Kapitel 29

256 12 4
                                    

Ich gehe so weit wie möglich von dem Haus meiner Eltern weg. Was würde wohl passieren, wenn sie mich mit ihm sehen würden? Der Knoten in meinem Hals wird immer größer. Wie kann man seine eigene Tochter so behandeln? Ich bemühe mich, nicht zu weinen - er soll mich keinesfalls so sehen. Ich gehe einige Gassen entlang und befinde mich auf einem Spielplatz, den ich als Kind immer besucht habe. Einige Momente später fährt auch schon der schwarze Wagen vor. Moment mal, das ist doch nicht etwa ... er am Steuer? Ich gehe näher an das Auto heran und tatsächlich - er sitzt am Steuer. Warum fährt er? Erst jetzt wird mir so richtig klar, dass ich unzählige Male mit ihm in einem Auto gesessen bin, ihn aber noch nie fahren gesehen habe. Er parkt das Auto direkt neben mir am Straßenrand und steigt aus. "Sophia". Besorgt kommt er auf mich zu und nimmt mich in den Arm. Ich atme seinen Geruch ein und das allzu bekannte Gefühl von Behutsamkeit und Sicherheit überkommt mich. Im Moment ist mir unser Streit egal. Ich will bloß bei ihm sein, alles andere können wir später noch klären - oder auch nicht. Langsam lösen wir uns voneinander und steigen in das Auto ein.

Wir befinden uns mittlerweile bei seiner Wohnung. Die ganze Autofahrt über haben wir kein Wort geredet. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür, denn hätte ich auch nur ein Wort über den Streit mit meinen Eltern verloren, wäre ich vermutlich in Tränen ausgebrochen. Ich will im Moment nicht allein mit meine Gedanken sein und Mary kann ich nach dem letzten Abend bei ihr nicht anrufen. Ich habe die richtige Entscheidung für den Moment getroffen - hoffe ich. Er zieht die Handbremse und schaut in meine Richtung. Wäre ich nicht gerade so mit meinen negativen Emotionen beschäftigt, würde ich mir nur darüber Gedanken machen, wie heiß er hinter dem Steuer aussieht. Dann würde mein Inneres Ich wahrscheinlich seinen Senf dazu geben und die übliche Standpauke über Männer und Macht abhalten. Doch er ist tatsächlich ein wirklich guter Autofahrer. Bevor ich weiter darüber schwärmen kann, unterbricht er meine Gedanken. "Pass auf." Behutsam legt er seine Hand auf meine. Mein Herz macht einen Freudensprung. "Ich wollte dich heute ausführen und über heute Morgen reden. Doch mein Vorschlag wäre, dass ich uns bei mir zu Hause etwas koche und wir einen entspannten Abend machen. Ich sag meine Termine ab." Meine Augen werden groß. Doch ich brauche nicht wirklich darüber nachdenken, es ist genau das was ich will. "Du musst deine Termine nicht meinetwegen absagen." Er lächelt mich schief an. "Gehen wir?". Nachdem er mir die Türe geöffnet hat, greift er wieder nach meiner Hand und führt mich zum Eingang. Jedes Mal wenn ich hierher komme fühlt es sich anders an. Jedes Mal wenn ich gehe ist es anders. Entweder alles ist gut und ich stelle alles infrage. Doch ich beschließe, mir im Moment darüber keine Sorgen zu machen.

Ich befinde mich auf seiner Couch und sehe, wie er den Raum mit zwei Tassen Tee wieder betritt. Er trägt eine schwarze Stoffhose und einen weißfarbigen Pullover. "Hier". Er stellt sie vor mir auf dem Tisch ab. "Weißt du schon was du essen möchtest?". Ich überlege für einen Moment. Eigentlich hatte ich bis eben gar keinen Hunger, doch ich sollte etwas essen. "Wie wäre es mit Lasagne?" Er nickt. "Das lässt sich einrichten. Ich besorge die Zutaten." Die Situation zwischen uns ist etwas angespannt. Ich hab noch so viele Fragen und so wenig Antworten. Eines ist sicher, so kann das nicht weitergehen. Langsam steht er auf und blickt auf mich herab. "Ich werde in etwa einer Stunde wieder zurück sein." Er kümmert sich um die Zutaten? Warum schickt er nicht wie gewöhnlich jemanden von seinen Mitarbeitern? Gefühlvoll lehnt er sich zu mir vor und platziert seine Hand auf meiner Wange. Für einen Moment schließe ich meine Augen und genieße das Gefühl. Warum hat er bloß so eine Wirkung auf mich? Eine einzige Berührung reicht aus, um mein Herz zum Rasen zu bringen. "Bis gleich. Wenn du etwas brauchst, ruf mich jederzeit an." Er streichelt meine Wange bevor er seine Hand wieder zurückzieht. Ich kann nicht anders, als ihn mit meine Augen solange zu verfolgen, bis er außer Sichtweite ist. Genervt lasse ich meinen Kopf in den Nacken fallen. Wie soll ich in so einer Verfassung jemals all die Dinge sagen, die ich zu sagen habe? Sobald ich höre, wie die Eingangstüre zurück ins Schloss fällt, stehe ich auf und gehe den Gang entlang. Was wenn er Sicherheitskameras hat? Ich versuche abzuwägen, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Bundeskanzler in seiner privaten Wohnung Überwachung installiert hat. Nichtsdestotrotz spaziere ich den Gang, der eigentlich schon als Galerie durchgeht, entlang. Wie angewurzelt bleibe ich erneut vor dem Gemälde mit den zwei Linien abrupt stehen. Was wenn die Linien nicht bedeuten, dass sie nach jedem Kontakt weiter auseinander gehen, sondern genau das Gegenteil? Nach jedem Streit und nach jedem Abstand finden sie wieder zueinander. Ich bin mir nicht sicher, ob ich nun versuche ein Gemälde interpretieren oder eine gute Ausrede für unsere Auseinandersetzungen zu finden. Ich schaue mich noch ein wenig in der Wohnung um, beschließe aber wieder mich ins Wohnzimmer zu begeben. Der Gedanke mit den Kameras macht mich doch ein wenig paranoid. Sobald ich mich hinsetze, spüre ich, wie meine Augen immer schwerer werden. Das letzte, das ich sehe, bevor ich einschlafe, ist das Bild mit seiner Oma über dem Fernseher. Wo wohl seine Eltern sind? Warum besuchen diese nie Veranstaltungen von ihm? Dann denke ich an meine Mutter und ...

Eine Art Rauchgeruch reißt mich aus dem Schlaf. Ich schaue mich um. Anscheinend bin ich wohl auf der Couch eingenickt. Wie lange habe ich geschlafen? Der Geruch wird immer intensiver. Um mich zu vergewissern, dass kein Feuer in seiner Wohnung ausgebrochen ist, stehe ich auf und folge dem Geruch in Richtung Küche. Mit dem Rücken zu mir, holt er gerade etwas aus dem Ofen heraus. Ich muss schmunzeln, als ich die rosafarbenen Kochhandschuhe erblicke. Ich beschließe, ihn zu beobachten, bevor ich etwas sage. Er zieht seine Hand aus dem Ofen und flucht. "Scheiße." Ich bin überrascht, noch nie habe ich ein Schimpfwort aus seinem Mund gehört. Beim zweiten Versuch stellt er das Geschirr so schnell wie möglich auf der Kücheninsel ab. Die Lasagne ist total verbrannt. Er ertappt mich. "Alles okay bei dir?". Er schmunzelt etwas verlegen bevor er antwortet. "Ich wollte dich nicht wecken, aber langsam denke ich, etwas Hilfe hätte wirklich nicht geschadet." Im nächsten Moment streift er die Handschuhe von seinen Händen und legt sie beiseite. Dann winkt er mich zu sich. "Komm her." Er flüstert. Ohne auch nur darüber eine Sekunde nachzudenken, gehorche ich ihm. Er lehnt sich mit seinem Rücken an den Kühlschrank hinter ihm und zieht mich bei meinen Hüften näher an sich heran. Meine Haut glüht. Ich kann nicht glauben, was hier passiert. Liebevoll streift er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und steckt sie hinter mein Ohr. "Wie geht's dir?" Ich schmiege meine Wange an seine Handinnenfläche. Seine Hand ist ist eher kühl - wird er denn niemals nervös? Ist er immer gelassen und muss sich keine Sorgen um knallrote Wangen und einen pochenden Herzschlag machen? Ich würde ihn so gerne verstehen, doch immer wenn ich denke, ich lerne ihn besser kennen, zeigt er mir wieder eine andere Seite von ihm. Ich nicke. "Ich danke dir." Fragend blickt er auf mich herab. Ich finde unseren Größenunterschied unglaublich attraktiv. "Wofür?". Seine Augen blicken direkt in meine. Braucht er Bestätigung oder ist das für ihn nichts, wofür man sich bedanken sollte? "Dafür, dass du mich aus meiner Notsituation gerettet hast." Bevor er etwas antworten kann, setze ich fort. "Und natürlich für diese unglaubliche Lasagne." Wir beginnen zu lachen. Doch dann setzt er einen ernsten Gesichtsausdruck auf. "Du musst dich dafür nicht bedanken. Das ist für mich selbstverständlich." Was ist für ihn selbstverständlich? "Dass du Frauen von ihren Eltern abholst und ihnen zu Hause Lasagne kochst?". Habe ich das gerade laut gesagt? Er grinst. "Nein. Selbstverständlich ist für mich, dass ich eine ganz bestimmte Frau von ihren Eltern abhole und für sie koche - und das obwohl ich gar nicht kochen kann." Mein Herz macht einen Freudensprung. Hat er das gerade wirklich gesagt. "Und wer ist diese geheimnisvolle Frau?". Ich beschließe, auf seine ironische Art einzugehen. "Eventuell wird diese Frau gleich von mir geküsst werden, dann weißt du von wem ich spreche". Meine Hände beginnen zu schwitzen. Er kommt näher. Eine Hand legt er auf meine Hüfte und die andere streift durch meine Haare. Ich kann nicht widerstehen. Mein ganzer Körper spürt das Verlangen, diesen Kuss zu erwidern. Ich will nichts mehr, als von ihm geküsst zu werden. Ich spüre, wie seine Lippen immer näher kommen und spüre seinen Atem auf meinem Gesicht. Stopp. Nein - ich kann nicht jedes Mal wie Wachs in seinen Händen zerfallen. Abrupt ziehe ich meine Kopf zurück. "Wir müssen reden." Er zieht nun ebenfalls seinen Kopf zurück. Ich kann keine Emotion aus seinem Gesicht lesen. Ist er wütend? Enttäuscht? Langsam richtet er sich auf und ich wende den Blick ab. Er atmet tief aus. "Komm mit." Wohin gehen wir? Kommentarlos folge ich ihm ins Wohnzimmer. Er deutet mir auf einen cremefarbenen Sessel in der Ecke und er selbst nimmt gegenüber von mir Platz. Seine Haltung verrät mir, dass er etwas angespannt ist. "Also, was möchtest du besprechen?" Er stützt sich mit seinen Händen auf seinen Oberschenkeln ab. Nervös bereite ich eine Antwort in meinem Kopf vor. Findet er etwa nicht, dass es noch einiges zu klären gibt? "Ich habe so viele Fragen". Er unterbricht mich. "Frag mich." Er wirkt fordernd. Na gut, dieses Spiel kann ich auch spielen. "Woher wusstest du wo ich bin." Erwischt. Er wendet den Blick ab und es scheint so, als hätte er nicht damit gerechnet. Keine Antwort. "Das hier, was immer das mit uns auch sein mag, funktioniert nur, wenn wir auch ehrlich zueinander sind." Mein Inneres Ich macht einen Freudensprung. Genauso muss ich mich gegenüber ihm verhalten, wenn ich das hören will, was ich hören sollte. "Was meinst du mit 'uns' ?" Er lacht spöttisch und mein Herz sinkt.

Die romantische Seite der Politik (Sebastian Kurz)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt