Kapitel 21 - Ansichtssache

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„Ist das Team für dich Familie?"
Erst hatte ich eine Weile gar nichts erwidert und versuchte stattdessen mich zu beruhigen, doch diese Frage brannte mir auf der Zunge.
„Ja, jeder einzelne." Er schien bei dieser Aussage beinahe wie eine stolze Mutter.
Meine Gefühle zu diesem Thema sind mit hoher Wahrscheinlichkeit ziemlich egoistisch, doch ich hatte gehofft, dass er das nicht sagen würde. Es gab immer nur Oma, Shinsuke und mich in der Familie. Sicherlich hatte jeder Freunde, aber Familie?
Ich hatte plötzlich Angst, dass er mich nicht mehr brauchen würde, dass ich irgendwann völlig alleine wäre. Ziemlich egoistisch, was?
„Wenn ich nicht deine biologische Schwester wäre, hätte ich dann dennoch einen Platz in deiner Familie?"
Etwas verdutzt runzelte er kurz die Stirn, bevor er antworte.
„Natürlich. Sakiko, jeder hat seinen eigenen Platz und niemand ersetzt irgendwen. Dich kann sowieso niemand ersetzen. Du bist meine kleine Schwester, du hast den mit Abstand größten Platz in meinem Herzen und das nicht aus biologischen Gründen, mach dir keine Sorgen."
Und schon vergrub ich mein Gesicht wieder in seinem T-Shirt. Immer, wenn ich vor Selbstzweifel drohte überzuquellen, ist er da und sagt solche Dinge. In diesem Moment wurde mir wieder mal bewusst, dass ich ohne meine Großmutter und vor allem Shinsuke, gar nicht zurecht kommen würde.
Dieser Gedanke trieb mir wieder Tränen in die Augen. Wie schon so oft in den letzten paar Stunden, heulte ich wieder Shinsukes Shirt voll und er ließ es einfach über sich ergehen.

Einige Stunden später war ich immer noch bei meinem Bruder im Zimmer. Ich wollte einfach nicht alleine sein und machte mir riesige Sorgen um unsere Großmutter. Wir saßen eigentlich fast nur auf dem Bett rum und sahen uns Filme an. Irgendwann klopfte es dann an der Tür. Shinsuke stand auf, um diese zu öffnen.
Ich konnte von meinem Platz aus nicht sehen, wer da war, allerdings erkannte ich diese Stimme sofort.
„Der Trainer bat mich, dich zu holen. Er sagte, dass er was dringendes mit dir besprechen will." erklärte Atsumu sein Anliegen.
Danach flüsterte er noch etwas, was ich nicht verstand. Shinsuke nickte kurz und ging dann, nachdem er noch irgendwas zum Blondschopf sagte.
Entgegen meiner Erwartungen kam Atsumu, als Shinsuke schon längst gegangen war, auf mich zu und setzte sich neben mich auf die Bettkante.
Wieso ist er noch hier, fragte ich mich misstrauisch in meinen Gedanken.
Er sagte nichts. Er blieb einfach still bei mir sitzen.
„Du musst nicht auf mich aufpassen, wenn es das ist, was du hier tust." stellte ich klar.
„Ich werde dich nicht alleine lassen, wenn es das ist, was du willst." erwiderte er schnippisch.
„Tch, was hat Shinsuke zu dir gesagt, bevor er gegangen ist?"
„Das werde ich dir nicht verraten, geht dich auch nichts an." Er grinste mich fies an.
Unzufrieden grummelnd, ließ ich mich nach hinten in das Kissen fallen und versteckte mein Gesicht hinter der Decke.

Ich fühlte mich durch seine bloße Anwesenheit besser, gleichzeitig aber auch beinahe noch schlechter, als so schon. Auf der einen Seite fühle ich mich einfach immer gut, wenn er da ist, aber auf der anderen Seite, fühle ich mich eben gerade deswegen schlecht. Meine Großmutter hat wahrscheinlich Lungenkrebs. Darf ich dann einfach so fröhlich und munter mein Leben leben?

„Du solltest nicht alles in dich hineinfressen. Willst du darüber reden?"
Verwirrt schaute ich ihn an.
Hatte er mir meine Überforderung wirklich angesehen?
„Meine, naja Shinsukes und meine Oma hat vielleicht Krebs und das nimmt mich eben mit, außerdem mache ich mir natürlich Sorgen. Ich habe nur noch meine Großmutter und meinen Bruder. Wenn... wenn sie jetzt sterben würde, dann wäre das die Hölle. Shinsuke macht jetzt schon immer so viel und ist für mich Elternteil, Bruder und Freund in einem. Würde es unsere Oma nicht mehr geben, wer sagt ihm dann, dass er nicht alles alleine machen muss und gibt ihm einen Rat und ist für ihn ein Elternteil? Ich kann ihn nicht so auffangen, wie er es immer für mich tut."
Während ich das alles Aussprach, realisierte ich erst, dass es Wirklichkeit ist.
„Ich bin nicht so stark wie er." ergänzte ich murmelnd und war mir gar nicht mehr so sicher, ob ich Atsumu das alles hätte anvertrauen sollen.
„Du könntest dir ruhig etwas mehr vertrauen." fing er an, sanft auf mich einzureden. „Du denkst vielleicht, dass du nicht so stark wärst, nicht so viel wert wärst oder nicht gut genug seist, aber nur, weil du das denkst und dir das einredest, ist es nicht wahr."
Er rückte näher und nahm meinen Kopf in seine Hände. Eindringlich schaute er mir in meine Augen und sprach dann weiter: „Du bleibst manchmal stundenlang auch noch nach dem Training in der Halle, nur um mir zu helfen und mich zu unterstützen. Du kommst an einem Sonntag zu mir nach Hause, damit mein Bruder und ich uns vertragen. Du sorgst dich um deine Familie und möchtest für alle da sein, auch, wenn du nicht weißt, wie du das anstellen sollst. Vielleicht bist du nicht perfekt und dir fallen Dinge nicht so leicht wie Kita, aber du bemühst dich und du bist für alle da, so wie du eben für andere da sein kannst."
Langsam ließ er meine Wangen wieder los und schenkte mir ein liebevolles Lächeln.
Am Liebsten würde ich ihn jetzt umarmen, nie wieder loslassen und ihm sagen, was ich empfinde.
Stattdessen fange ich allerdings an zu weinen. Seine Worte haben mich tief berührt und aufgemuntert.
„Hey, wieso weinst du?" Er strich meine Tränen vorsichtig mit seinen Daumen weh.
„Weil deine Worte mir viel bedeuten." erwiderte ich zögerlich.
Er lächelte wieder und nahm mich dann einfach in den Arm. Ich freute mich unfassbar und genoss seine Nähe.

Lückenlos - Haikyuu FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt