Kapitel 2

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Ich hatte es mir mit meiner Tasse Tee in Hand auf dem Schreibtischstuhl meines Bruders gemütlich gemacht und beobachtete seit einer halben Stunde, wie er 15 Alarme seines Handys weggedrückt hatte und sich jedes mal aufs neue grummelnd umdrehte. Beim 16 Alarm riss er sein Telefon vom Ladekabel und schmiss es quer durch den Raum in meine Richtung.
"Dir auch einen guten Morgen.", sagte ich etwas belustigt und warf das Handy zurück.
"Aua!", fluchte Liam und zeigte mir seinen Mittelfinger. "Was willst du?"
Ich stand auf und stellte die Tasse mit Kaffee - lauwarmen Kaffee - auf den Nachtschrank und sah zu wie er den Geruch förmlich inhalierte.
"Ich fahr in 10 Minuten los, wenn du bis dahin nicht im Auto sitzt, fahre ich ohne dich los und du darfst laufen." Er stöhnte in sein Kissen bevor er sich wie ein nasser Sack voll Kartoffeln aufsetzte und gähnte.
"Wie gesagt: Dir auch einen guten Morgen.", wiederholte ich und verließ das Zimmer. Liam war ein absoluter Morgenmuffel und das schon seit unserer Kindheit. Und wenn mich nicht alles täuschte trank er seitdem er 12 war jeden Morgen eine Tasse Kaffe - wenn nicht sogar noch mehr.

Ich lief die Treppe hinunter und ließ mich auf die unterste Stufe fallen, um meine Schuhe anzuziehen. Aus der Küche hörte ich mur wie Dad knurrte und dann an mir vorbeistürmte. Mum folgte ihm mit rollenden Augen.
"Viel Spaß in der Schule.", rief sie mir zu, bevor sie die Tür hinter sich zuzog. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Dad stürmte nur auf diese Art und Weise aus dem Haus, wenn etwas passiert war und Lukas - unser Alpha - seine engsten Berater brauchte. Ich wollte gar nicht wissen, was los war. Immerhin würde das Rudel schon informiert werden, sollte es etwas schlimmes sein und wenn nicht, wäre spätestens morgen alles wieder gut.
Ich stand auf, schnappte mir meinen Rucksack und die Autoschlüssel und verließ das Haus. Meine Eltern waren schon nicht mehr zu sehen. Wir wohnten am äußersten Rand der kleinen Stadt mit direktem Zugang zum Wald. Ich sah die Straße hinunter und beobachtete wie die alte Dame aus dem Haus Nummer 10b mit ihren zwei Maltesern Gassi ging. Es war wie immer ruhig.
Ich lief über den Rasen zu dem Auto, für das ich geteiltes Sorgerecht mit meinem Bruder hatte und stieg ein. Meine Tasche warf ich hinten auf die Rücksitzbank, bevor ich mich anschnallte und den Motor startete. Ein kleiner Ton vom Radio signalisierte mir, dass mein Handy sich verbunden hatte. Ich suchte nach meiner momentanen Lieblingsplaylist und gerade als Dolly Parton begann über ihren Tag von 9 to 5 zu singen, riss Liam die Tür auf und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, bevor er die Autotür heftig zuzog.

"Hey!", stieß ich hervor. "Mach vorsichtig mit meinem Auto."
"Unserem Auto!", entgegnete er mir mürrisch. "Wir haben uns Mum's Gebärmutter geteilt genau so wie wir uns dieses Auto teilen." Ich rollte mit den Augen und sah ihn schief von der Seite an. Die Haare noch völlig zerzaust und nur mit einem Arm im Tshirt legte Liam den Sicherheitsgurt an und nahm einen großen Schluck Kaffee. Ich fuhr rückwärts aus der Einfahrt heraus und summte leise zur Musik mit. Ohne ein weiteres Wort zu sagen brachten wir die 20 Minuten zur Schule hinter uns. Es war die selbe Schule, die Mum einige Wochen besucht hatte. Zusammen mit vielen Anderen aus dem Rudel - aber das war eine ganz andere Geschichte. Man versuchte noch immer die schlimme Zeit aufzuarbeiten, aber schon alleine die Erinnerung an die Geschehnisse vor 23 Jahren waren zu krass um darüber zu reden. Natürlich wuchsen alle Kinder des Rudels mit dieser Geschichte auf und in der Schule wurde es am Ende der 10. Klasse auch ein Viertel Jahr unterrichtet aber ansonsten sprach niemand darüber. Die Erinnerungen blieben genau so wie einige Maßnahmen, die zum Schutz getroffen wurden. Man hatte seitdem Grenzpatrouille losgeschickt, die regelmäßig unsere äußere Territoriumsgrenze abliefen und in der Schule gab es Verteidigungskurse - die unser Dad meistens mit seinen engsten Freunden unterrichtete. Für Liam und mich gab es diese "Kurse" aber schon seit frühester Kindheit. Immerhin konnte sich Liam verwandeln - ich hingegen musste in Menschengestalt schauen, was ich in einem Ernstfall ausrichten konnte.

Ich parkte den Wagen neben dem alten Truck von Liams Mate Lee. Seit Jahren parkten wir nebeneinander und immer auf den selben Plätzen. Mein Bruder kippte sich gerade den letzten Schluck Kaffee runter, als über das Radio der Klingelton meines Handys ertönte.
"Was gibt's?", fragte ich und drehte mich nach hinten um meinen Rucksack von der Rücksitzbank zu nehmen.
"Wo bleibt ihr denn?", fragte die zarte Stimme von Ella am anderen Ende der Leitung. "Wir warten auf euch."
"Kommen!", brummte Liam und beendete den Anruf.
"Nett.", meinte ich und stieg aus dem Auto. Mein Bruder stützte die Unterarme auf dem Dach ab und sah mich mit ernster Miene an.
"Du bist meine Schwester. Mein Zwilling. Ich hab dich lieb, aber halt die Klappe. Ich hatte meine zweite Tasse Kaffee noch nicht!" Ich grinste und verriegelte die Türen vom Wagen, bevor wir zusammen zum Schulgebäude liefen. Drinnen an unseren Spinten warteten schon die anderen auf uns. Lee hielt meinem Bruder wortlos einen Thermobecher voll Kaffee hin und wie immer griff er danach, gab seinem Mate einen Kuss und trank einen Schluck. Danach nickte er Jake zu, der sich lässig an seinen Spint gelehnt hatte und uns beobachtete. Tante Melania hatte uns erzählt, dass er ganz nach seinem Vater kam was diese zurückhaltende aber tödliche Art anging. Er sah seinem Vater in jungen Jahren tatsächlich auch sehr ähnlich - nur hatte er die widerspenstigen lockigen Haare von seiner Mum. Ella hingegen war das Ebenbild von Tante Melania. Die Augen, der Mund und die Haare, welche sie aber kurzgeschoren trug.

"Wie lange wartet ihr schon?", fragte ich und holte die Bücher für die ersten Stunden aus dem Spint.
"Nicht lange, aber du kennst Ella. Ungeduldig wie immer.", antwortete Lee und fuhr der Lykanerin über die kurzen Stoppeln auf dem Kopf. Sie knurrte gespielt verärgert und behauptete dann felsenfest, dass sie die Ruhe und Geduld in Person wäre.
"Und ich bin Michael Jackson höchstpersönlich.", klinkte sich Jake in das Gespräch mit ein. "Ella, wenn du eines nicht bist dann ja wohl geduldig."
"Ja ist ja gut...", gab sie klein nach. Es war kein guter Morgen in unserer Gruppe ohne eine ordentliche Portion Sarkasmus und einem Schlagabtausch zwischen Geschwistern.
"Ich glaub wir müssen langsam.", gab Lee zu verstehen und hielt demonstrativ sein Handy in die Luft. Ella seufzte. Sie war die einzige aus unserer Gruppe, die nicht in unserem Jahrgang war.
"Machts gut - wir sehen uns nachher.", sagte sie und auf halben Weg drehte sie sich noch einmal zu uns um und rief: "Und du Knallkopf sprichst endlich mit Elisabeth!" Jake sah ihr bitterböse hinterher und man konnte ein leises Knurren hören.
"Wer ist Elisabeth?", fragte Liam, der langsam wach zu werden schien.
"Niemand."
"Komm schon!" Wir sahen Jake erwartungsvoll an und nach einer kurzen Zeit gab er nach.
"Ich glaub ich hab meine Mate gefunden.", gab er zu und kniff sich in den Nasenrücken. Ich freute mich für Jake, nur er schien alles andere als überzeugt.
"Das ist toll. Oder etwa nicht?", wollte ich wissen und lief mit ihm neben mir voraus.
"Es ist Elisabeth Scott."

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Hey ho☀️

Ich hoffe euch geht's gut.🤸🏻‍♀️

Liebe Grüße
Jessy❤

PS: Der Name des Zwillings ist geändert - Liam passte besser als Darius (nur falls sich einige Wundern - ich hatte es bei der Korrektur im 1. Kapitel übersehen gehabt)

Wolfsblut - ProphezeiungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt