Kapitel 19

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"Hast du noch was vor?". Max beobachtet mich, als ich hektisch die Tassen in den Geschirrspüler räume. Seit wann ist er so neugierig? Ich wage einen Blick auf die Uhr - in weniger als einer halben Stunde treffe ich Mary. Er lässt nicht locker. "Scheint wichtig zu sein", lautet sein Kommentar und er zieht seine Augenbrauen hoch. Im Café ist es seit Stunden ruhig, was für einen Samstagvormittag äußerst untypisch ist. "Ich treffe mich mit Mary". Hoffentlich gibt er sich mit der Antwort zufrieden. Ich sehe, wie ein Pärchen zur Tür hinaus geht und sich verabschiedet. Bevor Max noch etwas sagen kann, laufe ich um die Ecke und räume ihren Tisch ab. Als ich zurückkomme, greift er nach dem Besteck in meiner Hand und räumt es weg. "Und was macht ihr Schönes?". Er gibt sich also nicht zufrieden. Ich blicke noch einmal auf die Uhr und befreie mich von meiner Schürze. "Da ist heute so eine Veranstaltung im Parlament." Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, verabschiede ich mich so schnell wie möglich. "Max, ich muss jetzt los, bis morgen!". Fragend blickt er mir nach. "Seit wann interessierst du dich für Politik?", ist das letzte was ich höre, doch ich antworte ihm nicht mehr. Hastig räume ich meine Sachen aus dem Spind, löse meine Locken aus dem Zopf und lasse sie auf meine Schultern fallen. 

"Du siehst heiß aus!". Mary umarmt mich herzlich. Wir befinden uns in der Nähe des Parlaments, überall machen sich Leute schon auf den Weg dorthin. "Ist das Kleid neu?". Ich schüttle meinen Kopf. "Also gab es einfach noch nie einen Anlass-". Mein Handy klingelt. Ich schaue auf den Bildschirm und schalte den Ton aus, bevor ich es wieder wegpacke. Mary wirft mir einen fragenden Blick. "Komm schon, los geht's. Wir wollen doch nicht zu spät kommen". Sie zwinkert mir zu. Ich bin heilfroh, dass sie mich nicht weiter ausquetscht über das letzte Treffen, doch das liegt auch vielleicht daran, dass sie schwören musste, es nicht in der Öffentlichkeit anzusprechen. Mein Inneres Ich lobt mich für das plötzliche Durchsetzungsvermögen gegenüber Mary. 

Dieses Mal ist im Parlament alles anders. Die Menge an Leuten hat sich bestimmt verdreifacht, ich kann kaum gerade gehen in diesem schmalen Gang hier. Mary neben mir schießt ein paar Fotos und lädt sie inzwischen auf Instagram hoch. "Soll ich dich markieren, oder wirst du dann wieder aufgespürt?". Sie lacht laut los. Ich werfe ihr einen finsteren Blick zu, doch kann nicht anders als mit einzustimmen. Notiz an mich selbst:  Wenn Mary keine Witze darüber in der Öffentlichkeit machen soll, solltest du es ihr die Geschichte gar nicht erzählen. Mein Handy klingelt erneut. "Wer ruft dich denn die ganze Zeit an?". Ich verdrehe die Augen und schalte es erneut auf stumm. "Meine Mutter". Mary macht große Augen. Sie weiß, würde ich rangehen, gäbe es kein Zurück mehr. Sie würde mich ausfragen über das Studium, meine Freunde, ob ich meine Ferien mit Lernen verbringe. Dann würde ich ihr sagen, dass ich gerade nicht sprechen kann, weil ich mit Mary unterwegs bin und die Standpauke würde losgehen. Zuerst kommt das Studium, dann Arbeitserfahrung sammeln und erst dann kommt der Spaß mit Freunden. Ich will nicht sagen, dass das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir nicht gut ist, aber es ist auf keinen Fall freundschaftlich, sodass ich ihr irgendetwas aus meinem Privatleben erzählen würde. Es bleibt alles gut zwischen uns, solange ich ihren Vorstellungen entsprechend handle. "Ruf sie später zurück, vielleicht ist es wichtig." Ich nicke und wir gehen weiter mit der Menge Richtung Vortragssaal. Als wir an einem riesigen Plakat, mit seinem Gesicht darauf, vorbeilaufen, muss ich unwillkürlich an das letzte Mal denken, als wir uns gesehen haben. Es war magisch. Die Schmetterlinge tanzen seit Tagen in meinem Bauch herum und warten, bis ich ihn wieder zu Gesicht bekomme. Auf dem Plakat steht außerdem in großer blauer Schrift: Diese Wahlen für die Zukunft von Österreich. Zusammen sind wir stark. Wer kreiert bloß diese Werbesprüche? Hat er auch ein Mitspracherecht oder wird einfach das genommen, was bei der Masse der Bevölkerung wahrscheinlich gut ankommt? Was ich weiß ist, dass er seine Reden zum größten Teil selbst verfasst. Das meint zumindest Mary, und die Situation ihn zu fragen, hat sich bisher noch nicht ergeben. Als wir unsere Plätze eingenommen haben, warten wir darauf, dass es losgeht. "Bist du aufgeregt?". Mary schaut mir direkt in die Augen, als würde sie ablesen können, was ich als nächstes sagen will. "Ich-". Die Menge wird still. Dann tritt er auch schon auf seinen gewohnten Platz und macht seine Ansprache. Mein Herz macht einen Sprung, als ich seine vertraute Stimme höre und ihn in seinem blauen Anzug sehe.

"Das ist der Wahnsinn! Er ist so genau bei den Phrasen, die er verwendet." Mary reißt mich aus meinen Gedanken. Besonders viel habe ich von der Rede nicht wirklich mitbekommen, ich war viel zu beschäftigt damit, das letzte Treffen nochmals in meinem Kopf abzuspielen. Ich stimme ihr zu, denn ich weiß mit Sicherheit, dass es eine tolle Rede war. Er verlässt den Raum und eine ältere Dame tritt an seine Stelle. "Jetzt kommt der Moment, auf den wir alle gewartet haben! In  wenigen Minuten gibt es die Möglichkeit, dem Kanzler Ihre persönlichen Fragen zu stellen! Nutzen Sie diese Möglichkeit. Doch bevor es losgeht, gibt es eine kurze Pause. Bis gleich!". Wie lange wird das hier bloß dauern? Hier sind tausende Leute, die alle mit ihm reden wollen. Ich persönlich hätte auch nichts dagegen, ihm ein paar Fragen zu stellen. 

Nach der kurzen Pause begeben sich die Massen wieder in den Saal. Mary und ich waren frische Luft schnappen und sie konnte nicht aufhören, über die Mimik und Gestik, des ihrer Ansicht nach besten Politikers in Österreich, zu erzählen. "Darüber werde ich definitiv in meinem nächsten Artikel schreiben!". Die Dame erscheint wieder und verkündet, dass es nun losgeht. Mary wird ganz zappelig neben mir und zerrt mich mit in die Menge. Unbedingt will sie die Gespräche mitbekommen. Da steht er. Umgeben von Kameras und Reportern. "Da kommen wir nicht durch". Sie wirft mir einen "kennst du mich überhaupt"- Blick zu. Und das stimmt. Mary kommt überall dort hin, wo sie auch hin möchte. Sie packt mich am Arm und zieht mich weiter in seine Nähe. "Eigentlich müsstest du sowas wie ein Anrecht auf den Bundeskanzler haben, nachdem du ihn-". Ich geben ihr einen Ruck und schaue sie böse an. Entschuldigend dreht sie den Kopf. "Das war nur Spaß". Ein Mann neben uns schaut mich prüfend an -  na toll. Ich steige beinahe einer Reporterin auf die Füße und muss mich bei jeder Person, an der Mary vorbeistürmt, entschuldigen. Wir sind mittlerweile so nahe, dass wir jedes Wort hören, das gesprochen wird. "- so, ich bitte Sie, nun Platz für die Bürger dieser Stadt zu machen. Pressekonferenzen finden morgen am Vormittag statt. Danke!". In diesem Moment treten all die Reporter, die ihn eben noch umgeben haben, zur Seite und wir stehen direkt vor ihm. Dann erblickt er mich. "Schönen guten Tag Sophia. Mary." Er schüttelt die Hand von Mary und dann meine, während seine Mundwinkel nach oben zeigen. Ich muss ebenfalls lächeln. "Hat jemand Fragen an mich?". Mary beginnt sofort zu quasseln. Sie stellt ihm mehr Fragen, als er beantworten kann, doch ihn scheint das nicht zu stören. Obwohl sie ihm diese stellt, schaut er immer wieder mich an. Mein Herz flattert. Ich kann nicht anders, als auf seine Lippen zu starren - ich fühle, wie ich rot werde. Plötzlich bemerke ich, wie mich jemand von hinten schubst und ich nach vorne kippe. Bevor ich auf die Füße des Bundeskanzlers falle, vor all diesen Leuten hier, schaffe ich es noch rechtzeitig, mich zu fangen. Als ich raufschaue, haften alle Blicke an mir, inklusive sein sorgenvoller Ausdruck. "Alles okay?". Er stützt mich mit seinen Armen und sofort zuckt ein intensives Gefühl durch meinen ganzen Körper, das meine Knie ganz wackelig werden lässt.  Um uns wird es ruhiger. "Ja, tut mir leid, lassen Sie sich durch mich nicht ablenken. Mir geht's gut." Ich entschuldige mich nochmals und richte mich auf. Bevor er seine Hände zurückzieht, flüstert er in mein Ohr. "Ich glaube, für die höfliche Anrede gibt es keinen Bedarf mehr. Zumindest nicht, nach den letzten beiden Malen." Dann lässt er mich los und ich fühle mich, als würde ich gleich nochmal hinfallen. Hat das jemand gehört? Ich blicke mich um, doch jeder ist wieder auf ihn fixiert. Er ruft einen Security-Mitarbeiter, der die Menge unter Kontrolle bringt, und einen Großteil der Leute bittet, draußen zu warten. Ist das gerade wirklich passiert? Er hat auf die beiden Male hingewiesen, als wir uns geküsst haben. Das erste Mal auf dem Dach, und dann nochmals vor meiner Wohnungstüre. Er hat mich an dem Tag nach oben begleitet und mich zum Abschied geküsst. Der Bundeskanzler hat mich geküsst. Zum Abschied. Und jetzt sagt er, wir können auf das "Sie" verzichten. Kann das wahr sein? Ich drehe mich zu Mary um und sie scheint fertig zu sein. Sie bedankt sich bei ihm und der nächste überfällt ihn mit seinen Fragen. Als wir nach draußen gehen, drehe ich mich ein letztes Mal um, und sehe, wie er mich nicht aus den Augen lässt. Verträumt stolpere ich noch beinahe über die Türschwelle. "Man, Sophia! Reiß dich zusammen!". Mary lacht laut los. "Du bist fast vor allen Leuten hingefallen. Auf IHN DRAUF!". Sie kriegt sich gar nicht mehr ein. Oh man. Es war also genau so schlimm von außen, wie es für mich innerlich angefühlt hat. 

Während Mary auf der Toilette ist, warte ich an der Seite und beobachte die Menschenmenge. Noch immer sind so viele Leute hier und warten darauf, ihn sprechen zu können. Was für ein Tag. Ich kann einfach nicht fassen, wie tollpatschig ich bin. Warum passiert mir das genau hier? Genau jetzt? Jeder konnte es sehen. Warum werde ich immer so nervös in seiner Nähe? Ich schüttle den Kopf. Hoffentlich hat das kein Reporter aufgenommen. Dann geht die Türe auch schon auf und Mary kommt mit einem Grinsen heraus. "Was hat er eigentlich zu dir gesagt?" Jemand unterbricht unser Gespräch. "Wer hat was zu dir gesagt?". Ich drehe mich um und schaue in nur allzu bekannte Augen. "Mama?".

Die romantische Seite der Politik (Sebastian Kurz)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt