Bismarck und das verlorene Komma

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Entweder hat Bismarck das Komma vergessen (im Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei dem Dokument um ein offizielles handelt, ist das nicht zu verzeihen (Schande über ihn oder wie die rote Königin bei Alice im Wunderland sagen würde: "Ab mit seinem Kopf!")) oder er hasst schlichtweg Kommata und vermeidet sie wenn möglich.

Letzteres wirft die Frage auf, warum er dann möglichst komplexe Sätze formuliert, die unweigerlich Kommata bedürfen. Fragen über Fragen.

Wie ich überhaupt zu diesem Thema komme, fragst du dich, sehr verehrter Leser?

Meine Wenigkeit hatte gestern Geschichte und wir sollten eine Quelle von Otto von Bismarck über das Unfallversicherungsgesetz (krasses langes Wort, ich liebe die deutsche Sprache) lesen. Witzig war, dass die Quelle so gekürzt war, dass man gar nicht hätte verstehen können, dass sie davon handelte, wenn nicht der Einführungstext darüber berichtet hätte...

Zurück zum Wesentlichen. Hier der Textauszug, der mich (und meine Sitznachbarin) gestört hat: "[...] Ich bin der Meinung, dass das 'laisser faire, laisser aller', 'das reine Manchestertum in der Politik', 'Jeder sehe, wie er's , jeder sehe, wo er bleibe', 'Wer nicht stark genug ist zu stehen, wird niedergerannt und zu Boden getreten', 'Wer da hat, dem wird gegeben, wer nicht hat, dem wird genommen', dass das im Staat, namentlich dem monarchischen, landesväterlichen regierten Staat Anwendung finden könne. [...]"

Ich drehte mich also zu meiner Nebensitzerin und fragte sie, ob sie den Satz verstehe. Sie war sich am Anfang noch ziemlich sicher, dass der Satz logisch wäre, stimmte mir dann aber nach einigem intensiven Studieren des Satzes zu, dass da irgendetwas nicht stimmte. Wir waren uns nur nicht sicher, was das Problem war, und saßen bestimmt fünf Minuten an dem Text, bis wir herausgefunden haben, was uns irritiert hat. 

Fällt dir, sehr verehrter Leser, etwas auf? Ein Komma fehlt. Ein sehr wichtiges sogar, weil der Satz ohne dieses kaum einen Sinn ergibt. Hier die berichtigte Textstelle (zum besseren Verständnis habe ich die entscheidende Stelle fett markiert): "[...] Ich bin der Meinung, dass das 'laisser faire, laisser aller', 'das reine Manchestertum in der Politik', 'Jeder sehe, wie er's , jeder sehe, wo er bleibe', 'Wer nicht stark genug ist zu stehen, wird niedergerannt und zu Boden getreten', 'Wer da hat, dem wird gegeben, wer nicht hat, dem wird genommen', dass das im Staat, namentlich dem monarchischen, landesväterlichen regierten Staat, Anwendung finden könne. [...]"

Ohne dieses Komma wäre der Satz unvollständig und würde wie folgt lauten: "Ich bin der Meinung [...], dass das im Staat..." Da fehlt offensichtlich das Verb, dass ohne die Abtrennung durch das Komma verloren geht und nicht mit dem besagten dass-Satz in Verbindung gebracht werden kann.

Ich muss schon sagen, dass das ganze meiner Seele weh getan hat. Warum musste Bismarck die deutsche Sprache vergewaltigen? Leider können wir ihn nicht mehr fragen (oder dafür bestrafen, dass er seiner Muttersprache nicht mächtig ist).

Um die Frage wenigstens halbwegs beantworten zu können, greife ich meine Hypothesen auf. 

Hasste Bismarck Kommata? Wenig wahrscheinlich, da er im weiteren Verlauf alle Kommata richtig gesetzt hat und recht komplexe Satzstrukturen verwendete. Hätte er sie gehasst, hätte er sicherlich auf solche komplizierte Formulierungen verzichtet, somit kann das nicht der Fall sein.

Hat Bismarck das Komma schlichtweg vergessen? Er hat sicherlich immens viele Schriften verfasst, sodass es nicht unwahrscheinlich ist, dass er irgendwo ein Komma vergessen hat. Aber warum ist das niemandem aufgefallen? Ist das ein Indiz dafür, dass die Leute damals ungebildet waren? Oder war selbst den Politikern die Politik egal? Wäre ja nichts neues, ist schließlich heute auch so...

Ich kann mir außerdem kaum vorstellen, dass er niemanden hatte, der Korrektur gelesen hat. Demjenigen hätte der Fehler also doch auffallen müssen, oder? War sein Lektor also genauso ungebildet wie alle anderen, hatte er keine Lust auf seine Arbeit oder war er schlichtweg mit der Masse an Werken überfordert?

Memoiren, die keinen interessierenWhere stories live. Discover now