Kapitel 20 - Welten zerbrechen

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Ich verbrachte die Nacht eher schlaflos, weil ich einfach nicht zur Ruhe kommen konnte. Früh am Morgen, als die Sonne schon langsam aufging, gab ich es dann auf. Ich verließ also mein Bett und ging Duschen. Das kalte Wasser war erfrischend und ich hoffte, dass man mir dadurch meine Schlaflose Nacht nicht sofort ansehen konnte.
Anschließend machte ich mich dann schon mal fertig für den Tag.
Heute trainieren die Jungs den ganzen Vormittag und haben dann am Nachmittag und Abend Freizeit.

Nach dem Training freuten sich aber alle erstmal auf das Mittagessen.
Wir aßen gemeinsam in unserer Unterkunft, wobei genauestens auffiel, wer von den Jungs entweder in der vorherigen Nacht kaum geschlafen hatte oder wer wohl wirklich an seiner Kondition arbeiten sollte. Suna beispielsweise schien beinahe einzuschlafen, er hatte wahrscheinlich die halbe Nacht am Handy verbracht, wie sonst auch. Ansonsten war auch fast alles wie immer, nur Shinsuke war nicht wie immer. Er saß bei Aran und schien völlig neben der Spur, was so gar nicht zu ihm passt.
Mir ist bewusst, dass er wahrscheinlich sauer oder so ist, weil ich ihn angelogen habe, aber so, wie er gerade aussieht, sieht man dann nun auch wieder nicht aus, wenn man einfach nur sauer ist.

Nachdem das Mittagessen zu Ende war, lief ich schnell zu meinem Bruder.  Wenn man ihn so vom nahen betrachtet, schien es beinahe so, als hätte er geweint. Seine Augen waren leicht geschwollen und rot.
War irgendwas nach gestern Abend noch passiert?
Sorge machte sich in mir breit und kurz verlor ich den Faden und vergaß, was ich überhaupt von ihm wollte.
„Wir müssen glaube ich reden." sagte ich dann, wobei es wohl eher wie eine Frage klang.
Er nickte kurz, verabschiedete sich schnell von Aran und folgte mir dann nach draußen.
Wir verließen das Gelände der Unterkunft, wo überall Leute und vor allem Schüler rumliefen und gingen stattdessen in der Nähe spazieren, damit wir ungestört und alleine reden konnten.
Eine Weile sagte allerdings niemand etwas, bis wir uns in der Nähe eines Waldes auf einer Bank niederließen.
Er schaute mich Erwartungsvoll an. Er wollte offensichtlich, dass ich anfange.
Lange Drumherum reden, war auch noch nie sein Ding.
Ich sammelte mich nochmal kurz und erzählte ihm dann, wie Suna am Vortag, was passiert war.
Daraufhin schien er kurz zu überlegen und begutachtete meinen Hals und mein Handgelenk genauestens.
„Tut mir leid, dass ich nicht auf dich aufgepasst habe."
Ich konnte erkennen, dass er den Tränen nahe war.
Ich hatte ihm auch erklärt, dass es halb so schlimm war und alles wieder gut ist. Es ist nicht ungewöhnlich, dass es ihn mitnimmt, aber ich bin mir sicher, dass das nicht alles ist.
„Du weißt, dass du dir keinen Vorwurf zu machen hast, sag mir lieber, was mit dir los ist."
Erst guckte er leicht überrascht, fing sich dann aber wieder. Er stand auf und kniete sich dann vor mir hin, legte seine Hände in meine und ließ diese dann auf meinem Schoß verweilen.
Mittlerweile machte ich mir nicht mehr nur Sorgen. Nein, ich wurde panisch, mein Atem stockte und mein Herz schlug viel zu schnell.

Was zur Hölle ist denn passiert? Was soll das gerade?

Eine einsame Träne lief über seine Wange und ohne zu wissen, worum es überhaupt ging, kamen nun auch mir die Tränen.
„Bitte, bitte sag mir, was los ist." flehte ich ich ihn an und wurde immer panischer.
So ist er sonst nicht, so verhält er sich sonst nicht. Also was ist passiert?
Beruhige dich. Ich verspreche dir, dass es nicht so schlimm ist, wie es sich gleich anhören wird."
Ich versuchte mich zusammenzureißen und nickte kurz. Er drückte meine Hände nun fester zusammen und schien sich auch erstmal beruhigen zu müssen, bevor er dann sprach.
„Oma ist krank. Sie hatte einen Unfall. Es war nichts schlimmes, aber sie hat sich den Knöchel verstaucht und war daher beim Arzt. Dort erzählte sie nebenbei, dass sie oft Atembeschwerden hat, anhaltenden Husten und Brustschmerzen. Daraufhin wurden einige Untersuchungen durchgeführt und..." Er stockte. Er sah so mitgenommen aus, es schien, als hätte er einfach die Stimme verloren.
„Und was?" hakte ich dennoch nach. Ich konnte nicht warten, auch wenn das wohl nicht sehr einfühlsam von mir war.
„...und die Ärzte konnten bei ihr einen Tumor im linken Lungenflügel feststellen."
„S-Sie hat Krebs?" murmelte ich völlig geschockt vor mich hin und konnte wegen meiner Tränen nicht mal mehr genau erkennen, wie Shinsuke gerade guckt.
„Vorerst wurde nur ein Tumor entdeckt. Es wird noch untersucht, ob er gutartig oder bösartig ist." versuchte er mir ein wenig Hoffnung zu machen, zerstörte diese dann allerdings kurz darauf selber wieder. „Du solltest aber dennoch wissen, dass Tumore in der Lunge... selten Gutartig sind."

Also ist es wahrscheinlich Krebs.

Ich wusste natürlich, dass er nur ehrlich sein wollte und mich eigentlich nicht traurig machen wollte, doch für mich brachen in diesem Moment Welten zusammen.
Schluchzend, panisch und verheult, ließ ich mich einfach nach Vorne in seine Arme fallen. Ich heulte sein ganzes T-Shirt voll, während er mich einfach nur machen ließ und sanft meinen Rücken streichelte.
Irgendwann wurde es etwas windig. Shinsuke hob mich einfach hoch und ich klammerte mich wie ein Äffchen an ihn. Ich konnte mit dem Heulen einfach nicht aufhören. Auch, als wir schon längst an der Unterkunft angekommen waren, liefen mir weiterhin Tränen über über die Wangen. Ich hatte Shinsuke auch immer noch nicht losgelassen. Es überkam mich das Gefühl, dass er verschwinden würde, wenn ich jetzt loslassen würde.

Nachdem er, mit mir auf dem Arm, das Gebäude betreten hatte und ich immer noch schluchzte, warfen uns natürlich viele Leute die Verschiedensten Blicke zu.
Er lief mit mir zu seinem Zimmer und setzte sich dort mit mir zusammen auf sein Bett. Aran, sein Mitbewohner, war nicht im Raum. Wahrscheinlich war er mit den Anderen im Gemeinschaftsraum oder irgendwo draußen unterwegs.
„Versuch ruhig zu atmen. Ich bin hier, alles wird wieder gut. Sie wird nicht sterben." versuchte er mich zu beruhigen und schaute mich dabei eindringlich an.
„Ihr seid doch alles, was ich noch habe. Wie soll ich mich beruhigen?" Ich wusste nicht, ob ich wütend, traurig oder ganz einfach verzweifelt war.
„Noch ist sie aber hier und ganz richtig, ich bin doch auch noch da. Außerdem hast du neue Freunde gefunden, die für dich da sind und die du vielleicht irgendwann auch als Familie bezeichnen kannst."

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