Kapitel 2

350 86 162
                                    

Das kann doch nicht... Langsam drehe ich mich nach links und reiße erschrocken die Augen auf. "Benet?", frage ich und schaue fassungslos auf den großen Typ neben mir. "Jo", brummt dieser nur und blickt mich aus seinen grünbraunen Augen belustigt an. Mir allerdings hat es die Sprache verschlagen und ich glotze ihn an, wie ein Goldfisch die Scheibe. Ich hätte ihn beinahe nicht wieder erkannt. Seine Stimme ist viel tiefer geworden, seine Schultern breiter und selbst im Sitzen überragt er mich um einen guten Kopf. Zudem hat er seine Haare geschnitten und trägt sie nun hochgestylt, wie so viele Jungs. Aber ihm steht es überraschend gut. "Tag Schwesterherz. Wie ich sehe, hat dir mein fabelhaftes Aussehen, die Sprache verschlagen", meint er verschmitzt und lässt dann seinen Blick kurz über meinen Körper wandern. "Hmm, du hast dich aber auch irgendwie verändert. Ich weiß nur nicht, woran das liegt...", kurz scheint er zu überlegen, bevor sich sein Gesicht schlagartig aufhellt. "Ach, jetzt weiß ich's! Du hast Brüste!", ruft er übertrieben erstaunt und fängt kurz darauf an zu lachen. Sein Lachen löst mich aus der Starre, in der ich bis jetzt verweilt bin und ich schlage ihm für seinen Kommentar gegen die Schulter. "Wie ich sehe, bist du immer noch so ein Idiot wie früher", brumme ich gespielt böse, lache allerdings einen Moment später auch los. Im Rückspiegel fange ich Mom's belustigten Blick auf, mit dem sie uns beide betrachtet.

So langsam verklingt das lachen und ich seufze entspannt auf. Die Neckereien mit meinem kleinen Bruder habe ich wirklich vermisst. Während meines Auslandsjahres war Benet bei unserer Tante Emely und deren Mann, da sich er und Gina so sehr gestritten haben, dass Benet ausziehen wollte. Meine Tante, die Kinder liebte, aber selbst keine bekommen konnte, hat Benet deswegen herzlich bei sich aufgenommen. Der Nachteil war, dass Emely in England irgendwo zwischen Schafen und Bäumen wohnte, also dort, wo der nächste Supermarkt eine Stunde entfernt ist. Dementsprechend gut ist auch das Netz bei ihnen, sodass wir nur sehr wenig schreiben konnten. Telefonieren ging gar nicht, es sei denn man wollte ein nerviger Rausch hören.

"Und, wie war's bei Emely?", fragte ich und blickte aus dem Fenster, hinter dem eine Grasfläche mit wenigen Bäumen wie ein Film abläuft. Nichts Besonderes und doch habe ich den Anblick vermisst. Die kargen, felsigen Flächen Arizonas waren für mich ein Stück Heimat. Hier bin ich aufgewachsen. Gerade senkt sich die Abendsonne über das Grasland und taucht den Himmel in ein buntes Farbenspiel aus rot, orange, lila und pink. Fasziniert betrachte ich das Farbenspiel. Ich liebe Sonnenuntergänge. Immer ist es dieselbe Prozedur, doch jedes Mal wird sie anders durchgeführt. Und jedes Mal fasziniert der Sonnenuntergang mich von neuem.

"Jo, ganz gut", kommt seine wortkarge Antwort und ich nicke kurz, den Blick immer noch auf das Schauspiel vor der Scheibe gerichtet. Benet redet meist nur, wenn man die richtigen Fragen stellt. Oder wenn ein hübsches Mädchen in der Nähe ist. "Was hast du denn so gemacht?", will ich wissen und wende den Blick von der Landschaft außerhalb des Autos ab. "Alter, willst du mich verhören?", fragt mein sechzehnjähriger Bruder belustigt und ich seufze innerlich. Benet ist also immer noch der Alte. Jedenfalls sind seine Stimmungsschwankungen nicht besser geworden. "Nö, ich interessiere mich nur für dein Leben, Bruderherz", sage ich spitz und richte den Blick nach vorne aufs Armaturenbrett. Mum sitzt am Steuer, ihr Blick starr auf die Straße vor uns gerichtet, während Mom fleißig eine Strickjacke in übermenschlicher Geschwindigkeit strickt und dabei aufmerksam unserem Gespräch lauscht.

"Was ging denn bei dir so? Gab's da irgendeinen Typ, der blind war? Oder hotte Mädels?" Bei letzterem grinst er anzüglich und ich verdrehe die Augen. "Stell dir vor, deine Schwester ist gar nicht mal so hässlich, dass der Typ blind sein muss, um was mit ihr machen zu wollen und was die Mädels dort betrifft...ich weiß nicht, was du unter heiß verstehst, aber auch falls sie heiß wären, würden sie sich garantiert nicht für dich interessieren", stichele ich ihn zurück und Benet schnaubt empört auf. "Ey, die Mädels liegen mir zu Füßen!", plustert er sich auf und ich winke ab. "Jaja." Manchmal hat mein kleiner Bruder ein zu großes Ego, doch ihm zu widersprechen habe ich schon lange aufgegeben. Die sinnlosen Diskussionen, die auf einen solchen Widerspruch folgen, sind mir zu anstrengend.

"So, da sind wir", unterbricht Mum's erfreute Stimme die Stille, die beginnt sich unter uns breitzumachen. Ich hebe den Kopf und erblicke das kleine, weise Haus vor mir. Mein Zuhause. Mein Herz klopf etwas schneller, als ich langsam die Türe öffne und über Janes Beine, welche tief und fest schlummert, nach draußen steige. Genießerisch ziehe ich die Luft ein. Endlich wieder daheim.

"Hat sich kaum etwas verändert, nicht?", frage Mum, die unbemerkt neben mich getreten ist und legt ihren Arm um meine Schulter. Mit ihrem 1,80 Metern überragt sie mich um gute zehn Zentimeter. Ich schmiege mich in ihre Armbeuge. "Mm", murmele ich nur und lasse den Blick über den kleinen, blühenden Vorgarten wandern, in dem es fröhlich zirpt. Im Haus ist es dunkel, bis auf ein Licht im zweiten Stock ganz rechts. Hinter dem Fenster befindet sich das Zimmer meiner älteren Schwester Gina. Sie ist also daheim.

"Komm', gehen wir rein.", fordert mich Mum auf und beugt sich herab, um Jane aus dem Sitz zu heben. Ich folge Mom und Benet, die schon im Haus verschwunden sind, mit dem Koffer in der Hand. Mum bildet mit Jane das Schlusslicht. Sobald ich im Inneren des Hauses bin, schlägt mir der Duft nach Pfannkuchen entgegen und lässt meine Magen fordernd knurren.

"Gina, wir sind wieder da!", ruft Mom nach oben und macht sich dann in der Küche daran, den Tisch zu decken. Sie erhält keine Antwort. "Gibt Essen!", schallt ihre Stimme kurz darauf erneut durchs Haus, während ich gerade dabei bin, meinen Koffer die Treppe hochzutragen. Vor meinem Zimmer bleibe ich stehen. An der hölzernen Tür hängt immer noch das Schild mit meinem Namen, dass ich mal in der Middelschool mit viel Geduld gestaltet habe. Der Graffitistiel hat mich eine Menge Zeit gekostet. Doch das Ergebnis war alle Mühe wert. Ich weiß noch, wie ich ganz stolz nach Hause kam und das Stück Papier mit meinem Namen darauf, postwendend an meine Zimmertüre geklebt habe. Gina musste natürlich wieder ihren üblichen überflüssigen Kommentar abgeben, aber allen anderen hat es gefallen. Auch wenn ich eigentlich schon längst zu alt für so etwas bin, habe ich es nicht übers Herz gebracht, das Schild abzuhängen.

"Summer! Gina! Es gibt Essen!", brüllt Mom zum wiederholten Mal und ich öffne eilig die Zimmertüre, um meinen Koffer verräumen zu können. Mein Zimmer sieht noch genauso aus, wie vor einem Jahr. Ein schmales Bett steht unterhalb des Fensters, welches von cremefarbenen Vorhängen geziert ist. Der hölzerne Schreibtisch steht in der Dachschräge unter dem Dachfenster und ist immer noch mit allerlei Krimskrams überfüllt. Mein Kleiderschrank und die Kommode besetzen den Platz an der Wand unterhalb meines Bettes. Alles, wie ich es in Erinnerung habe.

Das Grummeln meines Magens erinnert mich an die Köstlichkeiten unten in der Küche und lassen mich wie ferngesteuert zur Tür und raus auf den Gang gehen. Gerade als ich die Tür zu meinem Zimmer schließe, öffnet sich die Tür gegenüber von mir. Die Tür zu Ginas Zimmer. Heraus kommt das Biest persönlich.

Ihr Gesicht ist perfekt geschminkt, ihre Kleidung makellos, als wolle sie in eine fünf Sterne Restaurant gehen. Ihr Blick, der bis eben auf den Türknauf gelegen hat, hebt sich und findet mich. Es vergeht keine Millisekunde, da ziert ein herablassendes Grinsen ihr Gesicht und ihre Augen sprühen vor Hohn und Arroganz. "Du bist wieder da? Hätte der Flieger nicht einfach abstürzen können?", fragt sie genervt und taxiert mich mit ihrem Blick. Ich bleibe geschockt stehen und sage nichts. Nicht, dass ich etwas anderes erwartet habe, aber ich war nicht darauf vorbereitet, ihr jetzt schon zu begegnen. Ihre Worte treffen mich unvorbereitet. Langsam, wie eine Schlange kommt sie auf mich zu, bis sie schließlich einen Meter vor mir stehen bleibt und mich von oben herab mustert. Leider ist Gina einen guten halben Kopf größer als ich und zudem noch schlanker, was sie noch größer erscheinen lässt. Ihr Blick wandert über meinen Körper, der in einem Oversizepullover und abgetragenen Jeans steckt. Ihre Lippen verziehen sich zu einem spöttischen Lächeln. "Du bist ja noch hässlicher geworden. Und fetter. Geh mir einfach aus den Augen, sonst erblinde ich noch.", gibt sie von sich und wartet auf meine Reaktion. Ich habe mich so weit gefangen und blicke sie nun herausfordernd an. "Das hast du gar nicht mehr nötig, Gina. Dein fehlendes Hirn macht dich blind genug", gebe ich süffisant von mir und stolziere erhobenen Hauptes davon. Von ihr werde ich mich sicherlich nicht fertig machen lassen. Nicht mehr!

***

Hey zusammen. Ich kam endlich mal wieder dazu, zu schreiben. Das nächste Kapitel wird auch demnächst kommen xD

Was haltet ihr bisher von Gina und Benet?

Bis dann!

Secrets of the past | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt