36. Kapitel

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Das Ende ist nah. Es wird kommen mit Feuer und Rauch, mit sprühenden Funken und glühender Asche. Mit dem Tod. Mit Verrat. Mit Kampf und Zerstörung. Mit Verlust und verlorenem Verstand.

Säbelauge fand keine Ruhe. Immer wieder wälzte er sich in seinem Nest herum, taub für die schreienden Katzen um ihn herum. Sie verstehen nicht, dachte er verzweifelt. Sie verstehen nicht, was passieren wird. Egal, welche Entscheidung sie treffen: Sie bedeutet den Untergang. Wissen sie denn nicht, was passiert, wenn eine einzige Katze alle Mächte in sich vereint?

»Sternenpfote hat den EisenClan verlassen! Es geht uns nichts an, wenn er in Gefahr ist!«, hörte er die Stimme des Streuners. Seinen Namen hatte er vergessen. Warum führt er sich so auf als wäre er Luchsstern? Wo ist er? Wo ist der, der die Macht des Lichts in sich getragen hat? Die Macht, alle Lügen zu erkennen? Er hat diese Macht an seine Tochter weitergegeben. Und wo ist sie? Wo ist sie hin?

Säbelauge hievte sich auf die Pfoten. Die Knochen knackten. Mit den Augen rollend schleppte er sich aus der Dornenhecke. Verwirrt hielt er inne. Warum bin ich im Ältestenbau? Ich müsste im Kriegerbau sein. Einmal Goldkralle, immer Goldkralle. Er schüttelte den Kopf. Ich bin nicht mehr Goldkralle, der anmutige Kater, der den legendären Sonnenherz ausgebildet hat. Ich bin Säbelauge, der Verrückte.

Die Katzen standen um den Streuner versammelt. Angelegte Ohren. Peitschende Schwänze. Gesträubte Pelze. Eine Kätzin, deren Gesichtshälfte schrecklich entstellt war, war ganz vorne. Neben ihr Mondblick und Sonnenherz. Warum ist mein Schüler noch nicht wahnsinnig? Hat er noch niemandem seine Tricks beigebracht? Ist er Schwarzherz und Weißblick noch nicht begegnet?

Er ist jetzt ein anderer, erinnerte er sich. So wie Mondblick ein anderer ist. Aber Sonnenherz weiß es noch nicht. Er weiß noch nicht, wer er einst war.

Völlig entkräftet stolperte Säbelauge auf seinen früheren Schüler zu. Er muss es wissen. Warum habe ich es ihm nicht früher gesagt, als er neues Moos gebracht hat? Warum habe ich geschwiegen? Aber er kannte den Grund für sein Schweigen. Was, wenn Sonnenherz jetzt immer noch wahnsinnig ist? Was, wenn ich mit meiner Offenbarung das Leben seiner Wiedergeburt zerstöre?

Die Katzen wichen vor ihm zurück. Sie wichen immer zurück. Er spürte den Blick von Sonnenherz' Schwester auf sich. Sie ahnte nicht, was er vorhatte. So rein wie ihr Herz früher gewesen war, so schwarz war es nun. Sie würde ihn eher töten als dass er allen offenbarte, warum im EisenClan keine Jungen geboren werden konnten. So wie sie ihren Bruder gehasst hatte, so liebte sie ihn doch dafür, dass er sie von seinem Fluch ausgenommen hatte.

»Sonnenherz«, krächzte Säbelauge. »Sonnenherz, wach auf. Du musst aufwachen.«

Die Katzen wichen zurück.

»Er erinnert sich wieder an Sonnenherz' Tod«, sagte jemand.

»Der Grüne Husten hat damals viele Leben geraubt«, ein anderer.

»Sonnenherz ist nicht tot!«, jaulte Säbelauge so laut er konnte und zwang seine Augen dazu, nur in Richtung des Schülers zu blicken. »Dort steht er!«

»Was?« Der Schüler riss erschrocken die Augen auf. Das hatte Sonnenherz auch immer getan.

»Er hat wieder einen seiner Anfälle«, erhob sich die Stimme der Katze mit dem ehemals reinen Herzen. »Er hat Flugglanz auch erst vor Kurzem in der Kinderstube belästigt. Weidenstern, erlaube mir, ihn aus dem Lager zu führen, damit er die Versammlung nicht stört.«

»Tu das«, bestätigte der Streuner.

»Nein!« Säbelauge stolperte von Himmelschatten weg. »Nein! Sie will mich töten!«

»Wie kommst du denn auf solche Ideen?«, fragte Sonnenherz' Schwester gespielt überrascht. »Ich werde dir nichts tun. Wir gehen nur zusammen spazieren. Komm mit.«

Wie ein Junges packte sie ihn am Nackenfell und schleppte ihn aus dem Lager hinaus. Säbelauge ließ es über sich ergehen. Er hatte keine Kraft mehr. Einfach keine Kraft mehr... In der Nähe des Buchenhains ließ sie ihn fallen. Es war die Stelle, an der Sonnenherz sich damals immer mit Schwarzherz und Weißblick getroffen hatte.

»Erkennst du diesen Ort?«, fragte Himmelschatten.

Säbelauge schloss die Augen, um die alten Erinnerungen wachzurufen.

Sonnenherz' Schnelligkeit. Seine Pfoten – überall. Schwarzherz und Weißblick, die ihm nicht glaubten, dass er das konnte. Sonnenherz' Ehrgeiz, es ihnen zu beweisen. Seine Entschlossenheit. Bei keinem anderen Schüler hatte Säbelauge so viel Entschlossenheit und Ehrgeiz gesehen. Doch jedes Mal, wenn er glaubte, es Schwarzherz und Weißblick bewiesen zu haben, forderten sie mehr. Bis er ihnen alles gezeigt hatte, was er konnte. Aber das war nicht genug. Sie wollten mehr wissen, mehr sehen...

Sonnenherz' Verzweiflung. Er hatte die Grenzen des Möglichen erreicht. Er konnte nicht besser werden. Doch Schwarzherz und Weißblick lachten nur. Zeigten ihm die Tricks, die er ihnen zuvor beigebracht hatte. Er war nichts Besonderes mehr. Er wurde alt. Aber es gab andere Katzen, jüngere. Sie würden besser sein als er. Schneller, stärker, mutiger, entschlossener, ehrgeiziger...

Sonnenherz' Fluch. Schwarzherz und Weißblick redeten ihm ein, dass er etwas tun müsste, um für immer der Beste zu bleiben. Um für immer eine Legende zu sein. Er ging in die Himmelberge. Zu dem alten Schamanen. Er ließ den EisenClan verfluchen. Es würde niemanden mehr nach ihm geben, der genauso schnell, stark, mutig, entschlossen und ehrgeizig war wie er. Als er zurückkehrte, waren alle Jungen gestorben. Und nach ihnen würde es keine weiteren mehr geben.

Sonnenherz' Wahnsinn. Er lachte nur leise. Stiftete den EisenClan dazu an, gegen den EichenClan in den Krieg zu ziehen, um auch die letzten, die ihm ebenbürtig waren, zu vernichten. Schwarzherz und Weißblick starben durch seine Pfoten. Viel Blut war geflossen. Zu viel. Doch Sonnenherz lachte nur. Und der EisenClan trauerte und sperrte ihn in den Ältestenbau, wo er nur weiter seinen Verstand verlor.

Säbelauge fuhr aus seinen Erinnerungen hoch und schaute Himmelschatten traurig an. »Er war nicht immer so. Er hat dich geliebt. Er hat dich von dem Fluch ausgeschlossen.«

»Er war zu ehrgeizig und selbstverliebt«, fauchte Sonnenherz' Schwester. »Er wollte immer der Beste sein und ist schließlich daran gescheitert. Dafür habe ich ihn gehasst. Wenn du ihm als sein Mentor Einhalt geboten hättest, wäre das alles nicht passiert.«

»Ich konnte nicht.«

Himmelschatten nickte stumm und fuhr die Krallen aus. »Ich werde nicht zulassen, dass du Sonnenherz dazu bringst, sich zu erinnern. Er ist unberechenbar.«

»Du weißt es nicht sicher. Du weißt nicht, was passieren wird, wenn ich es nicht tue.«

»Dann verstehst du, warum ich dich töten muss?«

Säbelauge legte sich auf den Boden. Die Pfoten von sich gestreckt. Sein letzter Gedanke galt den drei Schülern und ihrer geheimen Schwester.

Warrior Cats - Zeit des KampfesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt