10-1 | Der Junge mit dem aufgeschürften Knie

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»Alles in Ordnung?«, fragte ich und stellte den Getränkekasten auf dem Boden ab.

Der Junge wich meinem Blick aus. Das Blut lief an seinem Bein entlang und hatte inzwischen fast seine bunte Ringelsocke erreicht.

Ich versuchte es noch einmal. »Wo sind deine Eltern?«

Mein Gegenüber senkte den Blick auf seine Füße, die in ausgetretenen Sportschuhen steckten. Er mochte vielleicht acht oder neun Jahre alt sein. Alt genug, um sich beim Spielen von Zuhause zu entfernen.

»Na schön«, seufzte ich. »Magst du vielleicht eine Waffel haben?« Ich deutete auf die bonbonfarbene Fassade des "Zu den Waffeln". »Und während du isst, kümmere ich mich um dein Bein«, ergänzte ich mit einem – wie ich hoffte – vertrauenserweckenden Lächeln.

Der Junge rang sich zu einem zögerlichen Nicken durch und machte Anstalten, von der Mülltonne zu klettern.

»Oh, Achtung.« Ich wollte ihm zu Hilfe eilen, aber er wich meinen zupackenden Händen aus, als wäre ich das Monster, das unter seinem Bett wohnte. Dabei kam er ungünstig auf und sackte mit einem erstickten Schmerzenslaut in die Hocke. »Oh je, hast du dir wehgetan?«, keuchte ich und kniete mich zu ihm. »Lass mal sehen.«

»Schon gut«, grollte der Junge, schlang die Arme um die Beine und funkelte mich aus lebkuchenbraunen Augen herausfordernd an.

Ich hob abwehrend beide Hände. »Na gut, na gut.«

Für ein paar Sekunden hockten wir schweigend voreinander. Um uns herum prasselte der Regen auf den feuchten Asphalt. Es klang wie ein dumpfes, an- und abschwellendes Rauschen. Fast wie Statik.

»Ich heiße Emilia«, sagte ich schließlich. »Und du?«

Der Junge knabberte an seiner Unterlippe herum. Regentropfen liefen ihm aus den nassen Haaren und über das verschlossene Gesicht. »Björn.«

»Hallo, Björn. Das Angebot mit den Waffeln steht noch.« Ich bemühte mich um einen möglichst sanften Tonfall. »Komm' doch mit rein. Wenigstens bis deine Eltern wiederkommen oder der Regen nachlässt.«

Wortlos streckte Björn die Hand aus und zog sich an der Mülltonne auf die Beine. Dann humpelte er los, dem "Zu den Waffeln" entgegen. Ich schnappte mir den Getränkekasten und folgte ihm. Innerlich war ich sehr dankbar für diese Ablenkung. So musste ich nicht über Reimanns Verschwörungstheorien nachgrübeln.

Die Tür wurde uns von einem unerwarteten Gesicht geöffnet.

»Matteo? Was machst du denn hier?«

Matteo lächelte mich an. »Ich habe einen Karton Himbeeren vorbeigebracht. Wir hatten zu viele bestellt.« Er fuhr sich mit einer Hand durch die schwarzen Kringellocken und musterte Björn neugierig. »Und wer bist du, kleiner Mann?«

Björn schielte missmutig zu ihm hoch.

»Er redet nicht gerne«, sagte ich.

»Warte, ich nehm' dir das ab.« Matteo entwand mir den Getränkekasten. »Wo soll das hin?«

»Erstmal nach hinten, ins Lager.« Ich wandte mich an Patrice, der am Kühlschrank stand und die Eier, die er gekauft hatte, sorgfältig abzählte. »Die restlichen Kästen stehen hinten an der Straße. Könnten du und Toni vielleicht losgehen und sie holen?«

Patrice grummelte etwas Unverständliches.

»Hat Reimann euch mal wieder hängenlassen?«, fragte Matteo, während er den Kasten ins Lager schleppte.

Ich nickte. »Er ist mal wieder auf seinem eigenen Trip.« Die Worte kamen mir nicht leicht über die Lippen, denn ganz eventuell waren Reimann und ich – ohne es zu Wissen – auf dem gleichen Trip. »So und jetzt zu dir«, sagte ich an Björn gewandt. »Am besten suchst du dir schonmal ein paar Zutaten aus. Ich komme dann und mache dir eine Waffel, ja?«

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