07-2 | Jack the Ripper

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Die Luft war noch immer angenehm warm und es roch intensiv nach gemähtem Gras. Der Himmel verfärbte sich gerade von rosa zu grau. Einzelne Sterne schimmerten bereits aus der Dunkelheit hervor, als könnten sie den Einbruch der Nacht kaum erwarten.

Das Target lag ungefähr zwanzig Minuten entfernt auf der anderen Seite der Innenstadt. Es hieß, früher sei das Lokal eine Rockerkneipe und ein Puff gewesen und irgendwie konnte ich mir das gut vorstellen. Inzwischen war der Laden eine Art Bar mit Tanzfläche und gleichzeitig das zweite Zuhause von Romeo und seiner Gang. Die Werkstatt – Patrice' Garage – lag nur ein paar Häuser entfernt und so kam es, dass mein Cousin und seine Freunde beinahe jeden Abend im Target verbrachten.

Ich persönlich feierte lieber in Driebeck, in der TanzBar oder im RainbowAndMore. Dort war alles ein bisschen bunter und weniger dörflich. Aber um Dimitri zu sehen, wäre ich überall hingegangen. Die Aussicht, ihn zu treffen, beschwingte meine Schritte und ich schwebte förmlich meinem Ziel entgegen. Ich war so glücklich, dass es sich anfühlte, als würde mein Körper Endorphine versprühen. Beinahe wunderte ich mich, dass ich nicht von einer leuchtenden Korona umgeben war.

Ich folgte den dunklen Straßen bis zum Kirchplatz und bog von dort in die schmale Gasse hinter der Jakobus-Kirche ein. Immer wieder zückte ich im Gehen mein Handy und las den kurzen Chat zwischen mir und Dimitri – und jedes Mal war es, als würde eine neue Woge Glücksgefühle durch meinen Körper rauschen.

Von meiner Umgebung bekam ich dagegen nicht viel mit. Verschiedene Geräusche und Gerüche streiften meine Sinne, aber ich war zu sehr auf mein Handy und mein Innenleben fixiert, um ihnen irgendeine Bedeutung beizumessen. Wie benebelt vor Glück traumwandelte ich durch die Abenddämmerung und bemerkte daher erst sehr spät, wie verlassen die Gegend war.

Erst als die gusseisernen Straßenlaternen um mich herum aufflammten, wurde ich mir der Leere bewusst. Normalerweise spielten um diese Uhrzeit noch Kinder auf den Straßen und Jugendliche krochen aus ihren Höhlen, um Plätze und Hinterhöfe zu bevölkern, schales Bier zu trinken und laut Musik zu hören. Isabella und ich hatten früher das Gleiche gemacht und waren uns dabei sehr erwachsen vorgekommen. Doch jetzt herrschte Stille.

Vielleicht wegen dem, was Leni zugestoßen war. Nicht wenige unserer Kunden hatten den Verdacht geäußert, ein Pädophiler würde in Heiderstedt umgehen, wie der Plumpsack aus dem gleichnamigen Fangspiel. Oder der Kinderfresser aus den hiesigen Mythen und Legenden. Dementsprechend zogen es wohl viele Eltern vor, ihre Kinder am heutigen Abend nicht auf die Straße zu lassen. Jedenfalls solange, bis Leni wieder sicher zu Hause war. Wobei ich bezweifelte, dass sie daheim bei ihrem Vater wirklich sicher war.

Meine Schritte erzeugten auf dem unebenen Straßenpflaster ein hohl klingendes Geräusch und die in regelmäßigen Abständen angebrachten Laternen schickten meinen Schatten auf eine wiederkehrende Wanderschaft. Mal schlich er sich von hinten an mich heran, dann schien er vor mir wegzurennen, hinein in die Dunkelheit, als wäre sie ein magisches Portal, das ihn hinter meinem Rücken wieder ausspuckte.

Die Situation war nicht wirklich unheimlich, nur irgendwie ungewohnt. Obwohl ich alleine war, hatte ich plötzlich den Eindruck, beobachtet zu werden.

Mein Gefühlsleben kühlte ab und ein eisiger Schauer wanderte meine Wirbelsäule hinunter. Suchend ließ ich meinen Blick über die Hausfassaden zu beiden Seiten der Gasse schweifen. Viele der hübsch restaurierten Fachwerkhäuschen stammten noch aus dem Mittelalter. Hinter den meisten Butzenfenstern brannte Licht und trotzdem hatte ich das Gefühl, allein auf hoher See zu sein, viele Meilen vom nächsten Festland entfernt. Mir war klar, dass ich mir das nur einbildete. Meine Nerven waren überreizt und meine Fantasie tanzte mir auf der Nase herum. Trotzdem fasste ich mein Handy fester und beschleunigte meine Schritte.

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