Mein Leben hat einen Sinn

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Falls du, sehr verehrter Leser, damit rechnest, dass ich dieses Kapitel meiner Memoiren einer Erörterung bzw. Evaluation zu der Auffassung gewisser Philosophen zum Sinn des Lebens und meiner eigenen Meinung dazu widme, dann muss ich dich leider enttäuschen.

Der Umstand ist viel simpler und vermutlich eher meinem Stand im Ottonormalverbraucher-Mittelstand angemessen, obwohl ich in nun fast neun Jahren Gymnasium ordentlich Akademiker- und Oberschichtluft schnuppern durfte.

Und neun Jahre sind, wie ich gerade bemerke, eine verdammt lange Zeit, die aber schon sehr bald ein endgültiges Ende finden wird. Ja, nicht mehr lange und ich bin frei. Zugegeben, der Gedanke daran stresst mich schon enorm, weil ich der planlose Protagonist im Buch meines Lebens bin, in dem der Großteil der Seiten erst noch beschrieben werden muss.

Manchmal denke ich doch tatsächlich darüber nach, ob ich nicht ohne Abitur besser dran wäre (nicht zwangsläufig weil wir schon jetzt einen Akademikerüberschuss haben, Tendenz zunehmend, und keiner mehr weiß, wohin mit all den Studienabsolventen, sondern vielmehr weil mich die Masse an Wahlmöglichkeiten schlichtweg überfordert und ich mich nicht festlegen kann und will).

Soviel dazu, aber wieder zurück zum Thema:

Mein Leben hat endlich einen Sinn (zwar mit sehr genauer Voraussichtlichkeit nur noch bis Freitag, aber immerhin). Fest steht jedenfalls, dass ich sowohl mit lachenden als auch mit einem weinenden Auge auf die anderthalb Wochen zurückblicken werde.

Wovon zum Geier ich rede, fragst du dich, sehr verehrter Leser?

Ich habe mich (als Nachzügler, aber wie heißt es so schön: Lieber spät als nie) nun auch dem Drang hingegeben, den man ohne Frage als notorischen Drang der heutigen Gesellschaft, vor allem zu Zeiten von Corona, bezeichnen könnte.

Erstmal ein kurzer Abschnitt Hintergrundwissen: Meine Familie hat seit Ende Dezember letzten Jahres einen Netflix-Account. Sprich, mein Bruder ist meinem Dad so lange auf die Nerven gegangen, bis der nachgegeben hat. Weil ich mich (wie oben schon angedeutet) in meinem finalen Schuljahr befinde, habe ich damals einen Schwur geleistet:

Keine Serien, sonst vernachlässigst du noch die Schule!

Kleiner, aber wichtiger Zusatz: Mit keine Serien meinte ich damit übrigens alles über einer Staffel und deshalb zähle ich die paar Folgen Bridgerton und Lupin nicht dazu (letztere habe ich sowieso an einem Abend/einer Nacht durchgezogen, weshalb ich es eher als überaus lang geratenen Film zählen würde).

Du, sehr verehrter Leser, denkst es dir schon und hast dabei völlig recht. Tatsächlich habe ich meinen Schwur nicht ganz so ernst genommen. Und das ist noch milde ausgedrückt. Ich muss ferner zugeben, dass ich bis letzten Mittwochnachmittag Seriensuchties belächelt habe: Wie kann man sein Leben bitte von einer einzigen dämlichen Serie abhängig machen?

Jetzt bin ich jedenfalls schlauer: Das geht nämlich sehr wohl.

Welche Serie es mir angetan hat? Es ist eine Serie, die aus momentan fünf Staffeln besteht und im britischen Städtchen Birmingham des frühen zwanzigsten Jahrhunderts spielt.

Na?

Richtig: Peaky Blinders.

Ich bin schon öfters beim Scrollen durch die endlosen Auswahlmöglichkeiten auf diese Serie gestoßen, habe mich aber die ganzen Male davor auf meinen Schwur besonnen und die Finger davon gelassen.

Am letzten Mittwoch jedoch bin ich nach knapp über drei Stunden Jurassic Park ein wenig planlos auf Netflix verweilt (und planlos auf Netflix kann sehr gefährlich sein). Und was springt mir nach weniger als einer Minute ins Auge?

Ich klicke also auf abspielen und entscheide mich spontan zusätzlich dazu, mir die Serie im originalen Englisch anzuschauen (oder anzuhören, je nachdem, wie man es nimmt).

Was soll ich sagen: Die eine Folge, die ich an diesem Tag gesehen habe, hat mich gefesselt (aber erst nachdem ich mich über den Akzent lustig gemacht habe). Momentan bin ich bei Staffel vier Folge vier, aber auch nur, weil ich seit Donnerstag meine kompletten Nachmittage geopfert habe (geopfert ist vielleicht das falsche Wort, weil es recht negativ konotiert ist, aber du verstehst hoffentlich, worauf ich hinaus will).

Heute habe ich mich auf strikten Entzug (drei Folgen pro Tag) gesetzt, den ich bis zum bitteren Ende beibehalten will. Deshalb weiß ich auch so genau, dass ich am Freitag die momentan letzte Folge sehen werde (hätte ich morgen nicht einen beschissen gelegenen Kieferorthopädentermin, würde da jetzt übrigens Samstag stehen).

Ich werde das übrigens einhalten; größtenteils liegt es daran, dass ich im Vergleich zur letzten Woche keine Ferien mehr habe und deshalb keine andere Möglichkeit sehe. Und zu einem kleinen Teil liegt es daran, dass ich gestern Abend ziemliche Kopfschmerzen hatte, die ich auf den übermäßigen Fernsehkonsum der letzten Tage zurückführe.

Ich habe außerdem den, zugegeben laschen, Entschluss gefasst, es bis nach meinen Abiprüfungen (ob ich damit die schriftlichen oder mündlichen meine, habe ich noch nicht festgelegt (da trickse ich mich doch glatt absichtlich selbst aus, ups) mit jeglichen Serien seinzulassen, damit ich mich voll aufs Lernen konzentrieren kann.

Der Teufel auf meiner einen Schulter lacht sich gerade übrigens einen ab. Als hätte ich nicht andere Möglichkeiten, mich vor der Schule zu drücken...

Peaky Blinders bestimmt jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt mein Leben; das mache ich an drei konkreten Beispielen fest.

Erstens: Ich lese automatisch jeden englischen Text gedanklich mit dem birminghamschen Akzent (und damit meine ich ausnahmslos jeden). Das ist durchaus problematisch, wenn das Buch, das man liest, auf der anderen Seite des Atlantiks spielt, wo man bekanntlich mit amerikanischem Akzent spricht.

Zweitens habe ich mich heute ertappt, wie ich statt "Fuck" "Fock" gesagt habe, als mir etwas eingefallen ist, das mir schon viel früher hätte einfallen sollen. Die Charaktere fluchen aber auch ganz schön viel und das vermutlich einzige, das sie öfters tun ist Rauchen (vor allem der gute Tommy) und Whiskey trinken (und das ist sogar meinemn Dad aufgefallen, obwohl er nur ein paar wenige Mal vorbeigekommen ist und vielleicht insgesamt zwei Minuten gesehen hat).

Und zu guter Letzt: Ich habe gestern wie jeden Sonntag Tatort geschaut. Nichts besonders und auch ehrlich gesagt nicht besonders spannend oder interessant. Dementsprechend überrascht aufgesprungen bin ich, als bei einer Szene in einem irischen Pub der Titelsong von Peaky Blinders eingespielt wurde und während des ganzen Gesprächs im Hintergrund lief. Komischerweise kann ich mich an kein Wort der Unterhaltung zwischen Mörder und Lockvogel erinnern...

Aber warum erzähle ich dir, sehr verehrter Leser, das überhaupt? Ich verschwende damit doch nur deine kostbare Zeit. Abgesehen davon interessiert es dich doch sowieso genauso wenig wie sich Thomas Shelby für ein Glas Wasser interessieren würde.

Memoiren, die keinen interessierenWhere stories live. Discover now