Am nächsten Morgen brachen wir in aller Herrgottsfrühe zum Muscle Gym auf, wo Léon arbeitete. Wir hofften, ihn noch vor unserer Schicht im "Zu den Waffeln" verhören zu können.
»Weißt du was, Emmi?«, fragte Isabella, während sie ihren limettengrünen Toyota durch die schmalen Gassen der Innenstadt lenkte.
»Nein, was?«, seufzte ich und rieb mir die Augen. Normalerweise war ich der frühe Vogel und Isabella die Nachteule, aber heute fühlte ich mich wie gerädert. Vermutlich hing das mit den gestrigen Erlebnissen zusammen.
Isabella hielt an einer roten Ampel und trommelte ungeduldig mit den Daumen auf das Lenkrad. »Ich glaube, Reimann ist gar nicht verrückt.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Es scheint was dran zu sein an den Dingen, die er so erzählt.«
»Du meinst die geheime Organisation, die ganz Heiderstedt unterwandert hat?«
Isabella zuckte mit den Schultern. »Du musst doch zugeben, dass irgendwas an der Sache faul ist.«
Das musste ich in der Tat. Aber deswegen vermutete ich noch lange keine Verschwörung.
»Vielleicht hat Reimann was beobachtet«, schlug Isabella vor. »Den Brand. Oder die Entführung.«
Ich unterdrückte ein Gähnen. »Möglich. Die Prinzessin könnte das Kind sein, das in der Villa gefangen gehalten worden ist.«
»Aber dann wären der Zylindermann und die Organisation ja die Guten«, wandte Isabella ein.
»Wie alt bist du? Sieben?«
»Wieso?«
»Weil du immer noch in Schwarz und Weiß denkst.«
»Was denkst du denn, was der Zylindermann von uns wollte? Nach dem Weg fragen?«
»Nein«, gab ich zu. »Und wenn wir mit Léon und Romeo durch sind, kümmere ich mich darum.«
Gnädigerweise fragte Isabella nicht nach meinen konkreten Plänen, sonst hätte ich wohl zugeben müssen, dass ich mir noch keine großen Gedanken darüber gemacht hatte, wie ich das anstellen sollte.
Das Muscle Gym lag im Gewerbegebiet, wo ich in der vergangenen Woche Dimitri begegnet war. Direkt nebenan befand sich ein Burger King, der jedoch um diese Uhrzeit noch nicht geöffnet hatte.
Isabella parkte am hinteren Ende der Betonfläche, die das Muscle Gym umgab. Vor dem Eingang standen bereits mehrere Autos. Die meisten davon ähnlich "aufgepimpt" wie Romeos Dany.
»Ob Romeo auch schon hier ist?«, fragte Isabella, während sie die Autotür zuwarf.
Ich schüttelte den Kopf. »Ne. Der schläft noch.«
Das Muscle Gym war kein normales Fitnessstudio, eher eine Männerhöhle. Frauen waren zwar erlaubt, machten aber für gewöhnlich einen großen Bogen um den Laden, der an eine Lagerhalle mit dem Charme einer verlassenen Stahlfabrik erinnerte. Die vorherrschenden Materialien waren Metall und Glas, aber die Möbel im Eingangsbereich und der Empfangstresen waren vollständig verchromt. Rechts vom Tresen standen mehrere silbergraue Stahlspinde. Dahinter befand sich eine Glasscheibe, die eine gute Sicht auf den Rest der Halle und die verschiedenen Trainingsgeräte erlaubte. Im vorderen Bereich reihten sich Laufbänder und Crosstrainer nebeneinander auf, doch das Herz des Muscle Gym waren ganz eindeutig die Kraftgeräte und der Boxring im hinteren Teil der Halle.
Obwohl es noch früh am Tag war, trainierten bereits einige Männer, stemmten Gewichte oder machten Klimmzüge. Zwei Kerle, die ich vom Sehen her kannte, beschäftigten sich mit einem Sandsack und einem Punchingball, die an einer beweglichen Metallkonstruktion befestigt waren. Der Typ, der den Boxsack bearbeitete, tänzelte auf der Stelle und verschwand immer wieder hinter seiner Deckung, nur, um kurz darauf wieder hervorzubrechen und zuzuschlagen.
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Nonlinear
Mistério / SuspenseEmilia und ihre kleine Schwester Isabella arbeiten in den Semesterferien im Waffelladen ihres notorisch kriminellen Cousins. Zu den üblichen Problemen - verschwundenen Eiern, paranoiden Lieferanten und nächtlichen Prügeleien - gesellt sich schon bal...