08-1 | Cinderella

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Das Target war lang und schmal. Zu Schulzeiten hatten wir es scherzhaft Wurmloch genannt. Im vorderen Bereich befand sich eine Bar mit indirekt beleuchteten Regalen, in denen sich allerlei Spirituosen aufreihten, und einem glitzernden Tresen, der noch aus Puff-Zeiten stammen musste. Jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, dass knallharte Rocker einen Tresen gekauft hätten, der aussah, als hätte sich ein Einhorn darauf übergeben. Außerdem wies die Oberfläche ein paar seltsame, knopfförmige Dellen auf, die nur von Highheel-Absätzen stammen konnten.

Hinter der Theke stand seit ein paar Wochen Babu, der sich in seiner neuen Rolle als Barkeeper sichtlich gefiel. Mir war völlig unklar, wie er den Job bekommen hatte. Jeder, der ihn fünf Minuten lang erlebte, wusste, dass er furchtbar ungeschickt war, ständig Dinge umwarf und sogar über seine eigenen Füße stolperte. Er war sicher nicht der Typ, dem ich irgendetwas Zerbrechliches anvertraut hätte. Andererseits besaß Babu ein sonniges Gemüt, lachte viel und kam mit allen Menschen gut aus, sogar mit den größten Flachpfeifen. Vielleicht, weil er meistens high war.

Wie auch immer, als Romeo und ich das Target betraten, winkte er uns von der Bar aus zu. Mit seinem dunklen Teint, den Tattoos, dem Akzent und den tiefschwarzen Augen hatte er schon das eine oder andere Mädchenherz gebrochen. Auch jetzt war er wieder von einer Traube weiblicher Fans umringt. Die Mädchen kümmerte es nicht, ob er ihnen die Drinks ins Glas oder in den Ausschnitt kippte. Sie schienen sein Ungeschick süß zu finden.

Romeo erwiderte den Gruß, fasste meine Hand und zog mich mit sich durch die Menge. Vom Tresen abgesehen, besaß das Target einen ziemlich speziellen Industrie-Look. Die Wände waren mit Aluminium-Paneelen verkleidet, die eine Stahlplatten-Optik erzeugten. Die Hängelampen erinnerten an Grubenleuchten, die Tische bestanden aus hellen Akazienholz-Platten mit massiven Metallbeinen und die dazugehörigen Stühle besaßen abgenutzte Lederbezüge.

Im hinteren Teil veränderte sich das Erscheinungsbild des Targets wieder von Rockerkneipe zum Nachtclub. Der Boden der Tanzfläche funkelte mit der Milchstraße um die Wette und sternförmig angeordnete Séparées mit roten Polstersesseln waren durch lamettaartige Vorhänge vom Rest des Raums abgetrennt. Aus den Lautsprechern drang düstere Rockmusik, von der ich nur sagen konnte, dass sie nicht meinen Geschmack traf. Persönlich begeisterte ich mich eher für sanfte Pop- und Folksongs.

Zielstrebig steuerte Romeo das größte Séparée an. Dort wurden wir bereits von Patrice, Léon, Michi, Kevin und Toni erwartet. Wie immer war Léon damit beschäftigt, den richtigen Winkel für ein Selfie zu finden, während Kevin in seinem Notizbuch herumkritzelte, das niemand sehen durfte. Die anderen Männer tranken Bier und fachsimpelten über Autos und Fußball. Alles genau wie ich es erwartet hatte.

»Hey, yo, wo warst du?«, fragte Patrice und begrüßte Romeo mit Handschlag.

»Musste Emmi abholen«, antwortete Romeo und schob sich in die Sitzecke. Von meinem Verfolger sagte er nichts, was mir auch ganz recht war. Aus der Sicherheit des Targets heraus betrachtet, kamen mir nämlich bereits erste Zweifel an meiner Panikreaktion. Vielleicht gab es ja irgendwo im Dorf einen Kostümball und Jack the Ripper hatte bloß nach dem Weg fragen wollen. Oder er ist ein perverser Kindesentführer auf der Suche nach seinem nächsten Opfer. Ich schüttelte den Gedanken ab. Viel wahrscheinlicher war es, dass er zu den Hyänen gehörte und auf der Suche nach den Moneten war, die Romeo und seine Bande ihm gestohlen hatten.

»Komm', setz' dich«, sagte Romeo auffordernd, während er die Beine ausstreckte und die Arme über die Rückenlehne ausbreitete.

Michi hielt mir seine leere Bierflasche hin. »Ne, hol' uns erstmal was zu trinken.«

»Hol's dir selbst«, erwiderte ich und ließ mich neben Romeo auf die rote Polsterbank plumpsen. Mein Blick wanderte zwischen den Glitzerfäden des Lametta-Vorhangs hindurch, auf der Suche nach Dimitri, doch er schien noch nicht hier zu sein.

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