04 BUCH EINS - Cieran

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Es kam mir vor, als würde die Nachtluft hier draußen anders riechen, als die Nachtluft in der Burg. Hier roch es nach moderndem Holz von den alten Häusern, die mich umgaben, nach Fäkalien, die die Bewohner einfach in großen Eimern auf die Straße vor den Häusern kippten. Aber da war auch etwas anderes, das wie ein Vogel zwischen den Häusern hin und her flog und meine Nase immer wieder für einen kurzen Moment passierte. Es roch nach Freiheit - und der Ehrlichkeit der Menschen, die hier in den Häusern lebten. Sie sagten, was sie dachten, fühlten, was sie fühlten, handelten, wie sie handeln wollten.

Ganz anders als in der Burg. Ich verachtete die falschen Höflichkeitsgebärden, die auf eine gewisse Art wesentlich mehr Verachtung ausdrückten, als wenn man sich einfach gegenseitig ins Gesicht schlagen würde. Meine Eltern, Lord und Lady der umliegenden Ländereien und der Stadt, interessierten sich genausowenig füreinander wie sie sich für mich interessierten.

Ich hatte Geschichten gehört, Geschichten von lebendigen Feiern, spielenden Kindern, Lebensfreude. Damals hatte ich beschlossen, dass ich diese Freude selbst erleben wollte. Vor einigen Monaten hatte ich mich das erste Mal aus der Burg geschlichen, inzwischen tat ich es fast jede Nacht, in schmutziger Leinenkleidung, um nicht als Adeliger aufzufallen.

Von Geburt an war mir eine Gabe in die Wiege gelegt worden, die ich innerhalb der Burg stets mehr als Fluch empfand. Ich konnte die Aura der Menschen um mich herum sehen - sehen, wie sie wirklich waren, was sie empfanden, wie sehr sie sich für ihre Mitmenschen interessierten. In der Burg sah ich nur grau, durchmischt mit gelben Fäden des Neids, der Machtgier. Erst hier draußen fand ich ein Farbspektrum vor, das ich mir nie hatte vorstellen können. Die Menschen waren so facettenreich und doch hatte jeder seine Besonderheit, die sich in seiner Aura widerspiegelte.

Seit einigen Wochen beobachtete ich nachts eine alte, fast verfallene Taverne im ärmsten Bezirk der Stadt. Drei Jugendliche, die wahrscheinlich wie ich um die 18 Jahre alt waren, hatten das Gebäude in ein Waisenhaus umfunktioniert, kümmerten sich dort um eine Gruppe junger Kinder. Vermutlich stahlen sie sich alles Nötige zusammen, keiner von ihnen sah aus, als hätte er Geld. Aber einer der Jugendlichen, scheinbar der Anführer, hatte etwas besonderes an sich.

Seine Aura war nicht wie die der anderen Menschen, sie war... anders. Ein feuerroter Schein umgab sie, als würde sie in Flammen stehen. Sie faszinierte mich und jeden Tag fragte ich mich mehr, was es mit dieser mysteriösen Aura auf sich hatte. Aber mir fiel auch auf, dass die Ausbeute, die die Jugendlichen zurück zur Taverne brachten, mit jedem Tag geringer wurde.

Also hatte ich heute vorgesorgt und bereits am späten Abend bei den letzten geöffneten Marktständen vier Laibe Brot und zwei Dutzend Äpfel gekauft, die ich nun in einem Sack bei mir trug.

Wie jeden Abend stand ich nun an der Straßenecke nahe der Taverne und sah dabei zu, wie die Kinder mit Einbruch der Dunkelheit von den Jugendlichen zum Abendessen ins Haus gebracht wurden. Und wieder sah ich den Jungen mit den schwarzen Haaren und der flammenden Aura. Er unterhielt sich mit einem kleinen Jungen, aber ich verstand nichts davon. Als alle Kinder im Haus waren, drehte er sich noch einmal um und ließ seinen Blick über den Platz schweifen, hatte mich aber wohl nicht gesehen, da er sich wieder umwandte und im Inneren der Taverne verschwand.

Ich ergriff die Chance und legte mir den schweren Sack über die Schulter, lief mit schnellen Schritten über den Platz bis vor die Eingangstür der Taverne. Irgendwie musste ich sicherstellen, dass der Sack nicht irgendwelchen Obdachlosen zum Opfer fiel, sondern tatsächlich bei den Kindern ankommen würde. Kurzerhand stellte ich den Sack also vor der Tür ab, klopfte an und sprintete dann davon, zurück in mein Versteck an der Straßenecke. Gerade noch rechtzeitig kam ich dort an, als die Tür aufgerissen wurde und die flammende Aura auftauchte. Misstrauisch musterte er den Sack, sah sich dann um, ging schließlich in die Hocke um in den Sack zu sehen. Grüne Fäden schlangen sich durch seine Aura wie Ranken in der Hoffnung auf Sonnenlicht, als er den Inhalt betrachtete. Nochmals sah er hoch, schien mich aber nicht zu entdecken. Ich strahlte glücklich.

Nie zuvor hatte ich das Gefühl gehabt, in meinem Leben jemandem geholfen zu haben. Aber es war ein wunderbares Gefühl. Als ich wieder zur Taverne sah, war die Tür wieder verschlossen und der Sack samt dem Jungen im Inneren verschwunden. Zufrieden gähnte ich und beschloss, für heute schlafen zu gehen. Morgen würde ich wiederkommen. Wieder helfen.

Wieder den Jungen mit der Flammenaura sehen.

Den Schatten, der mir auf meinem Weg durch die Stadt wie ein böses Omen folgte, bemerkte ich nicht.

Ich folgte den verwinkelten Gassen, die ich nun schon seit Monaten kannte, wieder aufwärts in Richtung der Burgmauern. Ich kannte einen Geheimgang, der es mir erlaubte, ins Burginnere zurückzukehren, ohne durch das bewachte Haupttor zu müssen.

Von der einbrechenden Kälte der Nacht schaudernd erhöhte ich meine Geschwindigkeit, ich vermisste mein warmes Bett. Unvermittelt blieb ich vor einer Kreuzung stehen, an die ich mich nicht erinnerte. Rechts oder links?

"Suchst du den Weg zurück zu deinem Auftraggeber?", fragte mich plötzlich eine Stimme von hinten. Ruckartig drehte ich mich um und war fast geblendet von der flammenden Aura des Jungen, der wenige Meter vor mir stand, mit verschränkten Armen und kritisch zusammengezogenen Augenbrauen.

"Meinem... was?", fragte ich irritiert, meine blinzelnden Augen mussten sich erst an das Licht gewöhnen, dass die starke Aura des Jungen ausstrahlte.

"Demjenigen, der dich beauftragt hat, uns auszuspionieren.", entgegnete mein Gegenüber kalt und musterte mich von oben bis unten.

"Niemand hat mich beauftragt, euch auszuspionieren!", gab ich entrüstet zurück, jetzt hatte ich mich an die helle Aura vor mir gewöhnt und betrachtete meinerseits den Jugendlichen, der mir scheinbar nach wie vor nicht über den Weg traute.

Er hatte schwarze Haare und braune Augen, in denen das selbe lebendige Glühen auszumachen war, das auch seine Aura ausstrahlte. Von der konnte ich meinen Blick nicht ablassen, was den Jungen nur noch misstrauischer zu machen schien. Vermutlich dachte er, ich sei verrückt.

Legenden von Patria - Flammendes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt