, lässt sich kaum wieder gut machen", sagte Lan XiChen. „doch mein Bruder ist nicht der einzig schuldige am heutigen Tag! Lan Long Hun! Du bist ohne das Einverständnis des Gusu Lan Clan zum Koi Turm aufgebrochen, um die Mitglieder des Lanling Jin Clans zu bedrohen! Du solltest die Regeln mittlerweile kennen und doch hast du sie missachtet!"
„XiChen, siehst du nicht was hier vorgeht?!", rief Wei WuXian, allmählich hielt er es nicht mehr aus. Lan XiChens Leichtgläubigkeit was Jin GuangYao anging war kaum zu übertreffen. „Er führt dich an der Nase herum! Ich bin hergekommen, weil er versucht hat meine Hochzeit zu boykottieren! Als ich eintraf verhörte er Xue Yang, Jin ZiXun und Su She! Sie alle hatten den Auftrag Lan Zhan davon abzuhalten nach Gusu zurückzukehren! Er interessiert sich nicht dafür, ob es der Welt gut geht! Er will nur seine Vorherrschaft bewahren! Wenn ich Lan Zhan heirate, sind wir eine große Bedrohung für ihn!"
Lan XiChen hielt einen Momentlang inne, als würde er Wei WuXians Worte überdenken. Wei WuXian bemerkte sein Zweifeln und versuchte ihm weitere Anhaltspunkte zu liefern.
„Du erinnerst dich noch an das Mädchen? ZhiRuo – hatte sie nicht eine seltsame Vorgeschichte? Ein humpelndes Mädchen, das vom Lanling Jin Clan zum Gusu Lan Clan wechselt, um dort ihr verschwendetes Potenzial auszuschöpfen.", sagte Wei WuXian. „Sie kann weder Bogen schießen noch auf einer Guqin spielen, weißt du auch wieso? Weil sie von Jin GuangYao und Nie Huaisang eingeschleust wurde! In Wirklichkeit ist sie eine Prostituierte, die mich um den Finger wickeln sollte!"
Lan WangJi drehte schockiert den Kopf zu Wei WuXian. Um die aufkommende Eifersucht in seinen Augen zu besänftigen, fügte Wei WuXian in einem verspielten Tonfall hinzu: „Natürlich haben ihre Annäherungsversuche bei mir nicht funktioniert, da ich mich nur von einer Person verführen lasse..."
Nun färbten sich Lan WangJis Wangen rosa und er wandte ein wenig verschämt, doch zufrieden, den Blick ab.
„Meng Yao, was sagst du zu diesen Anschuldigungen?", fragte Lan XiChen nun Jin GuangYao, der sich hinter ihm kleiner zu machen versuchte. Seine Hände waren um Lan XiChens Ärmel geschlungen.
„Eine Prosituierte?", rief Jin GuangYao erschüttert. „Ich habe diesem Mädchen vertraut! Wie konnte sie mich so hintergehen!" Er drückte sich an Lan XiChens Brust. „XiChen, ich halte es nicht mehr aus! Ich würde jetzt gern allein sein und meiner Trauer freien Lauf lassen... das ist alles zu viel für mich...!"
„Schon gut..." Lan XiChen streichelte sanft seine Schulter. „Ich werde sie bitten zu gehen. Für den Schaden, der dir entstanden ist, werden wir natürlich aufkommen..."
Wei WuXian seufzte und schüttelte den Kopf. Er hatte bereits mitgehört, was zwischen Lan XiChen und Jin GuangYao besprochen worden war. Gemeinsam mit Lan WangJi lief er zum Ausgang.
Aus dem Augenwinkel sah er Jin Ling auf Lan XiChen zugehen. Er verbeugte sich nervös.
„Herr Zewu Jun, wenn Ihr einen Moment Zeit habt, möchte ich Euch alles erklären! Ihr müsst wissen: ich war dabei!"
„Sicher, Jin Rulan, aber ich werde noch eine Weile bei Clanführer Jin GuangYao bleiben. Wenn du noch ein wenig Zeit hast, besuche mich später in meinem Audienzzimmer."
Obwohl Lan XiChens Worte höflich klangen, so waren sie doch nur seine Art zu sagen, dass er für die Wichtigtuerei eines Teenagers gerade keine Zeit hatte.
Jiang Cheng packte Jin Ling an der Schulter, um ihn von Lan XiChen wegzuziehen.
„Du wirst den Mund halten.", raunte er. „Ich gehe zu ihm."
„Willst du das mit HanGuang Jun richtigstellen? Mann, das mit der Ohrfeige war schon ein wenig erschreckend... Ich dachte sie sind Brüder, wieso sind sie so hart zueinander? HanGuang Jun muss sich vor den anderen geschämt haben..."
„So ist der Lan Clan. Disziplin geht über alles. Sie haben noch andere Methoden. Aber lass uns nicht davon sprechen... Ich bin froh diese Zeit überstanden zu haben."
„Du denkst nicht darüber nach eines Tages in den Gusu Lan Clan einzuheiraten?" Jin Ling gluckste, doch Jiang Cheng nahm diese Aussage nicht als Scherz auf.
„WangJi sollte mit mir zum Lotus Pier kommen... dort lässt es sich besser leben."
Ein merkwürdiges Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Seine Augen folgten der weiß gekleideten Gestalt, die einige Meter vor ihm lief.
„Du hast es also immer noch nicht aufgegeben..." Jin Ling schüttelte seufzend den Kopf. „Naja, was soll's! Ich werde dich noch eine Weile träumen lassen. Sobald wir nachhause gehen ist ohnehin alles vorbei."
Jiang Cheng schüttelte gedankenverloren den Kopf.
„Nein...", sagte er leise. „Es ist niemals vorbei."

Wei WuXian und Lan WangJi gingen nebeneinander her während die Sonne hinter den Bergen verschwand. Das rote Abendlicht legte sich wie ein Kupferschleier über Lan WangJis Haar und brachten die Steine seines Oberteils zum Glitzern. Wei WuXian hielt Lan WangJis Hand. Seine Augen wanderten fasziniert über seine graziöse Gestalt.
„Du siehst wunderschön aus.", sagte er, ein wenig verträumt. So oft hatte er dies von Lan WangJi gedacht, selbst in Momenten, als er nicht so königsgleich hergerichtet war. „Wo hast du dieses Kleid her?"
„Es ist eine lange Geschichte.", erwiderte Lan WangJi, Wei WuXians Kompliment machte ihn ein wenig verlegen.
„Ich will sie hören, jedes Detail.", sagte Wei WuXian. „Du hast mir sehr gefehlt."
Lan WangJi drückte Wei WuXians Hand und entgegnete leise „Du mir auch..."
„Wie ist es gelaufen mit meinem Bruder? Du warst ewig fort! Ich habe den Eindruck ihr seid sogar Freunde geworden..."
Bei diesen Worten schien er Lan WangJis Gesichtsausdruck genau zu analysieren, doch er zeigte keine merkliche Veränderung, nichts das Misstrauen erweckte.
„Es war nicht einfach... doch ich konnte seine Zustimmung gewinnen."
Diese Worte brachten Wei WuXian aus der Fassung. Er blieb stehen, sein Gesicht wurde hell wie die Sonne. Ein Lachen bildete sich in seinem Gesicht und plötzlich sprang er auf Lan WangJi zu, direkt in seine Arme, und sie wirbelten ein paar Mal im Kreis herum.
Lan WangJi war überrumpelt, doch er ließ sich von Wei WuXians Freude anstecken.
„HanGuang Jun, wie gemein du bist mir etwas so Wichtiges nebenbei zu erzählen! Wann hättest du mir davon berichtet, wenn ich nicht selbst darauf gekommen wäre, hm? Du bist so ein Geheimniskrämer!"
Lan WangJi musste unweigerlich lächeln und beschloss Wei WuXian noch eine Weile im Arm zuhalten und zu tragen, während Wei WuXian die Hände um seinen Nacken schlang.
„Es wird also geschehen... wir werden heiraten... niemand kann uns aufhalten! Nicht mal Jin GuangYao."
„Nicht mal Jin GuangYao.", wiederholte Lan WangJi zufrieden.
„Ich wusste, dass du es schaffst, Zhan Zhan-Gege...", flüsterte Wei WuXian und knabberte an Lan WangJis Ohr. Lan WangJi zuckte zusammen.
„Wei Ying... nicht vor den anderen...!" Lan WangJi wurde rot.
„Wieso nicht? Wir haben doch nichts mehr vor ihnen zu verbergen, oder? Sie wissen längst, was zwischen uns ist, wieso also ein Geheimnis daraus machen?" Seine Zunge glitt in Lan WangJis Ohr. „Ich muss dir nicht sagen, wie sehr ich dich vermisst habe, oder...? Was ich mir alles ausgemalt habe mit dir zu tun, wenn du erst wieder da bist, Zhan Zhan..."
Lan WangJi erschrak so sehr über die Berührung und den erotischen Tonfall, dass er Wei WuXian fallen ließ. „D-Du kannst es mir später erzählen!", rief er überfordert.
Wei WuXian lachte.
„Du hast dich kein Bisschen verändert seit deiner Abreise!" Er nahm Lan WangJis Hand. „Ich bin so froh... Ich hatte Sorge, dass du vielleicht anders sein würdest, oder dass du jemanden kennenlernen könntest, der dich mir wegnimmt..."
Lan WangJi fühlte wie eine kalte Hand sich um sein Herz legte und langsam zudrückte. Er spürte, dass er etwas sagen musste, etwas um nicht nur gegenüber Wei WuXian, sondern auch gegenüber sich selbst ehrlich zu sein.
Gerade als die ersten Worten seine Lippen verlassen wollten, tauchte eine fremde Gestalt vor ihnen auf.
Langes, lockiges Haar schimmerte im Abendrot, ein makelloses, etwas rundlich erscheinendes Porzellangesicht mit roten Wangen und Lippen erschien. Der junge Mann trug ein schwarzes Seidengewand, an seinem Ledergürtel steckten zwei Dolche.
„Wen Ning! Was machst du denn hier?!", rief Wei WuXian. „Wieder auf Nachtjagd?"
Lan WangJi machte große Augen als der Name fiel und blickte den Jungen erneut an. Er konnte diese Veränderung kaum nicht begreifen. Er sah lebendig aus, nichts wies daraufhin, dass er jemals tot gewesen war...
„Das... ist unmöglich...!", brachte Lan WangJi hervor.
Wen Ning verbeugte sich lächelnd.
„HanGuang Jun! Ich hörte, dass Ihr wieder in der Gegend seid und bin gekommen, um Euch Guten Tag zu sagen!" Er blickte an sich hinunter und wurde ein wenig schüchtern. „Ja, ich bin wieder ein Mensch! Merkwürdig, oder? Ich muss mich selbst noch daran gewöhnen, dass ich wieder essen und schlafen muss... Es fühlt sich komisch an, wenn man das all die Jahre nicht tut."
„Du siehst gut aus.", sagte Lan WangJi. „Ist es vielleicht wegen A-Yuan...?"
Wei WuXian nickte. „Es fing damit an, dass Wen Nings Herzschlag wiedereinsetzte, dann vergoss er Tränen, er konnte wieder lachen... und irgendwann kehrten auch all die anderen Dinge zurück."
„Wie genau es geschehen ist, wissen wir nicht, nur, dass es mit A-Yuan zu tun hat.", sagte Wen Ning. „Immer wenn ich in seiner Gegenwart war, hat sich etwas in mir verändert."
Wei WuXian klemmte Wen Nings Kopf zwischen Ellenbogen und Handgelenk und begann mit ihn herumzualbern. „Natürlich weißt du, wie es geschehen ist, Wen Ning, du kleiner Herzensbrecher...!"
„Meister Wei, bitte lass mich los!"
Sie setzten ihren Weg ins Wolkennest gemeinsam fort.

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