Kapitel 12 ~Eine Weile

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George und ich gingen Richtung Mauer, doch ich merkte wie er immer nervöser wurde. Er blickte immer wieder hinter sich. "Sicher, dass das so eine gute Idee ist?" Ich nickte "Ja, keine Sorge. Ich habe diesen Weg schon oft genommen. Du kannst mir vertrauen." Er lachte daraufhin nervös. "Haha, vertrauen? Mehr als meiner Mama? Ich kenn dich ja nicht Mal. Ich weiß nicht, wer du bist, wie du hierher gekommen bist und was du überhaupt von mir willst." Ich blieb stehen und seufzte. "Wenn du kurz still bist, werden wir den Ort erreichen, den ich dir zeigen will und kann dir alle deine Fragen beantworten."
Nach kurzem überlegen seinerseits gingen wir weiter. Schließlich traten wir aus dem Dunkel der Bäume und man sah die Mauer. Hoch und unüberwindbar scheinend. "Wa- Was ist das denn?" fragte er entsetzt. "Bist du doof? Eine Mauer natürlich. Sieht man doch" "... Haha" sagte er mir ironisch entgegen. "Naja gut. Komm, wir gehen da hoch." Er trat einen Schritt zurück und zeigte auf die Mauer. "Da hoch?! Wie denn? Hast du dir das Ding Mal angesehen?" Ich seufzte abermals, dieser Junge war so anstrengend. Ein Wunder, das ich nicht schon längst abgebrochen habe.
Wortlos kletterte ich auf einen Baum und hob mein Hemd etwas an um von meinem Bauch ein langes zusammen geknüpftes Seil hervor zu holen. Ich band es am Ast des Baumes fest und tat nun selbst meinen Weg auf die Mauer. Als ich oben auf der Mauer stand blickte ich nach unten. Georges Gesicht strahlte vor Bewunderung. "Wie, was. Das ist genial! Du bist da einfach rüber gesprungen." "Jaja schon gut." entgegnete ich. "Du nimmst das Seil jetzt in deine Hände und nimmst so viel Anlauf wie du kannst. Wenn du an einem gewissen Punkt angekommen bist, musst du dich hinauf schwingen. Ich fange dich dann auf." Es war riskant, würde ich das Gleichgewicht verlieren. Wenn ich ihn hoch zog, könnte ich abstürzen. Aber es würde schon nicht passieren.
"Verstanden!" sagte er und nahm Anlauf. Er schwang hoch und ich fing ihn mit meinen Armen auf. Ich zog ihn mit Mühe nach oben und ließ mich schließlich nach hinten fallen. "Geschafft... Meine Güte, ist das schwer." Ich blickte George an und sah sein erstarrtes Gesicht. Er drehte sich zu mir und wies auf das was hinter der Mauer lag. "Was... Ist das? Wieso... Ist da... Ein Abgrund?"
Ich sah ihn ernst an. "George..." Ich setzte mich in den Schneidersitz mit dem Blick direkt zu ihm. "Das ganze Waisenhaus ist eine Lüge. Ihr seid auf einer Plantage und werdet gegessen. Die Mamas sind einfach nur eure Viehzüchter und die sogenannten Pflegefamilien existieren nicht, die Abende wo ihr zum Tor geht um eure angeblichen Eltern kennenzulernen sterbt ihr. Ihr seid..." "Warte warte warte." Unterbrach er mich. "Ist dir überhaupt bewusst was du da redest? Das ist so ein Quatsch." Ich runzelte die Stirn. "George. Ihr seid Luxusware." "Nein!" Er schrie mich an und stand ruckartig auf. "Wir sind eine Familie und unsere Mama liebt uns. Mit spätestens zwölf haben wir alle eine Pflegefamilie. Du lügst." Er blickte auf mich hinab. "Und wieso hat dann keines deiner Geschwister euch jemals einen Brief geschrieben? Ihr habt nie wieder etwas von ihnen gehört. Wieso habt ihr nur diese triste Kleidung und die Nummern am Hals? Das ist nur um euren Wert als Ware zu erhalten." "Aber... Nein du lügst." Ich stand auf. "Wenn du dieser Meinung bist, Schleich dich doch bei der nächsten Auslieferung mit und beobachte wie sie getötet werden. Die Leichen liegen dann auf der Ladefläche des Autos. Wenn du mir nicht glaubst, musst du es wohl so lernen." Kurze Zeit herrschte Stille bis ich bemerkte wie er Tränen in den Augen hatte. "George..." Ich stand ebenfalls auf, umarmte ihn und streichelte sanft seinen Kopf. "Es tut mir leid."
"Warum... Sollte ich dir glauben?" fragte er während er meine Umarmung erwiderte. "Du musst einfach. Sonst stirbst du."
Nach einer Weile hatte er sich beruhigt und wir lösten uns voneinander. "Wie alt bist du eigentlich?" fragte ich ihn. "Elf... Und du?" "Zehn" Ich lächelte. Wir setzten uns, allerdings zur Seite des Hauses und nicht zum Abgrund hin. "Weißt du, wann und wer als nächstes ausgeliefert wird?" Ich musste Informationen über die Leute und die Situation hier sammeln um genau planen zu können. Viel Zeit blieb nicht mehr. "Ja, Mina. Morgen schon." "Morgen..." "Dabei ist sie erst sechs Jahre alt." Er vergrub seinen Kopf in seinen Händen. "Achja stimmt. Das ist auch ein wichtiger Punkt. Die Auslieferungen passieren nicht wahllos, wenn das so wäre, wärst du sicher auch schon tot." Erschrocken blickte er mich an. "Oh tut mir leid." Ich hob eine Hand gegen meinen Mund. "Nicht wahllos?" fragte er mich. Ich nickte "Ja. Die Punktzahl in den Tests entscheidet wann ihr ausgeliefert werdet. Je höher, desto später und mit 12 endgültig." "Wieso denn unsere Punktzahl?"
"Denk nach. Durch Tests wird eure Intelligenz und eure Schlussfolgerungsgabe trainiert. Das betrifft besonders welches Körperteil?" Er überlegte kurz "Das Gehirn?" "Richtig." Er verzog sein Gesicht. "Die fressen unser Gehirn? Wie widerlich." Ich lachte.
Es wurde langsam spät und wenn wir beide länger wegblieben würde es auffallen, weswegen ich mich verabschiedete und wir die nächste Treffzeit vereinbarten. Am nächsten Tag nach dem Mittagessen, während der Spielzeit. Ich stand auf und half ihm von der Mauer herunter. "Und du? Wie kommst du nach Hause?" fragte er mich sichtlich verwirrt. "Ich laufe einfach auf der Mauer entlang, morgen dazu mehr." Er nickte und wir trennten uns schließlich.
An meinem Haus angekommen erwartete mich schon Isabella. "Wo warst du?" Ich zuckte zusammen. "Wo bist du all die Tage gewesen, wo du spurlos verschwunden warst?" Nervös tappelte ich auf einer Stelle. "Auf der Mauer." Sie hob ihre Augenbrauen und beugte sich zu mir herunter. "Ich kann dich zwar nicht mit einem Sender bewachen, aber wenn du das tust, was ich denke, werde ich dich auf jeden Fall daran hindern zu fliehen. Glaub nicht, du kommst damit durch." Flüsterte sie mir ins Ohr, damit es sonst niemand mitbekam.
Ich holte das Tablett mit dem Essen darauf ab, während sich die anderen Kinder schon setzten und ging in die Bibliothek. Ray saß da und ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, an den Tagen wo er nicht zum Ess-saal kam, ihm sein Essen zu bringen. Ich stellte es auf den Tisch und setzte mich neben ihn. Er sah mich trostlos an "Was willst du?" "Du musst etwas essen." sagte ich während ich ein Brot zerteilte. "Ich hab keinen Hunger. Wieso machst du das überhaupt? Wir kennen uns ja nicht Mal richtig." Ich musste schon sagen, eine gebrochene Person spielen konnte er ziemlich gut. Ich nahm die eine Hälfte des Brotes in die Hand. "Mund auf." Er erschrack. "Das kann ich selber" Er nahm es mir aus der Hand, legte es aufs Tablett und ging woanders hin. "Wenn du es nicht isst, sag ich's Mama." sagte ich ihm noch hinterher und ging wieder zurück um selber zu essen.

TPN- Eine etwas andere GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt