Kapitel XXV

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Selína rannte. Sie rannte und rannte, obwohl ihre Beine in Feuern standen und die tiefe Dunkelheit ihr die Sicht erschwerte. Sie rannte schon seit über einer halben Stunde und dennoch hörte sie nicht auf. Ihre Lunge brannte, verlangte nach mehr Sauerstoff, den sie ihr nicht geben konnte. Ihr Atem ging stoßweise und kam zischend über ihre Lippen, während sie immer weiter rannte. Bäume zogen an ihr vorbei wie die Silhouetten blutrünstiger Riesen, doch sie achtete nicht darauf. Ich muss weiter rennen!, befahl sie sich und verbot sich selbst, eine Pause zu machen. Obwohl ihr Körper immer weiter erschlaffte und um ein langsameres Tempo flehte, achtete sie nicht darauf, sondern trieb sich selbst immer weiter voran, wie ein Vieh mit einer Peitsche.

Äste und Blätter schlugen ihr entgegen wie Hände, zerkratzen ihr Gesicht und ließen blutige Schrammen zurück. Ein spitzer Ast riss die Haut an ihrer Wange so weit auf, dass dickes Blut hervor quoll. Das dünne Rinnsal floss über ihre Wange bis hin zu ihrem Kinn, wo es herab tropfte und auf ihrer Kleidung landete. Der dunkle Pulli saugte das Blut auf und lies es unsichtbar werden, als hab das Blut nie existiert. Doch Selína achtete nicht darauf. Trotz des Schmerzes in ihrer Wange rannte sie weiter und wischte sich nur grob mit dem Ärmel über die Wunde, wobei sie dabei beinahe aufgeschrien hätte. Der Schmerz zuckte wie ein Blitz durch sie hindurch und im letzten Moment konnte sie sich auf die Zunge beißen, ehe ein Laut über ihre Lippen kam. Sie durfte keinen Ton von sich geben, ihre Schritte waren ohnehin schon zu laut.

Stolpernd legte sie einige Meter zurück, ehe sie über eine am Boden liegende Wurzel fiel. Keuchend krachte sie auf den harten Boden und jegliche Luft wurde aus ihrer Lunge gepresst. Der Schmerz breitete sich wie ein Feuer in ihrem Körper aus und Tränen liefen lautlos über ihre Gesicht. Ihr Gesicht landete schmerzhaft in mitten von Matsch, welcher ihr sogleich in die Nase drang und ihr das Gefühl gab, zu ersticken. Hektisch zog sie ihr Gesicht aus der nassen Erde und ignorierte den Gestank, welcher in ihrer Nase lag. Ihre Hände waren durch den Sturz blutig geschrammt und der Dreck in ihnen sorgte für zusätzliche Schmerzen. Der Ringfinger ihrer linken Hand war während des Sturzes gegen etwas hartes gerammt worden und schmerzte unerträglich. Sie versuchte sich zu bewegen und biss sich sogleich fest gegen ihre Wangeninnenseite. Der Finger war gebrochen. Leise stöhnte sie auf und schlug sich eine Hand vor den Mund. Sie durfte keinen Laut machen, sonst war sie verloren.

Noch immer auf dem Boden liegend überlegte sie, ob sie nicht einfach liegen bleiben sollte, besann sich jedoch eines besseren. Ihre Ohren nahmen das Hundegebell ganz in ihrer Nähe war und sorgten für Panik, welche ihren Körper antrieb, weiter zu rennen. Selbst aus der Entfernung konnte sie das wütenden Kläffen der blutrünstigen Monster hören. Diese Hunde waren erfahrene Jäger, darauf ausgerichtet, Flüchtige zur Strecke zu bringen. Schon einmal wurde sie von einem Gebissen. Es hätte ihr beinahe das Leben gekostet und ihr Fuß hätte beinahe amputiert werden müssen. Doch nun war ein ganzen Rudel hinter ihr her und sie wusste, dass ihr diesmal niemand würde helfen können. Sie war alleine und musste weiter, ehe sie eingeholt wurde. Denn dies würde ihren Tot bedeuten. Keinen einfachen tot durch einen Schuss, nein, ein grausamen, langsamen, der wie eine Folter von dannen gehen würde. Doch mit jeder weiteren Sekunde, welche sie vergeudete, kamen die Hunde näher. Kam ihr Tod näher. Und mit ihnen die Menschen, welche hinter ihr her waren. Ihr, einer kleinen Diebin.

Stöhnend und nach Atem ringend stemmte sie sich hoch, wobei die ihren gebrochenen Finger nicht belastete. Ihr Herz pochte laut gegen ihre Rippen, während die Angst jeden noch so kleinen Zentimeter ihres Körper besetzte. Der Fluchtinstinkt war größer denn je, doch die Erschöpfung lähmte sie. Dennoch kam sie auf die Beine und lief taumelnd ein paar Schritte weiter. Beinahe wäre sie ein weiteres mal gestolpert, konnte sich jedoch noch auffangen. Sie zwang ihren Körper trotz der Schmerzen weiter und nahm keine Rücksicht darauf, ob sich sich dabei selbst umbrachte. Sie musste es schaffen, ihrer Mutter zu liebe. Und deshalb rannte sie weiter.

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