Weder A noch B, C oder D

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Irgendetwas bewegt sich auf mir. Abrupt reiße ich die Augen auf und atme schnell und tief ein. Ich bin wach! Alucard sieht mir gelassen entgegen und ich lasse meinen Kopf langsam wieder sinken. Die Augen auf Halbmast. Gähnend sehe ich an die Decke. "Wie kann ein Mensch nur so viel schlafen." Entgeistert blicke ich wieder zu ihm. "Braucht viel Training. Ist so ungefähr das Einzige, was ich wirklich gut kann." Langsam setze ich mich auf, während der schwarzhaarige von mir herunter geht. Die Augen reibend, beuge ich mich leicht nach vorn. Ja, wach bin ich. Aber logische Dinge darf man nicht erwarten. "Du weißt, dass das nicht stimmt.", knurrt Alucard und ich sehe zu ihm hoch. Er hat sein Gesicht verzogen. Ist genervt. "Dein mangelndes Selbstwertgefühl ist zum kotzen!" Schuldbewusst sehe ich auf die Seite. Ich weiß es. Ich weiß es! Aber ich mache es trotzdem.

"Wenn du damit aufwächst, nirgendwo dazu zugehören, brennt sich das eben ein. Wenn du nie gut genug für irgendetwas bist. Du gehörst nicht zu A. Nicht zu B. Nicht einmal zu C oder D. Du hast keine Zugehörigkeit, weil du nicht so bist, wie sie alle denken, dass du sein solltest. Zu männlich für die Mädchen, weil ich Fußball gespielt habe und keine Puppen mochte. Zu weiblich für die Jungs, weil ich eben ein Mädchen war. Ausgenutzt von vorn bis hinten. Das Ausweichgleis für alle sein. Man wird erst in Betracht gezogen, wenn niemand anderes Zeit hat. Ach die Flo! Die freut sich ja, wenn ich mit ihr spiele, weil sonst keiner Zeit hat!" Mein Blick ist kalt, als ich wieder zu dem schwarzhaarigen sehe. "Du warst nur gut genug, wenn niemand anderes da war. Sonst wurdest du ignoriert. Ich wurde aus meinem Lieblingssport gemobbt, weil ich besser war als die Jungs. Und dann kam das Frustfressen."

Mit leicht verzogenem Gesicht sehe ich an mir hinunter. "Ich meine... man siehts ja. Bis ich ausgezogen bin und mehrere Kilometer, oder in dem Fall Meilen, von daheim weg war, hat sich das nicht geändert! Oder nur selten. Und das war vor vier Jahren. Erst seit dem Zeitpunkt habe ich Freunde. Ein gutes Klima in der Berufsschule oder der Arbeit. Erst seitdem habe ich meine Ruhe! Meinst du ich kann ein Verhalten, dass ich 17 Jahre lang täglich durchlebt habe, einfach so ändern? Ich bin mir eben nicht sicher, was geht und was nicht! Wie denn auch, wenn ich es nie gelernt habe? Man, Alucard... Könntest du innerhalb von einem kleinen Zeitraum Dinge in deinem Verhalten ändern, die du fast zwei Jahrzehnte ausgeführt hast?" Seufzend fahre ich mir durch die Haare. "Für den Mist bin ich jetzt eh schon ziemlich sozial geworden. Ich meine... Ich lasse Leute an mich ran und vertraue."

Alucard steigt ein wenig umständlich aus dem Bett aus und mir fällt erst jetzt auf, dass es uns beide ohne Quietschen oder Knarzen ausgehalten hat. Supi! "Du. Ich. Heute Nachmittag. Stadt. Wir müssen das irgendwie beheben. Ansonsten geht mir das für eine Ewigkeit auf die Nerven." Perplex starre ich ihn an, ehe ich langsam einen Finger hebe. "E-Ehm... nicht für Ewig. Vielleicht... noch 50 oder 60 Jahre?" Der schwarzhaarige streckt sich ein wenig und nimmt den Hut, den er wohl auf den Schreibtisch gelegt hat. "Das wäre durchaus eine lange Zeit, die ich nicht mit deiner Negativität verbringen möchte. Sollte kein Auftrag erteilt werden, steht der Deal." Er geht zur Tür und zieht sich die Schuhe an. "Vergiss nicht zu frühstücken. Ich brauche dein Blut. Also musst du in annehmbarer Verfassung sein. Wir treffen uns draußen. Zwei Uhr." Und ohne, dass ich etwas erwidern kann, verschwindet er durch die Mauer neben der Tür.

Immer noch kann ich nur starren. Was... war das? Irgendwie ist es unheimlich, wenn er plötzlich so zuvorkommend ist. Nett! Wirklich! Aber so urplötzlich ist es eben... gewöhnungsbedürftig. Siedend heiß fällt mir ein, dass ich noch einen Patienten habe und flitze fluchend los. Vergesse sogar die Schuhe anzuziehen und bleibe keuchend in meinem Büro stehen. Während ich nach Luft schnappe und mir die weißen Schlappen anziehe, die ich zum Glück immer ersatzweise hier habe, sehe ich auch auf die Uhr. Halb 10 vormittags. Fuck! Mit einem einigermaßen regelmäßigem Schnaufen komme ich im Patientenzimmer an. Dort darf ich mir erst einmal anhören, dass der arme, arme Söldner noch nichts zu Essen oder Trinken hatte und ich verspreche, ihm etwas zu holen, sobald die Untersuchung abgeschlossen ist. Die Wunde sieht aber gut aus. Noch ein wenig taub, aber das wird sich im Heilungsprozess wieder legen. Keine Entzündung. Keine großartige Schwellung, außer die normale. Sehr gut!

Kopfschüttelnd stehe ich in der Küche und lasse einen Kaffee runter. Auf dem Tablett steht schon ein Teller mit zwei Scheiben Brot, Käse und Marmelade. Der Wunsch des Patienten. Nur noch auf das schwarze Gold warte ich, dass ich mir nachher selbst hinter die Binde kippen werde. Ich... habe... Hunger. Aber erst die anderen. Alucard hat sein Blut. Mein Patient gleich sein Frühstück. Integra hoffentlich auch schon. Bei Seras weiß ich nicht, wie es aussieht und bei Pip bin ich mir auch noch unsicher. Mit dem Tablett in der Hand, balanciere ich den Kaffee, ohne dass ich ihn ausschütte und bringe ihn so unversehrt in das Krankenzimmer, worauf hin ich ihn allein lasse. Den ersten Wundbericht schreibe ich ebenfalls auf und drucke ihn aus, um ihn in die Akte zu legen. So kann ich mir sicher sein, dass der Verlauf immer gleich bleibt und da ich nicht weiß, ob es Wundheilungsstörungen gibt, kann ich es so einigermaßen im Auge behalten. Die Schuhe ziehe ich wieder aus, nachdem er fertig ist.

Das leere Tablett nehme ich wieder mit, spüle alles in der Küche und mache mir selbst etwas zu essen und einen Kaffee, ehe ich mich hinsetze und die Zeitung lese, die glücklicherweise immer auf dem Tisch liegt. Wahrscheinlich von der Frühschicht der Söldner. Aber wirklich etwas interessantes steht nicht in dem Papier. Wiederholungen von der Zeitung vom Vortag. Und höchstens ein oder zwei Neuigkeiten, die aber nicht der Rede wert sind und mich oder die Organisation nicht betreffen. Stattdessen starre ich in die schwarze Flüssigkeit hinunter, da ich den Kaffee ohne alles trinke. Zuhause... wo habe ich eigentlich mein Zuhause? Ist es hier? In meiner ursprünglichen Welt? Werde ich eigentlich wieder zurück kommen? Und ein weiterer Gedanke blitzt auf. Will ich überhaupt zurück? Ich meine... hier gefällt es mir immer mehr. Ich habe meine Aufgaben. Habe meine Ruhe, wenn ich es brauche. Und in meiner eigentlichen Welt ist alles so stressig. So hektisch! Von dir wird so viel verlangt. Du hast keine Ruhe, weil man dich immer irgendwie erreichen kann. Du bist eine Nummer. Und... ich bin doch eh schon verschwunden. Seit einem halben Jahr. 

Point of no returnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt