11 BUCH EINS - Cieran

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Die Nacht verging, der Tag verging, die Nacht brach an. Und ich war wirklich nicht erneut hinunter in die Stadt geschlichen. Nicht aus Trotz oder aus Wut - ich hatte einfach zu viel Angst. Angst davor, Ladon wiederzusehen, Angst davor, dieses Mal von ihm selbst verjagt zu werden. Ich war mir nicht sicher, ob ich denselben abweisenden Blick in den Augen des Jungen mit der Flammenaura ertragen könnte, wie ich ihn in den Augen des Mädchens hatte ertragen müssen, die mich zuvor abgewiesen hatte.

Ich wusste nicht, ob ich wirklich nicht mehr hinuntergehen würde. Vielleicht irgendwann. Wenn ich es geschafft hatte, neuen Mut zu fassen. Wenn Ladon mich vergessen hatte. Vielleicht dann.

Ich stand am Fenster und sah auf die Stadt hinunter, die in der Dunkelheit der Nacht schlief, sich auf den nächsten geschäftigen Tag vorbereitete. Wenige Menschen waren auf den Straßen unterwegs, kleine Ameisen im Haufen. Ihre Auren schimmerten nur schwach, manche sah ich überhaupt nicht, sie waren zu weit weg, hatten zu wenig Ausstrahlungskraft. Nur eine erkannte ich sofort. Die Flammen, die weit entfernt um eine winzige Gestalt loderten, die auf den Dächern saß. Ladon war da. Was er da oben wohl tat? Ich schüttelte den Kopf, wollte nicht weiter darüber nachdenken und wandte mich vom Fenster ab.

In jener Nacht schlief ich unruhig, die erste Nacht, die ich seit langem wieder vollkommen in meinem Bett verbringen wollte. Ich fühlte mich einsam. Allein in dieser riesigen Burg, alleingelassen von meinen Eltern, meinen Freunden. Dabei waren das nicht wirklich Freunde. Es waren erzwungene Bekanntschaften, mal die Kinder des Schatzmeisters, mal die Kinder des Oberhaupts der Leibgarde meines Vaters. Alle waren Kinder, die sich viel auf ihre hochrangigen Väter einbildeten. Ich mochte sie nicht. Ihre Auren hatten sich - wie die ihrer Eltern - mit zunehmendem Alter gelb verfärbt, sie hatten sich den höfischen Verhaltensweisen angepasst.

Von der einzigen, die ich wirklich als Freundin bezeichnet hätte, Atarah Firven aus dem fernen Tofania, hatte ich seit Ewigkeiten keinen Brief mehr erhalten. Vielleicht hatte sie das Interesse an mir verloren.

Ich fuhr aus meinem dämmrigen Schlaf hoch, als lautes Geschrei in der Burg laut wurde. Ich verstand kein Wort, aber die Angst in den Stimmen riss mir die Schläfrigkeit von den Augen wie Schleier.

Jemand riss meine Tür auf, eine Wache.

"Euer Vater will Euch sehen, sofort!"

Ich setzte mich auf und fragte: "Was ist denn los?"

Die Wache schlug die Tür wieder zu, ohne mir zu antworten. Dann bemerkte ich die orangefarbenen Lichtschimmer vor dem Fenster. Als würde die Luft in einem immerwährenden Feuer glühen.

Meine Füße trugen mich zum Fenster, bevor ich überhaupt weiter darüber nachdachte. Ich riss meine Augen auf, als ich auf die Stadt hinuntersah. Flammen. Teile des äußeren Armenviertels am Rande der Stadt standen bereits in Flammen, zunächst erkannte ich keine Ursache für das Feuer. Es war nicht das erste Feuer, das ich in den Armenvierteln brennen sah, doch normalerweise gab es nur einen Brandherd, einige Häuser, die sein Vater getrost abbrennen ließ, ohne etwas zu unternehmen. Jetzt aber standen viele Häuser an verschiedenen Stellen in Flammen, Feuer also, das unmöglich an einem Ort ausgebrochen sein konnte.

Dann sah ich den ersten Flammenball, der durch die Luft über den Häusern hinwegschoss und sich in ein bisher unversehrtes Haus grub, das binnen weniger Sekunden komplett in Flammen stand. Katapulte. Jemand schoss entzündete Geschosse von den Außenbezirken in die Stadt hinein. Dann durchfuhr mich ein eiskalter Blitz. Das Geschoss war unweit des Platzes eingeschlagen, an dem sich die alte Taverne befand. Ladon war in Gefahr.

Instinktiv warf ich mir meinen Umhang über, der meine Herkunft zweifellos verraten würde, aber ich dachte nicht weiter darüber nach. Ich musste Ladon helfen. Es interessierte mich nicht, was mein Vater wollte. Ich würde Ladon helfen und ihn in die Sicherheit der Burg bringen, mitsamt den Kindern. Die Wachen würden mir den Eintritt nicht verweigern, und um den Unwillen meines Vaters würde ich mich später kümmern. Auf dem Gang schubste ich einen Soldaten beiseite, der mich zu meinem Vater bringen wollte, und stürzte förmlich die Treppe hinunter in die Kerker, bis zum geheimen Ausgang. Ich würde das Richtige tun und Ladon würde mir vertrauen.

Legenden von Patria - Flammendes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt