Kapitel 35

1.3K 99 4
                                    

Langsam kam ich wieder zu Bewusstsein. Es fühlte sich an, als würde ich langsam aus Wasser wieder auftauchen und zurück in meinen eigenen Körper gleiten. Ich hatte keine Schmerzen, sondern alles fühlte sich taub an. Der Gedanke daran, wie es sich angefühlt hatte, war schrecklich. Es machte mir Angst. Ich atmete tief durch und öffnete die Augen. Ich war in meinem Zimmer. Durch die Fenster viel sanftes orangefarbenes Licht, aber ich hatte keine Ahnung, ob es am Morgen oder schon Abend war. Langsam drehte ich den Kopf zur Seite und sah jemanden auf dem Stuhl, neben meinem Bett sitzen. Yuhkai. Er hatte mich gefunden. Mir geholfen und mich nicht zurückgelassen. Doch jetzt als ich ihn ansah, spürte ich etwas anderes. Es war neu, aber es fühlte sich warm und sicher an. Vorsichtig stemmte ich die Hände in die Matratze und schaffte es etwas schwerfällig, mich aufzusetzen. Ich trug ein übergroßes altes T-Shirt, dass ich sonst immer zum schlafen trug. Jemand hatte meine Sachen getauscht und irgendwie hoffte ich, dass es nicht Yuhkai war. Bei dem Gedanken erfüllte Wärme meine Wangen und als ich wieder zu dem schlafenden Lykaner sah, blickte ich in seine einblauen Augen. Er war wach und starrte mich an. Es dauerte einige Minuten, bis seine Augen wieder die Farbe von dunklem Mahagoni Holz annahmen, als er bemerkte, dass es mir gut ging. Er sah müde und geschafft aus, aber auch erleichtert. Der Stuhl knarrte leicht, als er sich nach vorne beugte und die Unterarme auf den Knien abstützte. Seine Atmung änderte sich kaum merklich und wurde schwerer.
„Wie fühlst du dich", fragte er. Seine Stimme war rau und tief. Gänsehaut überzog meinen Rücken.
„Besser", hauchte ich und sah ihn einfach nur an.
„Ria, wir...", setzte er an, doch plötzlich polterte jemand die Treppe nach oben und riss die Tür auf. Yuhkai, der gerade noch neben dem Bett gesessen hatte, stand mit einem Mal an anderen Ende des Zimmers. Ich starrte etwas wütend meinen Bruder an, der schwer atmend und ebenso wütend zurückblickte.
„Jake wird aufs übelste verprügelt, du begibst dich wie eine gestörte auf Rachefeldzug und bist dann fucking vier Tage lang bewusstlos und niemand hält es auch nur für nötig, mich - deinen Zwilling - darüber zu informieren?" Er schrie halb das Haus zusammen. Aber ich blinzelte nur verwirrt. Vier Tage? Ich war wirklich so lange bewusstlos gewesen?
„Liam, beruhig dich", versuchte Lee, der hinter ihm ankam, meinen Bruder zu beruhigen. Aber auch der Lykaner musterte mich besorgt. „Ihr scheint es gut zu gehen, etwas blass um die Nase, aber ihr geht es gut. Außerdem war sie nicht alleine. Yuhkai und Jake waren immer bei ihr, also beruhige dich!"
Yuhkai war die ganze Zeit über hier gewesen? Der Lykaner lehnte jedoch nur etwas abwesend an der wand und sah auf den Boden. Die Maserung der Holzlatten schien interessanter, als der besorgte Wutausbruch meines Bruders. Etwas war anders. Yuhkai war anders. Nur konnte ich nicht ganz begreifen, woran es lag. Mir fiel unser Gespräch im Auto wieder ein. Hatte ich etwa eine Grenze überschritten, als ich ihn angefleht hatte mich zu finden und mir zu helfen? War er deswegen so distanziert? Etwas zog sich schmerzhaft in mir zusammen und als hätte er es gespürt, blickte er ruckartig auf. Seine Augen blickte in meine und in ihnen stand so viel Wärme und Verständnis, dass ich nicht anders konnte als mit zu wünschen, dass er mich berührte. Mich in den Arm nahm und sagte, dass alles wieder gut werden würde. Aber das tat er nicht.

„Es tut mir leid, dass du dir so schlimme Sorgen gemacht hast, aber wie Lee schon gesagt hat: mir geht es gut", sprach ich und sah meinem Bruder fest in die Augen. „Ich bin weder verletzt noch in Gefahr. Mir geht es gut, aber ich wäre jetzt gerne etwas alleine. Und ich würde gerne Duschen und auf die Toilette gehen." Liam nickte, kam jedoch trotzdem zu mir und half mir beim aufstehen. Unter dem T-Shirt trug ich kurze Hosen aus Stoff, wie ich bemerkte. Mein Bruder sah wirklich besorgt aus. Ich lächelte ihn träge an und schlang dann meine Arme um seine Taille. Ich hatte Liam lange nicht mehr umarmt und trotzdem fühlte es sich vertraut an. Er seufzte und nahm mich auch in den Arm. Beruhigend strich er mir mit der Hand über den Kopf und sandte mir seine Gedanken.
Du bist meine kleine Schwester, ich werde mich immer um dich sorgen, aber ich bin froh, dass es dir gut geht. Ich verstärkte meine Umarmung etwas.
Danke, dass du das tust. Ich hab dich lieb, Liam.
Er hielt in seiner Bewegung und schob mich ein Stück von sich weg. Etwas skeptisch zog er eine Augenbraue nach oben und musterte mich.
„Ria, gehts dir wirklich gut", fragte er und grinste. „Das hast du mir das letzte Mal gesagt, als wir in der Grundschule waren. Ich glaube, du hast Wahnvorstellungen."
„Blödmann!" Liam ließ von mir und zwickte mir in die Nase. Das machte er seit unserer Kindheit, wann immer ich ihn Blödmann oder Idiot nannte. Ich war froh, dass sich manche Dinge doch nie änderten. Lee umarmte mich ebenfalls, bevor er Liam dann zügig aus meinem Zimmer schob und mich mit Yuhkai alleine ließ. Er starrte mich noch immer an und ich konnte nicht anders, als ihn zu betrachten. Sein Undercut konnte eine Rasur vertragen, aber sonst sah noch immer so perfekt aus, wie am ersten Tag. Die schwarze Hose saß etwas lockerer um die Hüfte herum und dieses weiße T-Shirt... man konnte genau erkennen, wie sich die Muskeln seiner Brust darunter abzeichneten und der Saum der spannte sich leicht um seinen hervorgetretenen Bizeps, während er die Arme verschränkte. Er sah unfassbar gut aus. Und die Dinge die ich bei unserer ersten Begegnung, nach den ganzen Jahren gedacht hatte, kamen wir wieder in den Sinn. Er war wirklich attraktiv und sein Hintern war... Er lachte. Yuhkai lachte leise. Er lachte!
„Du vergisst immer wieder, dass du mir deine Gedanken förmlich zu schreist", meinte er und kam auf mich zu. Wieder stieg mir die Röte ins Gesicht.
„Ich glaube", begann ich und vermied seinen Blick. „Ich glaube, ich sollte duschen gehen." Ich drehte mich, mit brennenden Wangen, zu der Kommode um und nahm mir frische Sachen zum Anziehen heraus. Ich wartete nicht einmal, bis der Lykaner etwas sagte sondern verschwand einfach im Badezimmer. Oh man... es hatte sich definitiv seit Montag Morgen etwas geändert. Ich hörte Schritte vor der Tür und dann ein leises Klopfen.
„Ich mach dir was zu essen", hörte ich ihn sagen. Einige Treppenstufen knarzten, als er nach unten ging und vor Erleichterung und Scham wären mir beinahe die Knie weggesackt. Was stellte dieser Lykaner bitte mit mir an? Kaltes Wasser würde helfen und die Hitze in meinem Gesicht mildern.

Als ich nach einer Stunde endlich aus dem Badezimmer kam, roch es im gesamten Haus fantastisch. Mein Magen knurrte und automatisch setzten sich meine Beine in Bewegung. Ich fühlte mich wieder, wie ich selbst und menschlich. Vor allem fühlte ich mich wieder menschlich. Bei jedem Blick in den Spiegel hatte ich Angst, wieder verändert zu sein. Was auch immer dieses etwas in mir war, es hatte die Kontrolle über mich gewonnen und das gefiel mir nicht. Es machte mir Angst.
„Setz dich, ich bin gleich fertig", kam es von Yuhkai. Er beseitigte gerade die letzten Überreste vom Gemüseabfall, als ich in die Küche kam. Es roch unglaublich lecker. Er hatte die Kücheninsel bereits sauber gemacht und mir Besteck parat gelegt. Ich konnte es noch immer nicht ganz glauben, dass Yuhkai kochen konnte. Wenn ich mich recht erinnerte, waren seine Lieblingsspeisen damals Chips und Pizza gewesen. Ein Wunder, dass er davon nie zugenommen hatte.  Ich nahm auf einem der Stühle Platz und wartete geduldig darauf, dass er mir meinen Teller reichte.
„Das riecht echt lecker", erwiderte ich und streckte lächelnd die Hände nach dem vollen Teller aus. Er hatte einen für mich und einen für sich selbst in der Hand. Himmel roch das gut. Vorsichtig stellte er seinen Teller ab und musterte mich dann mit schief gelegten Kopf. Das Grinsen, das sich auf seine Lippen schlich, war verführerisch. Als würde er genau spüren, was dieser Duft in mir auslöste.
„Noch ein Stück näher und du liegst mir der Nase im Reis", sagte er. „Hör auf daran zu riechen und iss lieber." Blödmann. Ich streckte ihm demonstrativ die Zunge heraus und grinste ihn dann frech an. Aber er hatte recht. Gierig griff ich nach dem Löffel und schob mir die erste Fuhre in den Mund. Köstlich. Er hatte Gemüse angebraten und dazu eine unglaublich leckere süße Soße gemacht.
„Du solltest langsamer essen, dass ist eine Chilisoße, nicht dass du", begann er und ich mit einem Mal wurde ich langsamer. „Alles gut?" Mit einem Mal brannte mein Mund wie Feuer und mir wurde heiß. Unglaublich heiß. Ich zwang mich ganz normal weiter zu atmen und nickte ihm nur gepresst zu.
„Mhhh", gab ich halb gequält von mir. „Alles super."
Mit provozierender Lässigkeit stützte er die Hände auf der Arbeitsplatte ab und beugte sich etwas zu. Das Grinsen nahm etwas Böses an.
„Bist du dir da ganz sicher", fragte er und forderte mich mit einem Nicken dazu auf, einen weiteren Bissen zu nehmen. Mit bröckelndem Selbstbewusstsein und brennendem Mund hob ich einen weiteren Löffel zum Mund. Doch die Schärfe wurde immer schlimmer. Ich konnte noch nie scharf essen. Manchmal brachte mich scharfes Essen sogar zum weinen. Aber das wäre jetzt so peinlich! Ein Lachen ertönte. Sein tiefes Lachen war unglaublich schön, aber er lachte mich aus. Er lachte mich tatsächlich aus!

„Du Arsch ey", rief ich und hastete zum Kühlschrank um mir einen halben Liter Milch hinunter zu kippen. Langsam ließ der Schmerz nach. Wie ausgetrocknetes Kamel setzte musste ich aussehen. Tief atmend stellte ich den Milchkarton auf die Kücheninsel und röchelte etwas. Mein Mund brannte noch immer, aber es wurde erträglicher.
„Entschuldige, etwas Spaß muss sein."
„Spaß? Ich hätte fast angefangen zu weinen, weil das Zeug so verdammt scharf war", erwiderte ich und nahm wieder Platz. Ich würde mein Essen definitiv nicht beenden können. Erst jetzt bemerkte ich, dass er seinen Teller noch kein einziges Mal angerührt hatte. Wie blöd von mir. Das war ganz klar ein Zeichen gewesen, dass etwas nicht mit meinen Teller gestimmt hatte.
„Ja ein Spaß", wiederholte er und tauschte unsere Teller. „Ich hab dir eine Portion zur Seite getan, bevor ich die Chili dran gemacht habe. Gemüse Süß-Sauer. Die scharfe Portion war eigentlich nur für mich gedacht. Nach dem Debakel bei BBQ vor sieben Jahren oder so, werde ich wohl nie vergessen, dass du scharfes Essen nicht verträgst." Etwas angepisst, aber zugleich auch erstaunt sah ich ihn an. Am liebsten hätte ich ihm die Gabel ins Auge gerammt, dafür, dass er mich hat auflaufen lassen. Und zum anderen war ich kaum in der Lage überhaupt etwas zu tun. Er hatte mich wirklich aus der kalten erwischt. Yuhkai erinnerte sich noch immer an die Dinge aus unserer Kindheit.
„Du erinnerst dich daran", fragte ich nach und probierte zaghaft mein Essen. Es war fruchtig und mild. Und auch wieder unglaublich lecker. Der Lykaner kaute lächelnd auf seinem Gemüse herum und zeigte dann mit der Gabel auf mich.
„Ja klar. Dein Dad hatte aus Versehen statt normalem Ketchup irgend so ein Zeug mit Chili gekauft und du hast nicht nachgesehen und stattdessen eine schöne dicke Portion auf den Burger gemacht. Tja, keine zwei Minuten später bist du rot angelaufen und hast geschrien, weil der Ketchup so scharf war und hast den Burgen bald quer über den Tisch geworfen." Oh man. Im Nachhinein hörte sich das total Peinlich an.... Und irgendwie wurde ich auf meinen Stuhl immer kleiner und kleiner.
„Den Tag werde ich nie vergessen. Immerhin hast du mit dem Burger mein damaliges Lieblings T-Shirt ruiniert. Das war das weiße mit dem schwarzen Schriftzug drauf. Meine Mum hat den großen roten Fleck nie wieder rausbekommen! Ich warte bis heute auf meine Entschädigung."
Ich brach in schallendes Gelächter aus.
„Das Ding war dein Lieblingsshirt", wiederholte ich. „Darauf stand I'm a machine. Yuhkai, du warst 10!"
„Das war ein Tranformers Shirt!"
„Nein", lachte ich und spürte die Tränen in den Augenwinkeln. „Das war es definitiv nicht!"
Und mit einem Mal, schien er plötzlich zu verstehen.

Wolfsblut - ProphezeiungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt