Der Rest des Tages war ein einziges schön-schreckliches Chaos. Da sich die Neuigkeit von Lenis Verschwinden rasend schnell in Heiderstedt herumsprach, tummelten sich schon bald allerlei Neuigierige vor dem Haus der Familie Gerlach. Sogar jemand vom lokalen Käseblatt war angerückt und führte Interviews mit den besorgten Nachbarn. Und da das "Zu den Waffeln" direkt auf der anderen Straßenseite lag, hatten wir innerhalb kürzester Zeit alle Hände voll damit zu tun, hungrige Schaulustige zu bedienen.
Umso dankbarer war ich für Dimitris Unterstützung. Zu Anfang tat er sich etwas schwer, weil er die Rezepte noch nicht auswendig kannte und auch noch nicht verinnerlicht hatte, wo alles Nötige zu finden war, doch schon am frühen Nachmittag hatte er sich eingelebt und arbeitete wie am Fließband. Er vergaß keine Zutaten, berechnete selbst komplizierte Kommabeträge im Kopf und verlor nie den Überblick über die Bestellungen. Auch mit den Kunden schien er im Laufe des Tages immer besser zurechtzukommen. Während er am Morgen noch etwas gehemmt gewirkt hatte, lachte und scherzte er später am Tag mit den Kunden als hätte er nie etwas anderes getan. Es war eine richtige Freude ihm zuzusehen.
Obwohl der Anlass des Kundenansturms – Lenis Verschwinden – denkbar unschön war, schwebte ich die ganze Zeit über auf einem rosaroten Zuckerwattewölkchen. Was Romeo über Dimitri gesagt hatte, war mir regelrecht zu Kopf gestiegen. Die Vorstellung, mein Schwarm könnte auf mich aufmerksam geworden sein und mich vielleicht sogar ganz anziehend finden, ließ mein armes Herz verrückt spielen.
Es war fast zweieinhalb Jahre her, dass ich so verknallt gewesen war. Damals in den Betreuer meiner Bachelorarbeit, Phillipp Binz. Der fünf Jahre ältere Postdoc hatte sich viel Zeit genommen, um mir die Auswertung meiner erhobenen Daten zu erklären. Zuerst in der Uni-Bibliothek und später bei sich Zuhause. Unsere Beziehung hatte sich mit der unkontrollierbaren Heftigkeit einer Büroaffaire entwickelt und dieses Niveau nie verlassen. Der Sex war gut gewesen, die Streitereien davor und danach eher weniger. Rückblickend wusste ich nicht einmal mehr, wieso wir uns gestritten hatten. Belangloses Zeug. Mein Bedarf nach emotionaler und körperlicher Nähe. Sein Bedarf nach Freiraum. Irgendwas in der Art.
Interessanterweise hatte ich mich nach dem Ende dieser Beziehung nicht direkt nach etwas Neuem gesehnt, sondern die Zeit der Enthaltsamkeit einfach hingenommen und mich ganz auf mein Masterstudium konzentriert – mit Erfolg. Kurz vor dem Abschluss konnte ich in allen Bereichen Bestnoten vorweisen, was mich meinem Traumberuf ein ganzes Stück näher brachte.
Gegen Mittag nahm die Fahndung nach Leni Fahrt auf und um vierzehn Uhr machten sich die ersten Suchteams auf den Weg, um die Felder und Wälder rund um Heiderstedt zu durchkämmen, während Polizeiboote den Fluss absuchten. Romeo und seine Freunde schlossen sich den freiwilligen Suchtrupps an. Kurz bevor sie den Laden verließen, nahm Romeo mich noch einmal zur Seite, um mir einzuschärfen, dass mit Dimitri etwas nicht stimme und dass ich ihm nicht vertrauen dürfe. Aber was mit ihm nicht stimmte und wieso ich ihm nicht trauen dürfte, wollte er mir nicht verraten. Also hakte ich seine Aufforderung als übersteigertes Kontrollbedürfnis ab.
Gegen achtzehn Uhr kam schließlich die Entwarnung. Jemand hatte das Auto von Lenis Mutter in der Stadt gesehen, ganz in der Nähe vom Haus der Familie Gerlach. Die Polizei vermutete daher, dass sie mit Lenis Verschwinden zu tun hatte. Daraufhin wurden die Suchmaßnahmen vorläufig eingestellt und stattdessen eine Großfahndung nach Frau Gerlach und ihrem Auto eingeleitet. Kurz darauf schlossen Isabella, Dimitri und ich den Laden.
»Dimi macht sich gut, oder?«, fragte Isabella, als wir wenig später im Wohnzimmer saßen und Waffeln mit Ei und Schinken verputzten.
Ich nickte zustimmend. »Hast du gemerkt, wie gut er Kopfrechnen kann? Ich glaube, er ist ein Genie.«
»Das würde erklären, warum Romeo solche Angst vor ihm hat«, lachte Isabella, platzierte ihre Füße auf dem gläsernen Beistelltisch und wackelte mit den Zehen.
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Nonlinear
Misterio / SuspensoEmilia und ihre kleine Schwester Isabella arbeiten in den Semesterferien im Waffelladen ihres notorisch kriminellen Cousins. Zu den üblichen Problemen - verschwundenen Eiern, paranoiden Lieferanten und nächtlichen Prügeleien - gesellt sich schon bal...