13-1 | Das Schloss des weißen Königs

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Der Honberg war der kleinere der beiden Berge, die Heiderstedt flankierten. Er war dicht bewaldet und ein beliebtes Ausflugsziel. Vermutlich würde es auf den schmalen Waldwegen schon bald von Wanderern und Tagestouristen nur so wimmeln. Eltern würden ihre Kinder den Berg hochtreiben wie Vieh auf die Alm. Jedenfalls war es Isabella und mir früher so ergangen. Unsere Eltern hatten die Meinung vertreten, nichts könnte einen sonntäglichen Kirchgang so gut ersetzen, wie eine Wanderung auf den Honberg. Dabei gab es auf der Kuppe nicht einmal was zu sehen. Nur einen schnöden Aussichtsturm aus Chrom und Glas, der inmitten der unberührten Natur wie ein störender Fremdkörper wirkte. Bevor man dorthin gelangte, musste man sich jedoch einen steilen Pfad hinaufquälen. Etwa auf halber Strecke lag die ehemalige Künstlerkommune.

»Oh, Gott!«, keuchte Isabella, die einige Meter zurückgefallen war und schicksalsergeben hinter mir her schlurfte. »Sind wir noch nicht da?«

»Hat Mama dir nicht immer wieder gesagt, dass du den Namen des Herrn nicht zweckentfremden sollst?«, gab ich zurück.

»Zweckentfremden?«, echote Isabella. »In meiner Stunde des Todes?«

Ich blieb stehen, damit sie zu mir aufholen konnte. Wir waren etwa zwanzig Minuten unterwegs und Isabella tat, als ob bereits Stunden oder Tage vergangen wären. »Jetzt übertreib' mal nicht.«

»Du hast gut reden.« Isabella blieb ebenfalls stehen, keuchend und schnaufend, wie nach einem Marathonlauf. Sie trug eine schwarze Stretchhose mit Nieten, ein violettes, ärmelloses Shirt mit Batikmuster und zerschlissene Chucks. Die dicken Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden, aus dem sich bereits einige Strähnen gelöst hatten. Ihr Gesicht war vor Anstrengung gerötet. »Du quälst dich ja zum Vergnügen.«

»Ich quäle mich nicht. Ob du es glaubst oder nicht, Sport kann Spaß machen.« Solange ich denken kann, hatte ich mich schon immer gerne bewegt. Zu Schulzeiten war ich Mitglied im DLRG gewesen, hatte Volleyball und Tennis gespielt. Seit ich an die Uni ging, hatte ich nicht mehr so viel Zeit, aber ich ging noch immer regelmäßig laufen, machte Yoga und schwamm bei Gelegenheit ein paar Bahnen, am liebsten frühmorgens, direkt nach dem Sonnenaufgang. Mit Isabella teilte ich mir nur die Leidenschaft fürs Tanzen. Alle anderen Sportarten betrachtete meine Schwester mit geradezu feindseligem Argwohn.

»Ja, ja ...« Isabella stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und ließ den Kopf nach vorne fallen. »Ich weiß schon, du hast dein Leben voll im Griff.«

»Das wollte ich damit nicht sagen.«

»Doch, doch. Du bist einfach perfekt.«

»Bella«, sagte ich mahnend. Es war nicht das erste Mal, dass sie mir vorwarf, so unerreichbar perfekt zu sein, dass sie neben mir zwangsläufig wie das Enfant terrible der Familie Geyer wirken musste. Dabei war ich nun wirklich alles andere als unfehlbar. Niemand wurde gerne mit seinen Schwächen konfrontiert, aber durch mein Studium hatte ich gelernt, mich besser einzuschätzen. Mir war nun bewusst, dass ich krampfhaft danach strebte, einen guten Eindruck zu machen. Außerdem hatte ich den Drang, alles kontrollieren zu müssen. Sogar Dinge, die weit außerhalb meines Einflussbereichs lagen. Manchmal vermutete ich, dass  dieser Drang auf ein Ereignis in der sechsten Klasse zurückging. Damals war eine Klassenkameradin von mir bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der Vorfall hatte mich sehr mitgenommen. Seitdem hatte ein Teil von mir das dauerhafte Verlangen, alles ganz genau zu planen. Sowohl meine Karriere als auch mein Privatleben. Deswegen malte ich mir wohl auch schon aus, wie meine und Dimitris Zukunft verlaufen würde, obwohl wir nicht einmal offiziell zusammen waren. Ich konnte die Dinge einfach nicht auf mich zukommen lassen.

»Machen wir eine Pause«, schlug ich vor. »Da vorne ist eine Bank.« Ich nahm meinen Rucksack ab, öffnete ihn und zog eine Packung Leibniz-Kekse heraus.

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