90 BUCH FÜNF - Cieran

34 5 0
                                    

Das Unwetter peitschte über die winzige Nussschale hinweg, in der wir immer noch über das Meer segelten.

Inzwischen hatte der Regen etwas nachgelassen, aber die Wellen waren noch immer haushoch. Der Wind riss an dem kleinen Segel, das der Kopfgeldjäger längst eingeholt hatte. Mit jeder Welle fürchtete ich, dass das Boot kippen und kentern könnte. Doch das tat es nicht.

Und als wir wieder hoch oben auf einem weiß schäumenden Wellenkamm angekommen waren, sah ich die Küstenlinie der Insel in der Ferne.

"Wir sind bald da!", schrie ich gegen den Wind an, doch Adrastos starrte nur auf die nächste Welle, die uns beinahe überrollte.

Mein Magen war schon ganz flau vom ständigen Auf und Ab, doch ich hielt dem Wettergott an diesem Tag stand. Trotzdem war ich furchtbar erleichtert darüber, als das Boot schließlich auf Sand auflief. Adrastos musste mir gar nicht befehlen, auszusteigen, das tat ich bereits von ganz allein. Der Boden schien von der stundenlangen Überfahrt noch immer unter mir zu schwanken, aber meine Augen sahen, dass ich wieder auf festem Boden stand, und bereits das half.

Auch Adrastos verließ mit einem Sprung das Boot, dann kam er zu mir und wies mich mit einem Handzeichen an, mich von ihm wegzudrehen. Mir dämmerte, dass er mich wieder fesseln wollte.

Die Fesseln hatte er mir zuvor auf der Nusschale abgenommen. Wohin hätte ich auch fliehen sollen? In die stürmische See, um zu ertrinken?

"Ist das wirklich notwendig?", seufzte ich, der Kopfgeldjäger knurrte nur, zog meine Hände auf meinen Rücken und band sie mit einem Strick fest zusammen.

"Ich muss mal", fügte ich an. Ich hatte nicht wenig vom Wasser aus dem Fass getrunken, kein Wunder also.

Adrastos wies auf einen Busch.

"Wie soll ich mir mit zusammengebundenen Händen die Hose runterziehen?", fragte ich offen.

Wieder knurrte Adrastos, dann schnitt er mir die Fesseln wieder durch, wisperte in mein Ohr: "Wenn du irgendwas versuchst, schneide ich dir zuerst die Zehen, dann die Füße, dann die Finger ab."

Auch nachdem ich meine Blase geleert hatte, ließ mein Entführer mich ungefesselt laufen. Und das taten wir, schnell und unnachgiebig, weiter nach Nordwesten, ins Land hinein. Nicht zu weit nach Norden, der Kopfgeldjäger wollte offensichtlich nicht zu nah an Soria herankommen, eine der wohlhabendsten Städte der gesamten Insel.

"Vielleicht willst du mir ja jetzt verraten, wohin du mich bringst?", versuchte ich es erneut, als wir am Abend ein Nachtlager unterhalb eines Hügels aufschlugen.

"Ich weiß es nicht genau", überraschte Adrastos mich mit seiner Antwort.

"Du weißt es nicht genau?!", fragte ich ungläubig.

"Ich bringe dich zurück nach Illea. Vielleicht ist sie dort."

"Sie?", hakte ich sofort nach. Ertappt grummelte der Söldner, aber jetzt hatte ich ihn. Ich würde die winzig kleine Öffnung auf keinen Fall aufgeben, die sich in seiner sonst unüberwindbar anmutenden Fassade aufgetan hatte.

"Wer ist sie? Ist sie die Auftraggeberin, die mich tot sehen will?"

Adrastos schien nachzudenken, durchbohrte mich mit seinem zornigen Blick. Aber dann nickte er leicht.

"Wird sie sich denn freuen, wenn du statt meiner Leiche mich mitbringst?"

"Vermutlich nicht."

"Warum tötest du mich dann nicht?"

Jetzt hatte ich die Grenze übertreten. Die Flammen in Adrastos' Aura loderten auf, er erhob sich vom Baumstumpf, auf dem er Platz genommen hatte, und überwand die Distanz zwischen uns mit wenigen Schritten.

Dann hob er mich am Kragen vom Boden bis auf Augenhöhe hoch, da er größer war als ich, baumelten meine Füße in der Luft.

"Du würdest es nicht verstehen, du bist nur ein Kind", zischte er mir ins Gesicht.

Ich schloss meine Augen und senkte die Wand, die meine Emotionen von seinen abschirmten. Dann strömten sie in ihn hinüber. Angst, nur ein wenig, um mein Leben, um Ladon, der zweifelsohne unterwegs war, um mich zu finden, um die Zukunft Gorians, der ganzen Insel. Zorn, den ich meinem Entführer gegenüber empfand.

Und Liebe. Nicht für Adrastos, natürlich. Für ihn empfand ich nur ein wenig Mitleid. Er schien gezeichnet von Erfahrungen aus der Vergangenheit, die ihn unwiederbringlich verdorben haben mussten.

Die Liebe, die mich stark durchströmte, wann auch immer ich ihn vor meinem inneren Auge sah. Wann auch immer ich das Band spürte, das uns verband. Wann auch immer ich mich zurückerinnerte an die Zeit, die wir zusammen verbracht hatten, zu zweit, ohne Verpflichtungen, ohne unmittelbare Gefahr. Die Liebe für Ladon.

Die rauen Lippen des Söldners erbebten, als meine Gefühle ihn mit voller Wucht trafen. Die Hände, die mich hielten, begannen zu zittern.

"Wag es nie wieder...", brachte er hervor, dann schlug er mir fest ins Gesicht und ließ mich auf den Boden fallen.

Ich stöhnte auf, der unerwartete und starke Schlag brachte meine Nase zum Bluten. Ich drückte meinen Hemdärmel gegen meine Nase, um das Bluten zu stoppen. Adrastos hatte sich von mir abgewandt, von mir gingen keine Gefühle mehr zu ihm aus, aber er musste die Emotionen immer noch wie Nachbeben in sich wüten fühlen.

"Tu das nie wieder", zischte er noch einmal, doch sein oberflächlicher Zorn konnte nicht verstecken, wie er sich fühlte. Ich konnte die Tränen beinahe hören, die über seine Wangen liefen.

-

Er schlief nie, jedenfalls war er immer wach, wenn auch ich es war. Aber schlafen konnte ich ohnehin nicht mehr wirklich. Immer, wenn ich die Augen schloss, sah ich den Elfen. Und den Galgen. Und der Schmerz in meinem Hinterkopf erinnerte mich an den Fluch, den er ausgesprochen hatte.

Ich wusste nicht, wie ich dem entfliehen sollte. Ich hoffte einfach, dass es irgendwann nachlassen würde.

Aber bisher wurde es nur schlimmer. Auch in dieser Nacht, als mir vor Müdigkeit irgendwann von selbst die Augen zufielen, hatte ich dieselbe Vision. Und wachte am Morgen auf, als wären nur wenige Augenblicke vergangen.

Halt gab mir nur Ladon. Er war nicht hier, aber er lebte und er suchte nach mir. Irgendwann würden wir uns wiedersehen.

Legenden von Patria - Flammendes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt