Kapitel 16

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Das Zimmer, in dem ich mich befinde, ist sehr schlicht gestaltet - an der Wand hängt ein Bild von einer Landschaft und außer einer kleinen Kommode, zwei Lampen und dem Bett, gibt es hier keine Möbel. Das darf nicht wahr sein. Ich fasse mir erneut an meinen Kopf. Okay, bevor ich in totale Panik gerate, suche ich Hinweise, die darauf deuten, dass ich mich in einem Hotelzimmer befinde. Keine Chance. Es ist viel zu - persönlich. Außerdem, wieso zum Teufel sollte ich mich in einem Hotel befinden? Ich blicke an mir herab. Was ist bloß geschehen? Ich trage noch die Klamotten von gestern. Ich war mit Mary feiern, und dann? Plötzlich kommt alles hoch. Die Shots, David im Club, mein Fluchtversuch, der Mann in der Seitengasse und - er. In meinem Kopf bildet sich ein einziges Fragezeichen. Ich habe so viele Fragen, doch eine, die jetzt an erster Stelle steht. Wo bin ich? Noch etwas wackelig stehe ich auf und gehe zum Fenster. Langsam schiebe ich den weißen Vorhang zur Seite und erblicke eine belebte Straße und mir bekannte Geschäfte - ich befinde mich also in Wien. Wenigstens etwas. Ich schaue an mir herab - das wäre die zweite Strumpfhose, die kaputt gegangen ist und nun im Müll landet - na toll. Etwas misstrauisch schaue ich mich im Raum um. Was sind die möglichen Szenarien, die passiert sein könnten? Das letzte, woran ich mich erinnern kann ist der Mann, der mich in der Gasse belästigt hat und -. Ein lautes Geräusch unterbricht meine Gedanken. Es hört sich an wie ... Wasser? Es kommt aus der rechten Ecke des Zimmers - dort befindet sich eine große Türe, die weiß eingerahmt ist. Ohne großartig darüber nachzudenken, gehe ich auf sie zu und lausche. Soll ich warten oder versuchen, sie zu öffnen? Ich habe keine Ahnung wo ich bin, vielleicht sollte ich alles tun, um dies herauszufinden - also öffne ich die Türe. Ohne Erfolg, sie ist verschlossen. Dann schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Mein Handy! Meine Augen suchen das ganze Zimmer danach ab, doch ich kann es nicht finden. Vielleicht im Bett? Stürmisch schlage ich die Decke zur Seite, die riesigen Polster und finde zwar kein Handy - jedoch einen Hinweis darauf, wo ich mich befinde. Durch das ganze Aufwühlen des Bettbezuges steigt mir ein nur allzu bekannter Duft in die Nase. Minze, gemischt mit einem Parfüm. Sein Parfüm. Wie konnte mir das zuvor entgehen? Oder noch wichtiger - was mache ich hier? Das kann nicht wahr sein - vielleicht habe ich mir das eingebildet. Ja klar! Jetzt fällt es mir ein - er hat mich ins Auto getragen und anscheinend hierher gebracht. Ist das hier seine Wohnung? Einerseits hoffe ich sehr, dass ich richtig liege, da ich sonst bei einer fremden Person im Bett liegen würde, andererseits würde das heißen, ich liege im Bett des Bundeskanzlers - ich weiß nicht, was schlimmer wäre. Mit einem Mal öffnet sich die Türe, an der ich vor wenigen Minuten noch gelauscht habe. Ich kann meinen Augen nicht trauen. Da steht er, mit dem Rücken zu mir gedreht - bloß mit einer schwarzen Jeans gekleidet. Meine Kinnlade fällt runter - vor mir steht doch tatsächlich der Bundeskanzler oben ohne. In den Händen hält er ein ebenso schwarzes T-Shirt, dass er sich gerade überstreift. Seine Rückenmuskeln zucken, als er sich das Shirt zurechtrückt. Ist die Luft hier drinnen plötzlich stickiger? Mein Blick wandert von seinen nassen Haaren, bis zu seinem unteren Rücken. Im nächsten Moment dreht er sich um und ich halte vor Schreck die Luft an. "Sophia! Sie sind schon wach!". Das ist das erste Mal, dass ich ihn so sehe. Er ist nicht perfekt gestylt, seine Haare sind noch feucht und wir beide sind hier alleine, er muss keine große Menge an Leuten beeindrucken. Sein Blick verrät mir, dass er genauso überrascht ist wie ich. "Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie um diese Uhrzeit schon wach sind, deshalb habe ich dieses Bad hier benützt." Er lächelt. Was heißt dieses Bad hier? Gibt es mehrere? Bevor ich antworten kann, setzt er fort. "Sie haben sicherlich Fragen zu gestern." Er lässt mich keine Sekunde aus den Augen, irgendwie schüchtert mich das total ein, jedoch gibt es nichts vergleichbares. "Die habe ich tatsächlich". Ich versuche, möglichst freundlich zu wirken, aber ich klinge wahrscheinlich fordernd, da ich wissen möchte, wie ich hierhergekommen bin und was gestern Abend passiert ist. Er blickt mich eindringlich an. "Ich weiß, Sie möchten alles so schnell wie möglich geklärt haben, aber ich habe ein Meeting in genau -". Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. "- 20 Minuten". Will er, dass ich hier warte? "Ich habe für Sie in dieses Bad hier einige Hygieneprodukte legen lassen. Sie können sich, natürlich nur wenn Sie möchten, hier frisch machen und dann bringt Sie mein Fahrer zurück zu Ihrer Wohnung." Er beugt sich zu mir vor, um in die Kommode zu greifen. Die Sonne strahlt in sein Gesicht und seine blauen Augen funkeln - mein Herz macht einen Sprung. "Hier befindet sich ihr Handy." Er holt es aus der Schublade und übergibt es mir. Ich greife danach und unsere Finger berühren sich für einen Moment. Er kommt näher und schaut mir direkt in die Augen. Ich kann nicht anders, als wie hypnotisiert in seine Augen zurück zu starren. Ich nehme mein Handy und er zieht langsam seine Hand wieder zu sich. "Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn Sie sich am späteren Nachmittag Zeit nehmen könnten, damit ich Sie zum Essen ausführen kann." Was? Er möchte Mittagessen gehen? Ich tue so, als würde ich einen Moment überlegen - ich darf es ihm nicht immer so einfach machen. Eigentlich sollte ich mich fragen, warum er denkt, dass ich immer Zeit habe, wenn er Zeit hat. Aber momentan denke ich eher wenig. Alles was ich machen kann ist, in seine blitzblauen Augen zu schauen. Er ist einer dieser Menschen, bei denen man das Gefühl hat, viele Emotionen aus den Augen ablesen zu können - sofern er es zulässt. "Ich denke, -". Sein Atem stockt für einen Moment, oder bilde ich mir das ein? "-das lässt sich einrichten." Ich sehe Erleichterung in seinen Augen. "Passt Ihnen 17:00 Uhr?". Ich stimme zu. "Perfekt, ich hole Sie dann ab und freue mich, sie ausführen zu dürfen". Er schenkt mir ein Lächeln und richtet sich wieder auf. "Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Tag!". Ich bedanke mich und wünsche ihm ebenfalls einen schönen Tag. Dann geht er. Was ist gerade passiert?











Nachdem ich mich in seinem Bad ein wenig frisch gemacht habe, stehe ich nun im Schlafzimmer und betrachte es noch einmal. Wie viele Menschen haben schon das Schlafzimmer des Bundeskanzlers von innen gesehen? Ich schmunzle. Keine Ahnung warum, aber ich habe mir alles etwas, naja, altmodischer vorgestellt - traditioneller. Ich frage mich, wie er mir so sehr vertrauen kann, dass er mich hier alleine lässt. Mit meinem Handy in der Hand öffne ich die Türe neben dem Badezimmer und gehe hinaus. Auf allen Fensterbänken befinden sich Blumen, aber außer denen ist alles sehr kalt. Nirgends findet man Farben, alles ist sehr schlicht gehalten. Irgendwie spiegelt das seine Persönlichkeit wider. Er hat immer eine Antwort parat, ist so gut wie niemals nervös und wirkt sehr - glatt. In mir macht sich das Gefühl breit, dass es auch eine andere Seite gibt. Eine Seite, die er nicht vielen offen zeigt. Vielleicht macht das einen guten Bundeskanzler aus - keine Schwäche und nicht allzu viele Emotionen zeigen. Ich gehe weiter und komme an einer grauen, eher kleinen Couch vorbei, die sich gegenüber von einer offenen Küche befindet. Alles in dieser Wohnung ist auf seinem Platz und sehr sauber gehalten. Hat er jemanden, der das für ihn erledigt? Klar - wann sollte er bloß die Zeit dafür finden. Oder er ist so gut wie nie zu Hause, das heißt, er kann auch keine Unordnung machen. In meinem Kopf entsteht ein Bild, das ihn beim Wäsche waschen zeigt. Wie absurd das wirkt, bestimmt bringt er seine Sachen zur Reinigung. Weiter geht es durch einen etwas längeren Gang. Nirgends hängen Bilder oder Deko. Dann sehe ich auch schon eine Türe, die bestimmt hinaus führt. Davor stehen zwei Paar schwarze Anzugsschuhe und - meine Schuhe. Ich ziehe sie an und gehe nach draußen. Auf der anderen Straßenseite sehe ich auch schon den schwarzen BMW. Ich frage mich, wie das sein muss, wenn es dein Job ist, den ganzen Tag auf jemanden zu warten. Als ich die Straße überquere, fällt mir auf, dass ich in dieser Gegend schon einmal war - ich kann mich bloß nicht mehr erinnern warum. 















Nachdem wir etwas über zwanzig Minuten gefahren sind, packe ich meine Tasche, die er ins Auto gelegt hat, bedanke mich und steige aus. Oben in meiner Wohnung angekommen setze ich mich auf mein Sofa. Was war das? Ich habe das doch nicht wirklich erlebt. Mary! Ich muss sie anrufen! Dann denke ich daran, wie sich mich gestern alleine gelassen hat. Ich will nicht sagen müssen, so ist sie eben aber naja - so ist sie eben. Und das weiß ich auch. Sie liebt das Feiern und mag es, wenn sie tun und lassen kann, was immer sie auch möchte. Langsam muss ich kapieren, dass ich nicht böse auf sie sein kann, weil wir nicht gemeinsam nach Hause gehen. Ich wähle also ihre Nummer. Nachdem ich ihr alles erzählt habe, was ich von gestern noch weiß, mache ich eine kurze Pause und hole Luft. "Sophia! Ich kann nicht glauben, was du da sagst!!!". Ich ehrlich gesagt auch nicht. "Ich weiß, es ist verrückt. Ich weiß nicht mal wieso. Er sagt es mir heute Abend". Dann quetscht sie mich über jedes Detail aus. Ich weiß selbst nicht viel, aber ich erzähle ihr von der Suche nach meinem Handy und, dass er mir eine frisch verpackte Zahnbürste, eine Bürste und drei verschiedene Shampoos ins Bad gelegt hat. "Du glaubst nicht, wie wunderschön das Bad war. Er hat eine von diesen Duschen, in denen man drinnen gehen kann, weil so viel Platz ist! Das Bad war so groß, dass neben einer Badewanne, einer Dusche und einem riesigen Waschbecken noch ein überdimensionaler Schrank Platz gefunden hat!". Dann lasse ich die "ich habe den Bundeskanzler oben ohne gesehen"-Bombe platzen. Mary schreit. Dann sagt sie gar nichts. "DU HAST WAS?". Ich lache. "WAS ZUM!". Genau was ich erwartet habe. "WIE sieht er aus? Heiß oder? Ich weiß es einfach!!". Dann erzähle ich ihr davon, wie er sein Shirt über seinen Oberkörper gestreift hat und dann näher gekommen ist. "Sophia! Du warst beim Bundeskanzler im Bett!! Warte - wo hat er geschlafen?". Ich erzähle ihr nochmals von dem Essen heute und, dass ich dort alles erfahren werde. "Mary, ich muss jetzt duschen gehen und ich verspreche, ich rufe dich nach dem Treffen an." Überraschender Weise zeigt sie kurz bevor wir auflegen etwas Reue. "Ich wollte mich auch wegen gestern entschuldigen ich-". Ich unterbreche sie. "Alles ist gut". Kurz darauf lege ich auf und lasse in meinem Badezimmer meine Klamotten zu Boden fallen. Dann steige ich in meine Dusche und lasse die letzten Stunden noch einmal in meinem Kopf Revue passieren.

Die romantische Seite der Politik (Sebastian Kurz)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt