»Das Schloss des weißen Königs?«, wiederholte ich.
Isabella seufzte. »Also ... wenn du später wirklich mal Schulpsychologin werden willst, solltest du lernen, besser zuzuhören.« Sie ließ mir keine Chance, mich zu verteidigen. »Reimann hat doch von einer Prinzessin erzählt, die angeblich vor zweiundzwanzig Jahren entführt worden ist.«
»Ach, tatsächlich?«, fragte Dimitri. »Noch ein verschwundenes Mädchen?«
Isabella schnippte mit den Fingern. »Ganz genau.«
»Ja, ich erinnere mich«, sagte ich. »Reimann hat davon erzählt, dass die Agenten der Organisation ein Schloss gestürmt hätten.«
»Bravo, bravo.« Isabella klatschte affektiert in die Hände. »Um genau zu sein, hat er von einem Schloss auf dem Hügel gesprochen. Und ich denke, ich weiß, was er damit gemeint hat.«
»Dann wurde tatsächlich ein Mädchen entführt?«, hakte ich nach.
Isabella verzog das Gesicht. »Das habe ich leider nicht rausfinden können. Aber mit dem Schloss hat Reimann ganz bestimmt die Künstlervilla oben auf dem Honberg gemeint.«
»Ist die nicht abgebrannt?«
»Ganz genau. Und zwar vor zweiundzwanzig Jahren, also 1997.« Die Musik wechselte und Isabella zog mich am Arm in eine der Sitznischen. »Bevor sie abgebrannt ist, hat die Villa einem Herrn Weiß gehört.« Isabella zog vielsagend die Augenbrauen hoch. »Dieser Kerl und seine Behausung waren damals ziemlich berüchtigt. In der Zeitung stand, die Villa wäre eine Künstlerkommune gewesen.«
»Du meinst Sex, Drugs und die Beatles?«
Isabella schnaubte. »Wohl eher Sex, Drugs und Picasso.«
»Wieso ist die Villa abgebrannt?«, fragte Dimitri, der uns durch den Glitzervorhang gefolgt war.
»Brandstiftung«, antwortete Isabella. »Aber der oder die Täter sind nie gefasst worden.«
»Und dieser Herr Weiß?«
»Ist damals ums Leben gekommen. Genau wie viele seiner ... sagen wir mal ... Mitbewohner.« Isabella spähte an Dimitri vorbei, als befürchtete sie, wir könnten belauscht werden. »Klingt wie das Werk einer geheimen Organisation, oder?«
Beinahe hätte ich ihr aus reiner Gewohnheit zugestimmt. Im letzten Moment konnte ich mich davon abhalten. »Nein, Isabella. Das klingt wie das Werk gelangweilter Jugendlicher mit Streichhölzern.« Tatsächlich kam es nicht selten vor, dass es in den Wäldern brannte. Die Gegend rund um Heiderstedt neigte dazu, im Hochsommer vollkommen auszutrocknen. Dann reichte schon eine weggeworfene Zigarette, um ein Inferno zu entzünden.
Isabella zog eine Flunsch. »Ach, komm' schon.«
»Was für eine Organisation?«, fragte Dimitri.
»Agenten in schwarzen Kutten, die harmlosen Bürgern ihr Flunz stehlen«, erklärte Isabella.
Dimitri warf mir einen hilfesuchenden Blick zu.
»Vergiss es«, sagte ich. »Das sind nur die Hirngespinste eines kranken Mannes.« Ich bedachte Isabella mit einem strengen Blick. »Wenn du unbedingt TKKG spielen willst, von mir aus, aber jetzt gibt es etwas Wichtigeres zu tun.« Mit gesenkter Stimme fügte ich hinzu: »Wir müssen Romeo davon überzeugen, Auroras Forderungen zu erfüllen, damit ich nächsten Dienstag nicht erschossen werde.«
Die Worte auszusprechen, sandte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Bislang hatte ich noch nicht ernsthaft darüber nachgedacht, dass Aurora ihre Drohung wahrmachen und mich töten könnte. Dimitri hatte mich buchstäblich mit vollem Körpereinsatz davon abgehalten, doch jetzt tröpfelte die Furcht langsam in meinen Kopf. Diese schleichende Form der Angst, die sich wie Gift in meinen Gedanken ausbreitete, war fast schlimmer als die nackte Panik, die ich nach Auroras Auftauchen empfunden hatte.
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Nonlinear
Mystery / ThrillerEmilia und ihre kleine Schwester Isabella arbeiten in den Semesterferien im Waffelladen ihres notorisch kriminellen Cousins. Zu den üblichen Problemen - verschwundenen Eiern, paranoiden Lieferanten und nächtlichen Prügeleien - gesellt sich schon bal...