23-2 | Das Ei der Wahrheit

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Ich wickelte Felix. Irgendwie hielt ich mich ganz gut. Jedenfalls bis ich ihn sauber gemacht hatte und darauf wartete, dass sein Popo trocknete. Da brach es über mich herein. Mit einem leisen Stöhnen presste ich mir die Handballen auf die Augen, aber die Tränen ließen sich nicht zurückhalten. Das ist die Anspannung, sagte ich zu mir selbst. Das ist nur die Anspannung. Lass es einfach raus. Jetzt sieht es keiner.

Meiner inneren Stimme gehorchend, ließ ich mich rücklings aufs Bett sinken. Direkt neben Felix, der mich anlächelte und mit den Armen wedelte. Ich rollte mich auf die Seite und streichelte sein Gesicht, während mir die Tränen an der Nase entlang liefen und auf die Bettdecke tropften. Dadurch wurde ein betäubender Geruch nach Staub, Weichmacher und Lavendel freigesetzt, wie etwas, das in Gletschereis eingeschlossen auf den Frühling gewartet hatte.

Felix machte ein Geräusch, das wie ein gackerndes Huhn klang. Trotz der Tränen musste ich lachen. Irgendwie bildete ich mir ein, dass er mich aufheitern wollte. »Schon gut«, sagte ich zu ihm. »Ich muss nur mal kurz weinen. Das hört gleich wieder auf.«

Liebevoll kitzelte ich ihn mit dem Finger unter dem Kinn.

Felix wollte nach mir greifen, besaß jedoch noch nicht die dafür notwendige Koordination. Zu sehen, wie er mit seinen niedlichen Händchen wiederholt ins Leere griff und dabei ein Gesicht zog, als müsste er eine komplizierte Matheaufgabe lösen, lockerte das Gefühl von Spannung und Schwere in meiner Brust.

Ich beugte mich vor und küsste ihn auf die Stirn. Seine Haut fühlte sich irgendwie so weich und neu an. Wie etwas, das bis vor Kurzem noch in Cellophan verpackt gewesen war. »Ich werde ganz schön traurig sein, wenn ich dich wieder zurückgeben muss«, teilte ich ihm mit. »Aber weißt du was? Ich wünschte, dein Papa wäre hier. Also ... falls er dein echter Papa ist. Und du nicht irgendein Reagenzglas-Baby mit Superkräften bist.«

Fast erwartete ich, dass sich meine Worte bewahrheiten sollten und Felix plötzlich zu schweben beginnen würde. Doch natürlich geschah nichts dergleichen. Ganz egal, was der Zylindermann gesagt hatte. Felix war ein normales Kind mit hübschen, lebkuchenbraunen Augen und einer aufgeweckten Persönlichkeit. Er war kein Freak, kein Mutant, kein Ungeheuer. Und obwohl ich ihn erst seit etwa einem Tag kannte, hatte ich ihn schon gewaltig lieb gewonnen. Genau wie seinen Vater.

Kurz darauf öffnete sich die Tür und Aurora stellte ein Fläschchen mit Babymilch auf den Nachttisch. »Du bleibst hier, bis ich dich hole«, sagte sie. »Und wenn du was Blödes anstellst, wird deine Schwester dafür bezahlen. Klar?«

»Klar«, antwortete ich.

Ich hatte nicht vor, etwas Blödes anzustellen. Selbst wenn es mir gelungen wäre, irgendwie die Rollläden hochzuziehen, ohne dass Aurora oder ihre Wilhelm-Busch-Zwillinge darauf aufmerksam geworden wären, hätte ich wohl kaum aus dem Fenster klettern oder jemanden auf der Straße zu Hilfe rufen können. Und mich mit gefesselten Füßen aus dem Zimmer zu schleichen, kam mir ebenfalls ziemlich riskant vor. Mal ganz davon abgesehen, dass ich niemals Felix oder Isabella zurückgelassen hätte.

Also fütterte ich Felix und wartete, bis er sein Bäuerchen gemacht hatte. Dann legte ich das sichtlich zufriedene Baby zurück in den Maxi-Cosi und rollte mich daneben auf dem Bett zusammen.

Die Ereignisse der vergangenen Tage waren nicht spurlos an mir vorübergegangen. Meine Zuversicht war wie ein überanstrengter Muskel. Ich brauchte eine Pause. Einen Tag der Ruhe. Wenigstens einen Tag ohne Waffen, Eier und Zylindermänner. Doch im Moment konnte ich nur hoffen, dass Romeo den Mund aufmachen würde. Endlich den Mund aufmachen würde, musste man wohl sagen. In unser aller Interesse. So sehr ich mich auch immer über ihn und seine unfähigen Freunde beschwert hatte, den Tod wünschte ich keinem von ihnen. Nein, sicher nicht. Die Jungs waren zwar alle ein bisschen bescheuert, aber irgendwie auch liebenswert – und ausgesprochen loyal.

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