Kapitel 21

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"Nein! Ich will das nicht!". Er zieht mich fest am Arm zu sich. Seine blauen Augen werden plötzlich ganz dunkel. Wir befinden uns in einer Seitengasse. Es ist bereits finster. "Du sollst dich nicht so zieren Sophia". Er wirft mir einen aggressiven Blick zu und drängt mich gegen die Wand. "Du tust mir weh." Wie konnte es bloß so weit kommen? Wie konnte ich denken, der Bundeskanzler steht auf Romantik und Blümchen? Er holt sich was er möchte, so benehmen sich Männer in Machtpositionen, der Lieblingsspruch meiner Mutter. Oh Gott, was würde sie jetzt bloß von mir denken. Vorher war alles noch so wunderschön, doch seit dem Essen vorhin ist er wie ausgewechselt. Wie konnte ich nur in diese Situation kommen! Er kommt immer näher und ich bin kurz davor zu schreien. Panisch krame ich mein Handy aus der Tasche heraus - doch es fällt zu Boden. Ich bücke mich, um es aufzuheben, doch genau in dem Moment -

Ich wache schweißgebadet auf. Was war das denn eben? Mein Kopf tut weh. Ich stelle meinen Handywecker stumm und lasse mich zurück ins Bett fallen. Warum träume ich sowas? Ich habe doch keine Angst vor ihm - oder doch? Ich erinnere mich zurück an meinen Psychologie-Kurs. Unsere Professorin erklärte uns immer wieder, hinter jedem Traum steckt eine wahre Bedeutung. Man dürfe die Geschehnisse nicht wortwörtlich nehmen, sondern sie sind meist ein Zeichen für ein Gefühl. Alles was ich nun weiß, dieses Gefühl ist keinesfalls gut. Vielleicht hängt es mit gestern zusammen? Wie auch immer - ich muss auf jeden Fall raus aus dem Bett und ab zur Arbeit. 

Zum Glück hat Max heute keinen Dienst, ich wüsste nicht, wie ich ihm erklären soll, warum mich der Bundeskanzler vom Café hier abholt. Ich hoffe nur, er plaudert nichts aus. Ich schüttle den Kopf, so ist Max nicht. Jedoch handeln Menschen, die eifersüchtig sind, anders. Ist er eifersüchtig? Um ganz ehrlich zu sein, mir ist schon längere Zeit aufgefallen, dass er flirtet. Vielleicht auch ein bisschen mehr als das. Und obwohl er in der Theorie eigentlich mein Typ sein sollte, ist er es irgendwie nicht. Es scheint so, als hätte er die perfekte Balance zwischen Lernen und Ausgehen gefunden, er ist witzig, höflich und hat immer ein offenes Ohr. Vielleicht ist er zu sehr wie ich? An den" Gegensätze ziehen sich an"-Kram glaube ich zwar kaum, jedoch ist das vielleicht nicht so verkehrt. Wenn ich dann wiederum an Mary denke, sie ist der totale Party-Mensch und würde nie mit jemandem eine Beziehung eingehen, der das komplette Gegenteil ist. Aber vielleicht würde ihr das guttun? 

Nachdem ich alle Tische abgeräumt habe, werfe ich einen Blick auf die Uhr. 14:30, ich habe noch eine halbe Stunde Dienst. Im Café ist so gut wie nichts los, als der letzte Gast zur Türe hinaus geht, schweifen meine Gedanken zu gestern Abend, als er dort auf mich gewartet hat. Ich habe mich ehrlich gefreut, den Abend mit ihm zu verbringen. Wir waren nicht einmal noch beim Auto, hat sein Handy geklingelt und er musste wegen eines Notfalls ins Parlament. Manchmal vergesse ich, wie wichtig seine Funktion tatsächlich ist. Also, das er nicht bloß Reden hält oder Interviews gibt. Er ist tatsächlich Bundeskanzler. Das hätte mir eventuell schon vorher bewusst sein müssen. Zwar hat er sich mehrmals entschuldigt, doch das wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Wie macht er das, wenn er im Urlaub ist, im Ausland? Oder macht er deswegen vielleicht nur Urlaub in Österreich? Das wäre für mich die reinste Folter, ich lebe für internationale Reisen und liebe es, andere Länder kennenzulernen. Ich habe auch vor, nach dem Studium eine Weile zu reisen, da ich jetzt nicht wirklich viel Zeit habe. Aber zu wissen, dass man immer auf Abruf bereit hier sein muss? Also ich weiß nicht. Langsam packe ich meine Sachen zusammen und übergebe die Schicht an Lisa weiter, unsere neue Praktikantin. Bevor ich gehe, erkläre ich ihr nochmals ein paar Kleinigkeiten und sie bedankt sich. Lisa macht bisher einen wirklich netten Eindruck. Sie ist etwas kleiner als ich und hat lange blonde Haare. Außerdem wirkt sie etwas kindlich für ihr Alter. Ich glaube sie hat gesagt, sie sei 21 Jahre alt. Oder 22? Wie auch immer, ich verabschiede mich von ihr. Doch bevor ich mich umdrehe, bemerke ich, wie Lisa scharf Luft holt und rot anläuft. Ich höre die Klingel beim Eingang und Schritte hinter mir. Mein Bauchgefühl weiß genau, wer da gerade steht, doch mein Kopf hofft, dass nicht auch noch Lisa davon erfährt. Wie immer kann ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen - als ich mich umdrehe, steht er vor mir. Formell, in einem schwarz-blauen Anzug gekleidet, doch seine Gesichtszüge sind weich und sein sanftes Lächeln einladend. Seine Augen funkeln regelrecht, als er mich sieht, und ich auch unwillkürlich schmunzeln muss. "Guten Tag, Sophia. Hast du kurz einen Augenblick?". Ich winke Lisa zu und erinnere mich an den Blick von Max, die beiden sind identisch. Er führt mich hinaus und wir gehen eine schmale Seitengasse entlang. Plötzlich erstarre ich, diese Gasse sieht genauso aus wie in meinem Traum. Ich schaue zu ihm hinauf, er geht locker neben mir auf der Seite. Er bemerkt, dass sich meine Stimmung verändert hat. Besorgt bleibt er stehen. "Alles okay bei dir?". Er berührt mich am Arm und ich erstarre. Doch ich weiß, dass das bloß ein Traum war, sage ich mir zumindest. Ich versuche es mit einem Scherz zu verdecken. "Ja, ich hatte einen furchtbaren Traum heute Nacht, das ist alles". Ich lache auf und hoffe, er gräbt nicht tiefer. "Ich hoffe, ich war nicht Teil davon, wenn er furchtbar war." Oh nein, ich kann ihm den Inhalt keinesfalls erzählen. Er erkennt sofort, dass es um ihn ging. "Also ich würde gerne mehr erfahren, über diesen furchtbaren Traum. Als ernstgemeinte Entschuldigung, für gestern Abend, würde ich dich gerne heute zum Essen einladen. Und vielleicht ein paar Getränke danach?". Ich spüre, wie ich rot werde. Was soll das heißen, ein paar Getränke danach? Ich wende den Blick ab und gehe ein Stück weiter. Er folgt mir. Gekonnt versuche ich mein Schamgefühl zu vertuschen. "Also, für das Stehenlassen gestern gibt's auf jeden Fall einen Minuspunkt. Das Essen heute muss schon sehr gut für einen Pluspunkt sein, damit du wieder auf gleich bist." Gespielt tut er so, als wäre er beleidigt. "Was soll das denn heißen - auf gleich? Ich bin mindestens 10 Punkte im Plus." Auf dem Weg zurück, erkundigt er es heute in der Arbeit gelaufen ist. Ich erzähle ihm, dass ich nicht wirklich viel zu tun hatte und bis auf eine Kundin alles sehr gut gelaufen ist. "Sie hat doch nicht wirklich dir die Schuld dafür gegeben oder?". Er schaut mich unglaubwürdig an. "Doch, ich habe ihr gesagt, die Toilette ist leider in Reparatur, da es einen Wasserschaden gibt. Sie ist trotzdem reingegangen und war von oben bis unten voller Toilettenwasser." Belustigt schüttelt er den Kopf. Wer hätte sich gedacht, dass ich mal mit dem Bundeskanzler ein Stück spazieren gehe, während ich ihm erzähle, dass eine Frau voll mit Toilettenwasser war. Mein inneres Ich schaut unglaubwürdig auf mich herab. 

"Also, dann bis heute Abend. Ich freue mich." Wir befinden uns wieder bei meiner Arbeit. Er lehnt sich zu mir herunter und redet weiter.  "Außerdem habe ich dir noch etwas wichtiges zu sagen." Gespannt schaue ich ihn an. "Beziehungsweise - es ist mehr eine Frage." Sobald der Satz gefallen ist, beginnen die Räder in meinem Gehirn zu arbeiten. Was könnte er meinen? Ich verabschiede mich und sehe zu, wie er elegant in den schwarzen BMW steigt. Da hinten getönte Scheiben sind, erkenne ich nicht, ob er einen Blick auf mich wirft, bevor das Auto wegfährt. Als das Auto nicht mehr zu sehen ist, atme ich auf. Immer wenn ich bei ihm bin, fühlt es sich so an, als würde ich konstant die Luft anhalten, und nun erst aufatmen können. Ich drehe mich um und schaue durch die Fenster, ob bei Lisa alles okay ist. Nach wie vor sind wenige Leute drinnen und sie scheint gut klar zu kommen. Dann mache ich kehrt und renne fast jemanden um. "Tut mir leid, ich habe dich nicht-". Doch als ich hinaufschaue, blicke ich in die Augen von Max. 

Die romantische Seite der Politik (Sebastian Kurz)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt