Kapitel 30

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Mein Herz rutscht in meine Hose. Warum sagt er sowas? Ich wende den Blick ab und lasse mich in den Sessel fallen. Insgeheim warte ich noch immer darauf, dass das ein Witz war. "Wir haben Spaß, das gebe ich zu aber -". Meinem Inneren Ich fällt die Kinnlade herunter. Äußerlich versuche ich mir nichts anmerken zu lassen. Mein Körper erstarrt. Das ist es. Das ist, wovor ich am meisten Angst hatte. Alles was ich denken kann ist: Ich habe mich getäuscht. Ich kann nicht fassen, was ich da gerade höre. Ich will nicht, dass er weiterredet. "- aber das war's auch schon". Mir wird übel. Ich muss hier sofort raus. Ich wage einen Blick in sein Gesicht und sehe, nur für einen kurzen Moment, dass sein Gesichtsausdruck von spöttisch zu besorgt wechselt. Doch das bilde ich mir höchstwahrscheinlich auch nur ein. Wie alles was bisher passiert ist. Langsam überkommt mich ein Gefühl von Peinlichkeit. Ich sitze hier vor dem Bundeskanzler und höre mir an, dass es 'uns' gar nicht gibt. Ich bin den Tränen nahe. Ich kann nicht vor ihm weinen. Ich versuche noch letzte Worte aus meinem Mund zu pressen. "Ich muss los". Ich stehe abrupt auf und verlasse den Raum so schnell ich kann. Ich drehe mich für einen kurzen Moment noch ein letztes Mal um. Er kneift seine Augen zusammen. Ist er erleichtert? Ich kann den Blick nicht deuten. Im Gang wische ich mir eine Träne aus dem Gesicht und gehe an dem Porträt vorbei und weiß genau, dass ich es nun zum letzten Mal sehen werden. Ich höre hinter mir keine Schritte. Kein Zurückhalten. Kein 'Warte!'. Kein 'Ich hab das nicht so gemeint'. Weil es das nicht gibt. Er hat es genauso gemeint. Und das schon die ganze Zeit über. Hektisch ziehe ich mir meine Schuhe an und packe meine Tasche. Dann stürme ich aus der Eingangstüre hinaus, die überraschenderweise offen ist. Waren all diese Momente schlichtweg Lügen? Sein Fahrer steht vor der Türe und ich bemühe mich, nicht vor ihm in Tränen auszubrechen. Noch nicht allzu lange her hat er mich aus einem Studentenwohnheim geholt. Wofür? "Sophia, darf ich Sie wohin fahren?". Ich laufe an ihm vorbei und sobald er mein Gesicht nicht mehr sehen kann, schütte ich mein Herz aus. Ich laufe in Richtung U-Bahn Station. Hatte Mary die ganze Zeit über Recht? Habe ich mir zu viel eingebildet und sie wusste von Anfang an, dass es nicht mehr als das ist? Ich starre den Sitz gegenüber mir in der Bahn an. Wie konnte ich bloß so naiv sein. Wann hab ich den Moment verpasst, mich doch nicht auf ihn einzulassen? Doch ein Gedanke lässt mich nicht los. Warum hat er so viel riskiert? War das bloß der Einsatz für ein krankes Spiel, das er spielt? Warum lässt er mich in seiner Wohnung schlafen? Warum riskiert er, in der Öffentlichkeit mit mir gesehen zu werden? Warum nimmt er mich auf Wahlveranstaltungen mit? Er war so oft mit mir essen, was für eine Art von Spiel ist das? Ich verstehe gar nichts mehr. Sein Team, seine Leute, der Reporter - alle haben uns gesehen. Wenn das alles nur Spaß ist, warum hat er mich dann nicht privat getroffen - geheimer? Mein Kopf pocht und ich bin unglaublich müde von dem vielen Denken. Ich werfe einen kurzen Blick auf mein Handy. Nichts. Was habe ich mir erwartet? Dass er wieder mit einem Strauß Blumen kommt? Das wird nicht passieren. Ich kann noch immer nicht fassen, was passiert ist. Das kann ich mir doch nicht alles eingebildet haben oder? All die Emotionen, all die Gesten. Er war der einzige, den ich nach dem Desaster mit meiner Mutter angerufen hätte. Er ist gekommen und hat mich zu sich nach Hause gebracht, ohne seinen Fahrer. Das war persönlich und nicht irgendeine Art von 'Spaß'. Mein Kopf pocht noch heftiger als vorher.




Ein lautes Klopfen reißt mich aus dem Schlaf. Wie spät ist es? Ich schaue aus dem Fenster - die Sonne strahlt in mein Zimmer. Ich dürfte gestern, nachdem ich nach Hause gekommen bin, eingeschlafen sein. Wer ist das? In mir baut sich Hoffnung auf. Ich stürme aus dem Zimmer und laufe ich so schnell ich kann zur Eingangstüre. Okay, beruhige dich. Ich sehe ihn schon vor mir stehen. "Überrasch-". Der gestrige Abend läuft wie ein Film in meinem Kopf ab. 'Wir haben Spaß, das gebe ich zu aber das war's auch schon.' Ich kann nicht anders, als in Tränen auszubrechen. Schon wieder. Mary steht vor mir und schaut mich besorgt an. Sie lässt ihre Tasche fallen und nimmt mich in den Arm. "Sophia, was ist los? Was ist passiert?" Ich brauche sie jetzt und beschließe, die Sache mit Lukas hinter mir zu lassen. Denn das tut nicht so weh, wie die Sache mit ihm. Ich spüre den Druck auf meiner Brust. Wie lange werde ich mich so fühlen? "Komm, setz dich." Sie schließt die Türe und führt mich zur Couch. Ich beginne zu erzählen. Ich berichte ihr über die Abende, an denen er mich ausgeführt hat und bei ihm übernachten ließ. Von den Küssen und der Rettung vor meiner Mutter. Ich erzähle ihr von seiner Großmutter und dem Bild in seinem Gang. Ich fühle mich etwas erleichtert, da ich all die Sachen loswerden kann. Ich erzähle ihr weiter von dem gestrigen Abend und beginne zu stottern. Die ganze Zeit über habe ich auf meine Hände gestarrt. Ich warte ihre Reaktion ab und blicke in ihr Gesicht. Sie setzt einen etwas komischen Blick auf - einen Blick, den ich nicht kenne. Sie zieht ihre Augenbrauen nach oben und sucht nach passenden Worten. "Sophia, ich-" Im nächsten Moment lehnt sie sich zurück. "Ich muss dir ehrlich sagen, ich wusste nicht, dass es zwischen euch so ernst ist." War. Es war so zwischen uns. Das ist nun vorbei. "Wir haben uns nicht mehr so oft gesehen und ich bin davon ausgegangen, dass das Ganze bei zwei, drei Treffen und einem lockeren Flirt geblieben ist". Sie richtet sich wieder auf. "Er hat dich von wirklich von deiner Mutter abgeholt? Und vom Studentenwohnheim? Der Mann, der dich aus dem Zimmer rausgeholt hat, war sein Fahrer?". Mary ist sprachlos. "Sophia, das alles klingt ziemlich, naja, ziemlich schlimm." Das war nicht die erhoffte Reaktion. Mary findet etwas ziemlich schlimm? So habe ich sie sehr selten erlebt. "Warum hast du ihm an dem Abend gesagt wo du bist? Wolltest du, dass er dich abholt?". Ich schüttle den Kopf. "Nein." Sie blickt mich fragend an. "Ich hab ihm nicht gesagt, wo ich bin." Sie scheint schockiert zu sein. Und jetzt, wo ich es ausgesprochen habe, sollte ich das eigentlich auch sein. "Sophia, woher wusste er, wo du bist - auf das Zimmer genau?" Ich schüttle erneut den Kopf. "Ich weiß es nicht." Das Problem an der ganzen Sache ist, dass ich ihm nicht böse bin. Sein Fahrer ist genau rechtzeitig ins Zimmer gekommen. Doch das kann ich Mary nicht sagen. Sie würde es nicht verstehen. Das ganze Trinkspiel war pure Unterhaltung für sie. So ist sie eben. Vielleicht ist er auch eben so? Tief im Inneren versuche ich sein Verhalten zu rechtfertigen. "Vielleicht ist ihm alles einfach zu viel geworden. Mit den kommenden Wahlen und-". Mary unterbricht mich sofort. "Nein. Das tust du jetzt nicht. Er hat dich gestalkt und dich dann stehen gelassen." Ihre Worte treffen mich wie ein Schlag. Sie bereut es sofort, als sie meinen Gesichtsausdruck sieht. "So war das nicht gemeint, aber du weißt, dass ich recht habe." Wir sitzen nun beide still da. Sie hat keine Ahnung, wie ich mich gefühlt habe wenn ich bei ihm war. Das Gefühl von seinen Lippen auf meinen. Das Gefühl von Sicherheit. Ich kann ihr das alles noch so oft versuchen zu erklären, sie würde es nicht verstehen. Niemand würde das. "Weißt du, Männer in Machtpositionen spielen gerne solche Spielchen. Ich bin Reporterin, ich weiß wovon ich spreche." Was will sie damit erreichen? Dass ich mich besser fühle? Ich lasse mich in die Couch sinken. War das alles wirklich ein Spiel? Hat er das mit anderen auch gemacht? War er nie an mehr als nur Spaß interessiert? Was hab ich mir erwartet von all dem? 'Hey Mama, Hey Papa - das ist mein neuer Freund'. Ich muss schmunzeln. Doch dieser Gedanke würde für immer nur ein Gedanke bleiben. Ich kann mit Mary diese Gedanken nicht teilen, sie hat von Anfang an nur den attraktiven Bundeskanzler in ihm gesehen. Doch da gibt es mehr. Er hat mir seine Reden vorgetragen. Ich hatte das Gefühl, gehört zu werden. Würde ich das Mary erzählen, würde sie lachen. Weil sie an der anderen Seite sitzt. Sie macht Alex absichtlich eifersüchtig und gibt anderen Jungs ihre Wohnungsschlüssel. Sie trinkt jedes Wochenende und steht auf lockere Flirts. Vielleicht ist es das was er will. Vielleicht hätte sein Fahrer am ersten Abend lieber Mary anfahren sollen. Mary unterbricht meine Gedanken - zum Glück. "Versprich mir nur, dass du nicht wieder auf ihn reinfällst und dich auf ihn einlässt okay? Solche Männer versuchen es immer wieder." Ich schnaufe auf. Ich hasse es, wie sie über ihn spricht. 'Solche Männer'. "Sophia, versprich es mir!". Ich nicke. "Eine Frage hätte ich noch." Was um alles in der Welt könnte sie jetzt noch fragen. "Hast du mit ihm geschlafen?". Ich spüre, wie ich erröte. Ich bin kein Kind mehr. Warum erröte ich bei diesem Thema? Ich denke über alle potentiellen Gelegenheiten nach. Er hat nie eine davon genützt. "Nein, dazu kam es nicht." Was nur gut für mich ist, denn ich wüsste nicht, wie sehr er mich damit in seinen Bann gezogen hätte. Meine Backen glühen. Ich erinnere mich an das Gefühl, unbedingt von ihm geküsst werden zu wollen. "Wolltest du nicht?". Doch genau das ist das Problem an der ganzen Sache. Hätte er mich bloß ausgenützt, warum haben wir dann nicht einmal im selben Bett geschlafen? Er hat es nicht einmal versucht. Ich antworte ihr nicht. Denkt sie ehrlich, er wollte mich dazu drängen? "Sophia, du kannst es mir sagen. Er wollte und du nicht, richtig?" Ich kann nicht fassen, was sie da sagt. Vor allem, was denkt sie von mir? Das ich mir das gefallen lasse? Meine Trauer verwandelt sich in Wut. "Er ist nicht wie dieser Lukas." Sie macht große Augen und schmeißt ihre Hände in die Luft. "Also bitte, Sophia! Das war ein Trinkspiel. Bitte sag mir jetzt nicht, dass du daraus eine große Sache machst. Warum hast du ihn nicht einfach geküsst? Mit einem Wildfremden hast du das ja schließlich auch gemacht." Ich kann meine Ohren nicht trauen. Meint sie das ernst? Sofort schießen die Erinnerungen in meinen Kopf. 'Gib mir sofort den Namen'. Er wollte hochgehen, und wer weiß was mit ihm machen. Mary hingegen findet sein Verhalten okay. Nein, nein - ich bin sogar diejenige, die übertreibt. Er war kein Wildfremder für mich. Im Gegenteil - jetzt gerade im Moment fühlt es sich so an, als hätte er mich besser verstanden als Mary. Als hätte er mich respektiert. Ich weiß nicht, auf welcher Seite sie ist. Aber mich verwundert das alles ehrlich gesagt nicht wirklich. Ich denke zurück an den Abend, an dem mich ein wirklicher Fremder in einer Seitengasse angegrabscht hat. Sie war im Club. Er war da und hat mich nach Hause gebracht. "Weißt du Mary, ich habe echt keine Lust auf dieses Gespräch. Ich wollte mich bloß bei jemandem ausreden. Ich muss morgen früh raus." Sie ist wütend. Doch das bin ich auch. "Jemand muss dich auch die Wahrheit sagen können, immerhin studierst du Kommunikationswissenschaft, dann weißt du wohl, dass Ehrlichkeit der Grundstein jeder Art von Kommunikation ist. Er war alles andere als ehrlich zu dir, also überlege dir, auf wen du hören willst." Sie steht auf, stürmt hinaus und knallt die Türe hinter sich zu. Ich schließe meine Augen und lasse meinen Kopf in den Polster fallen. Was für ein toller Tag.

Die romantische Seite der Politik (Sebastian Kurz)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt