Kapitel 40

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Tine hatte mich die letzten Tage ignoriert. Sie hatte mich weder morgens aufgeweckt, noch gemeinsam mit mir gegessen. Jedes Mal, wenn ich ihr über den Weg gelaufen war, weil sie für einen Moment mal aus dem Schlafzimmer gekommen war, hatte es mir das Herz gebrochen. Auch, als ich sie eines Abends im Bett weinen gehört hatte, weil ich mir gerade in der Küche ein Glas Wasser geholt hatte, hatte es mich innerlich zerrissen. Doch ich hatte zu viel Angst davor gehabt, dass sie mich wieder von sich stoßen würde, wenn ich zu ihr kommen würde.

"Ich fahre zu meinen Eltern zum Sonntagskaffee. Erwarte mich nicht vor 18 Uhr zurück." Mit diesen Worten riss mich Tine plötzlich aus meinen Gedanken, die ich gerade dem verpassten Schulstoff der letzten Woche gewidmet hatte.

Das war das Erste, was ich seit Tagen von ihr gehört hatte, und es trieb mir sofort die Tränen in die Augen. Ich musste heute unbedingt mit ihr reden. Morgen würde eine neue Woche beginnen und ich konnte nicht schon wieder so viel Stoff verpassen. Ich wusste genau, dass ich mich nicht konzentrieren können würde, wenn wir das nicht geklärt hatten.

"Okay, ich wollte mich so oder so heute mit Mareike treffen und den Stoff mit ihr nachholen", antwortete ich möglichst gefasst und musterte sie kurz.

Sie war bereit zum Gehen, jedoch war irgendetwas seltsam an ihr. Sie trug ihre schwarzen Sportschuhe mit weißer Sohle, die sie zwar manchmal auch in der Schule getragen hatte, aber nie zu ihren Eltern anziehen würde. Dazu hatte sie ein simples, schwarzes T-Shirt und eine kurze Jeans kombiniert. Wahrscheinlich interpretierte ich bloß zu viel hinein, aber es war trotzdem seltsam.

Plötzlich wandte sie sich ohne ein weiteres Wort von mir ab und einen Moment später hörte ich die Wohnungstür. Ich atmete kurz durch und versuchte zu verarbeiten, was gerade passiert war. Sie hatte mit mir geredet. Ich wusste leider nicht, ob das etwas Gutes oder Schlechtes heißen sollte. Irgendwie tat es mir leid, dass ich sie angelogen hatte, aber es sollte nicht so klingen, als würde ich den ganzen Tag nur depressiv in der Wohnung verbringen.

"Weißt du was Elea, scheiß drauf. Du machst das Zeug morgen oder so", sagte ich zu mir selbst und stand entschlossen auf.

Eine Runde zum Baggersee und wieder zurück würde mir nicht schaden. Wenn ich hier in der Wohnung blieb, dann würde ich mir nur immer wieder dieselbe Textstelle durchlesen, während meine Gedanken bei Tine waren. Dann wäre ich frustriert und würde sicher wieder weinend in unser Schlafzimmer gehen, wo ich mich in ihre Decke wickeln würde, die nach ihr roch. Alles in mir wollte bei ihr sein, sie küssen und umarmen. Es versetzte mir einen Stich ins Herz, wenn ich abends nicht neben ihr einschlafen konnte.

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, wie sehr ich sie brauchte, und mir schon wieder Tränen über das Gesicht liefen, stand ich auf und ging ins Schlafzimmer. Ich öffnete den Kleiderschrank und suchte mir ein dunkelgraues T-Shirt und eine schwarze Leggings, die mir bis knapp über die Knie ging, aus. Es sollte heute ziemlich warm werden und ich wollte nicht schwitzen.

Ich hatte mir einen kleinen Rucksack mitgenommen, in den ich mein Handy, eine Flasche Wasser und meinen Schlüsselbund gepackt hatte. Dann ging ich zu meinem Fahrrad und gerade als ich es abschließen wollte, fiel mir auf, dass das von Tine fehlte. Sie parkte normalerweise direkt neben mir. War sie damit zu ihren Eltern gefahren? Das konnte ich mir nicht vorstellen, weil sie sonst den halben Tag allein mit dem Hinfahren beschäftigt wäre. Vielleicht hatte sie es ja am Freitag, nachdem sie von der Schule nach Hause gefahren war, irgendwo anders abgestellt. Alles andere würde keinen Sinn ergeben.

"Egal", murmelte ich, während ich das Fahrrad etwas schwerfällig aus dem Ständer zog.

Dann fuhr ich los und genoss die kurze Fahrt, die mir um diese Uhrzeit schon ein paar Schweißperlen auf die Stirn trieb. Zum Glück trug ich kein Make-up, denn das wäre wahrscheinlich beim Drüberwischen verschmiert.

Ingo love |girlxgirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt