Kapitel 27

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Um mein Gleichgewicht nicht zu verlieren, stütze ich mich an der Wand neben der Eingangstüre ab. Draußen ist die Musik nicht wirklich leiser, ich hoffe er bemerkt nicht, dass ich in einem Studentenheim befinde - nebenbei gesagt nicht mehr so ganz nüchtern und klar im Kopf. Gespannt halte ich mein Handy ans Ohr und lausche an seiner Stimme. „Hey Sophia, ich-" Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, schneide ich ihm das Wort ab. „Guten Abend Herr Bundeskanzler, noch immer verärgert?" Mein Inneres Ich fasst sich an den Kopf. Habe ich das wirklich gerade gesagt? Doch die Gruppe neben mir bestätigt meine Gedanken. Sie schauen mich merkwürdig an, ich gehe einige Schritte weiter zur Treppe, dort wo ich alleine sein kann. Ich kann hören, wie er schmunzelt. „Sophia, bist du betrunken?". Mein Inneres Ich richtet sich selbstbewusst auf. Sie liebt Spielchen. „Warum? Denkst du, ich bin nüchtern nicht so ehrlich?". Für einen Moment schweigt er. „Du bist äußerst ehrlich. Ganz besonders, wenn dich deine Körpersprache verrät." Was redet er da? Meine Körpersprache? „Wenn du sagst, dass alles okay ist, aber keinen Augenkontakt halten kannst weil du Lügen nicht ausstehen kannst. Oder wenn du sagst, dass du gehen willst aber auf deiner Lippe kaust." Ich schnappe nach Luft. Das hat er doch nicht wirklich gesagt? Sowas kann er doch nicht gesagt haben. „Hab ich recht?". Meine Füße werden ganz wackelig und mein Herz pocht wie wild. „Wie auch immer, ich bin nicht betrunken. Und auch wenn ich es wäre, hat das nichts mit meiner Ehrlichkeit zu tun." Ein junges Mädchen geht an mir vorbei. Ihrem Blick nach zu urteilen, kauft nicht mal sie mir das ab. „Davon würde ich mich gerne selbst überzeugen. Ich hol dich ab." Oh nein. Ich kann mich nicht mit ihm treffen. Nicht in diesem Zustand - ich brauche klare Sicht auf die vergangenen Geschehnisse. Und um ehrlich zu sein, auch auf die potenziellen heutigen. „Nein, das geht nicht". Ich nehme hinter mir eine Stimme wahr. „Sophia? Alles okay bei dir? Komm wieder mit rein, wir spielen Flaschendrehen". Der blonde Junge von vorhin. Lukas. Er legt seinen Arm um mich. Ich spüre Gänsehaut auf meinem ganzen Körper und versteife meine Hände. Hoffentlich merkt er, dass ich von niemandem umarmt werden möchte. Naja, sagen wir von fast niemandem. „Wer ist da?". Ich habe ganz vergessen, dass ich ja gerade mit dem Bundeskanzler telefoniere. Verdammt, hat er das mitbekommen? Ich löse mich auf der Umarmung. „Ich muss jetzt auflegen, wir sprechen später. Gute Nacht!" Hektisch lege ich auf und die Innere Sophia triumphiert. Jetzt haben wir es ihm gezeigt. Mehr oder weniger. Ich gehe mit Lukas zurück zu Mary und den anderen.

Bevor ich wieder auf dem Stuhl Platz nehmen kann, überfällt mich Mary von der Seite. „Heyy! Wo warst du so lange?". Ich halte mein Handy in die Luft und schwinge damit vor ihrem Gesicht. Sie macht große Augen und beginnt zu schreien. „Hast du gerade mit-". Bevor sie vor versammelter Mannschaft seinen Namen rufen kann, halte ich ihr den Mund zu. „Mary, halt die Klappe!". Sie bricht in Gelächter aus. Ich stimme mit ein. „Sophia, tut mir leid, dauernd vergesse ich, dass dein „Liebhaber" ja nicht beim Namen genannt werden darf". Bei dem Wort Liebhaber, setzt sie Anführungszeichen mit ihren Händen. Warum tut sie das? Ich mein, er ist weder mein Liebhaber, noch sonst in irgendein Art und Weise mein Freund, dennoch. Findet sie, dass das ganze absurd ist? Oder nicht ernst gemeint? „Von welchen Liebhabern sprecht ihr denn da?". Lukas steht erneut neben uns und hat einen Becher mit, dem Geruch nach zu urteilen, Bier in der Hand. Ich hasse den Geruch von Bier und betrunkenen Typen. Ich schiebe den Gedanken mit Mary und ihrem zweideutigen Gerede zur Seite. „Niemand". Ich habe schneller darauf reagiert, als mir lieb ist. Er zieht eine Augenbraue hoch. Natürlich glaubt er mir nicht. Was geht ihn das eigentlich an? Ich spüre das Vibrieren meines Handys in meiner Hand. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich es nicht zurück in meine Tasche gesteckt habe. Es vibriert bloß einmal, eine SMS also. Von ihm? Möglichst unauffällig drehe ich mir zur Seite und entsperre es. ‚Bleib wo du bist. Ich bin in zehn Minuten da.' Scheiße. Er kommt hierher. Moment - woher weiß er wo ich bin? Habe ich es ihm vorher erzählt? Nein, nein - daran könnte ich mich erinnern. Warum sollte er hierher kommen. Woher soll er wissen wo ich bin. Ich stecke das Handy weg. Ich drehe mich zurück zu Mary, die mittlerweile mit Diego tanzt. Ich suche den Raum nach Alex ab. Ist er weg? „Leute, kommt alle hierher." Lukas sitzt mit den anderen Mädchen auf der Couch und legt eine Flasche in die Mitte des Kreises auf den Boden. Oh nein, wie komme ich hier bloß raus. Mary zieht mich mit auf die letzten freien Plätze zwischen Lukas und Diego. Na toll. Sie flüstert mir zu. „Das wird lustig." Auf keinen Fall wird dieses Spiel heute lustig werden. Ich entdecke Alex - er sitzt gegenüber von Mary und lässt sie nicht aus den Augen. Warum macht sie das? Sie lädt ihn ein, nur um ihn dann alleine sitzen zu lassen und ihre Zeit Diego zu widmen. Ich sehe, wie Alex seinen Arm und das blonde Mädchen neben ihm legt. Dieser Abend kann gar nicht gut ausgehen. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, dreht sich auch schon die Flasche vor mir. Sie zeigt auf Mary. Sie lächelt herausfordernd und dreht die Flasche noch einmal. Sie bleibt bei dem Mädchen, das vorher diese herabwürdigenden Kommentare über ihn gemacht hat. Naja, vielleicht würden solche Aussagem nicht so herabwürdigend auf mich wirken, wenn ich ihn gar nicht kennen würde. Also persönlich kennen. Meine Gedanken kreisen weiter. Plötzlich wird mir klar, wenn er den größten Mediensender von Österreich dazu bringen kann, seine privaten Angelegenheiten unter den Tisch zu kehren, kann er auch rausfinden, wo ich mich gerade befinde. Meine Haut beginnt zu glühen. Was wenn er raufkommt? Nein, das würde er nicht machen. Oder? Es wäre nicht das erste Mal, dass er mich holen kommt. Gerade als ich mein Handy checken will, werde ich von Mary abgelenkt, die ohne jegliche Hemmung das Mädchen küsst. Leidenschaftlich. Diego applaudiert und die anderen feuern die beiden ebenfalls an. Panisch checke ich mein Handy. Keine weiteren Nachrichten und die letzte ist nun schon über zehn Minuten her. Ich atme tief ein. Als ich mein Handy vor mir auf den Boden zurücklege, bleibt die Flasche genau da stehen. Sie zeigt auf mich. Ich schaue in die Runde. „Na los - dreh." Mary fordert mich auf. Was ist bloß los mit ihr? Meine Hände zittern, als ich sie auf die Flasche lege. Ich gebe ihr einen ordentlichen Schubs in die rechte Richtung. Die Flasche wird immer langsamer und alle fixieren sie gespannt. Warum bin ich nicht einfach gegangen, als ich die Möglichkeit dazu hatte? Sie kommt zum Stillstand. Ich schaue in das schadenfrohe Gesicht von Lukas. Er lehnt sich nach vorne. Ich kann das nicht. Ich kann ihn nicht küssen. „Hab dich nicht so!". Diego ruft uns – ruft mir zu. Ich nehme den Geruch von Alkohol und Schweiß wahr. Ich ekel mich - was würde ich alles für den gewohnten Pfefferminzgeruch geben. Er starrt auf meine Lippen. „Ich kann nicht-". Er bewegt seine Hand zu meinen Lippen und kommt immer näher. „Zier dich nicht so, das ist ein Spiel". Ich zucke zurück, doch er zieht mich näher an sich. Mein Rücken versteift sich. Irgendwo hinter mir nehme ich ein Klopfen wahr. Klopft da jemand an der Türe? Lukas bleibt mit seinem Kopf stehen und verdreht die Augen. Dann bewegt er seine Hand an meinen Hinterkopf. „Wo sind wir stehen geblieben?" Er führt seine Hand zu meinem Hals. Ich versuche erneut auszuweichen. Sein Lächeln wird teuflisch. Die Türe springt mit einem Ruck auf. Ich wage keine Blick zur Türe, aus Angst in nur allzu bekannte Augen zu schauen. „Sophia, kommen Sie bitte mit." Die Stimme ist mir tatsächlich bekannt. Mein Blick geht in Richtung Türe. Sein Fahrer steht im Raum. Er trägt einen schwarzen Anzug und fixiert mich. Ohne auf die anderen zu achten stehe ich hektisch auf, schnappe meine Jacke und mein Handy und gehe an ihm vorbei zur Türe hinaus. Ach du scheiße. Ein wenig wütend, aber auch erleichtert gehe ich Richtung Fahrstuhl. Ich bleibe davor stehen, der Fahrer befindet sich mittlerweile neben mir. „Ich wurde geschickt von-". Inzwischen bin ich nur noch wütend. Wie soll ich das jemals erklären können? Andererseits hoffe ich inständig, dass ich diese Leute nicht mehr sehen muss. „Ich weiß wer Sie geschickt hat." Der Fahrstuhl geht auf. Eigentlich kann er relativ wenig dafür, er gehorcht ihm bloß. Das muss ich aber nicht. Was fällt ihm ein, mich einfach so hier rausholen zu lassen? Ich werde immer wütender und bin froh, Alkohol getrunken zu haben, da ich ihm nun meine offene Meinung geigen kann.

Die romantische Seite der Politik (Sebastian Kurz)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt