Kapitel 1

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Pov. Lion

Mittagessen 14. Juli 2017

Meine Eltern unterhalten sich angeregt über eine Fernsehdebatte, die sie erst einen Abend zuvor gesehen haben, während ich mit meinen Autos auf dem Tisch spiele. Der goldene Apfel ist Paps Lieblingsrestaurant, weshalb wir hier jeden zweiten Sonntag zu Mittag essen. Plötzlich erklingt ein lautes Geräusch und fast alle Gäste drehen sich automatisch zu der Quelle der Geräuschkulisse, so auch wir. Ein Kellner hat ein ganzes Tablett mit Gläsern fallen gelassen. Gerade, als er sich anschickt, die Scherben aufzusammeln, eilt ein großgebauter Mann herbei und zieht den jungen Kellner auf die Beine. Freundlich lächelnd entschuldigt sich der großgebaute und weißgekleidete Mann bei den Gästen für diese Unanehmlichkeit und redet dann eindringlich mit dem jungen Burschen, bevor er mithilft die Scherben aufzukehren und die Flüssigkeiten aufzuwischen.
Der großgebaute Mann ist eine eindrucksvolle Erscheinung. Neugierig folge ich ihm mit den Augen, egal, in welche Ecke des Raumes er geht, bis er schließlich hinter der grosen Schiebetür mit den großen Bullaugen verschwindet. Eine Locke fällt mir ins Gesicht und ich puste diese beiseite.

Abendessen 16. August 2019

Adrett sitze ich auf meinem Stuhl und esse mein Wiener Schnitzel, während Mama und Papa nun still nebeneinander sitzen. Noch vor wenigen Minuten haben sie sich die ganze Zeit über angegiftet, eine schnippische Bemerkung nach der anderen wurde hin und her gekickt, bis ihnen anscheinend der Treibstoff ausgegangen war. Die ganzen letzten Wochen, ach was, die letzten Monate waren hart gewesen. Paps war schon immer ein bisschen schwierog gewesen, aber Ma und er hatten sich bis jetzt immer eingekriegt, nun scheint es, als würden sie auf ganz unterschiedlichen Planeten kreisen. Noch vor zwei Stunden hatte ich gehofft, dass wir aufgrund ihrer Streitereien das regelmäßige Essen im Restaurant ausfallen lassen können, aber vergebens. Pa bestand darauf und verlegte die Streitkulisse somit in die Öffentlichkeit. Vielleicht hatte er auch gehofft, dass der Abend dennoch schön werden könnte, leider ebenfalls vergebens. Während sie also schweigend ihr Essen essen und sich mit eisernen Blicken geißeln, suche ich mir in der Umgebung ein besseres Schauspiel, als die Dramaturgie meiner Eltern. Wie schon so oft, bleibt mein Blick an einem weißen Kittel hängen, der von diesem großgebauten Mann getragen wird. Er steht an der Bar und redet mit einer rothaarigen Frau, wobei er immer wieder lächeln muss. Umso breiter sein Lächeln wird, desto heller strahlen seine dunklen Augen. Diese geben mir Halt in dem Strudel bissiger Kontras und nehmen die Schwere, die sich schon den ganzen Abend lang um mein Herz binden will.

Mitagessen 21. November 2021

Gelangweilt sitze ich mit meinem Vater am Tisch im Restaurant, zusammen mit drei Arbeitskollegen von ihm. Sie reden über irgendetwas Wichtiges von der Arbeit. Ich höre nicht zu. Mein Blick schweift aus dem Fenster und wieder zurück ins Restaurant. Ich weiß nicht, wieso mein Vater mich immer wieder zu so etwas mitnehmen muss. Seit der Trennung von Ma vor zwei Jahren, hat er es sich angewöhnt, mich ständig seinen Arbeitskollegen vorzuführen, worauf ich nie wirklch Lust habe, doch will ich ihn auch nicht so vor den Kopf stoßen. Die Beziehung zu ihm ist eh schon schwierig genug, da ich ihn überfordere. Besser gesagt, überfordert ihn meine Sexualität, denn seit ich meinen Eltern offen erzählt habe, mir sicher zu sein, Jungs zu mögen, steht er im ständigen Zwiekampf mit sich selbst. Einerseits will er keinen schwulen Sohn, auf der anderen Seite liebt er mich und will mich auch nicht verlieren, also ignoriert er dieses Thema die meiste Zeit, wenn wir zusammen sind. Anders als Ma, mit ihr kann ich über all das reden.
Irgendwann bleibt mein Blick an einer weißgekleideten Gestalt hängen, die gerade hinter die Bar am anderen Ende des Restaurants, getreten ist. Als ich genauer hinsehe, erblicke ich einen Mann mittleren Alters. Es ist der großgebaute Mann, der mir schon so oft aufgefallen ist und dessen warme Ausstrahlung  mich immer wieder aufs Neue einnimmt. Ich weiß nicht wieso und es verwirrt mich auch, aber jedes Mal, wenn ich ihn sehe, bin ich wie hypnotisiert. Er hat irgendetwas an sich, dass mich neugierig macht. Jedes Mal, wenn ich mit Paps in sein Lieblingsrestaurant gehe, freue ich mich insgeheim, den fremden Mann wieder zu sehen. Er ist der Koch oder einer der Köche, das habe ich mittlerweile raus, deshalb ist er auch stets in einen weißen Kittel gekleidet. Seine Unterarme wirken stark, die er gerade immer wieder hebt, als er mit einem der Kellner spricht und enthusiastisch gestikuliert. Seine Hände sind groß. Unbewusst beiße ich mir auf die Unterlippe und stelle mir für den Bruchteil einer Sekunde vor, wie es wäre, würde er mich mit seinen großen Händen berühren. Blitzartig schüttle ich den Kopf. Verdammt. Dieser Mann war schon viel zu oft dieInspirationsquelle solcher Gedanken in meinem Kopf, dabei habe ich bis jetzt nicht ein einziges  Wort mit ihm gewechselt. Aber vielleicht ist das auch besser so. Vielleicht ist er nur in meiner Fantasie, so attraktiv und warmherzig, wie ich ihn von meinen jahrelangen Beobachtungen her, einschätze.

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