14-1 | Whitechapel 2019

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Die Treppe war nicht so morsch und unsicher, wie ich gedacht hatte. Ebenso wenig wie die Galerie, die sich daran anschloss. Ganz anders sah es bei den Zimmern im ersten Stock aus. Besonders schlimm hatte es die Räume auf der Westseite getroffen. Der Brand hatte sie förmlich ausgehöhlt und nicht mehr als ein Gerippe aus nacktem Beton übriggelassen. Die Spuren des Feuers zogen sich wie ein unheimliches Schattentheater über die Wände, sodass man ungefähr erahnen konnte, wie sich die Flammen ausgebreitet hatten. Es musste schnell gegangen sein. Verflucht schnell.

»Stand in der Zeitung irgendwas von einem Brandbeschleuniger?«

Isabella schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Yo, abgefuckt«, sagte Patrice, während er wie gebannt auf ein vollkommen verkohltes Bettgestell starrte.

Rundherum hatte das Feuer flammenförmige, spitz zulaufende Muster an die Wände gemalt. Auch nach zweiundzwanzig Jahren hing noch ein bitterer Brandgeruch in der Luft. Wie ein schales Parfüm. Unwillkürlich musste ich daran denken, wie grausam die Menschen hier zu Tode gekommen sein mussten. Das Feuer hatte sie wahrscheinlich im Schlaf überrascht.

»Scheiße«, murmelte Patrice und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. So ziemlich sein einziger Körperteil, der nicht von Tattoos übersät war. Sogar seine Fingerknöchel waren tätowiert. »Abgefuckte Scheiße.«

Dafür, dass Patrice gern den harten Macker markierte, schien ihn der Anblick der Zerstörung ganz schön mitzunehmen. Irgendwie beruhigend.

»Seht euch das an«, hauchte Isabella, die einen Raum weiter auf die Überreste eines Badezimmers gestoßen war. Abgeplatzte, rußgeschwärzte Fliesen. Aus der Decke quellender Dämmstoff. Eine Badewanne voll schwarzer Schmiere.

Ich fröstelte. Auch wenn ich nicht daran glaubte, schienen Geister an diesem Ort realer zu sein als an anderen Orten. Weniger im Sinne von Seelen, die in der Welt der Lebenden gefangen waren, als im Sinne von Erinnerungen, die hinter verlassenen Mauern weiterlebten. Als würden die Verstorbenen aus dem Jenseits die Hände ausstrecken und mit kalten Fingern über mein Rückgrat streichen.

Ein dumpfes Poltern ließ mich zusammenzucken. Auch Isabella und Patrice machten einen erschrockenen Satz.

»Entschuldigung«, sagte Hörbe, der sich unbemerkt die Treppe hinaufgequält hatte und beim Betreten eines angrenzenden Zimmers über einen herabgestürzten Dachbalken gestolpert war.

Patrice eilte herbei und half ihm, sich wieder aufzurichten.

Das besagte Zimmer war erstaunlich gut erhalten.  In einem anderen Jahrhundert hätte man es vermutlich Salon genannt. Rosensalon oder sowas in der Art. Jedenfalls hatte die Tapete eine verwaschene, altrosa Farbe. Möbel gab es bis auf ein Kabinett und ein Klavier keine. Beides war vermutlich zu schwer gewesen, um es zu stehlen. Allerdings wiesen die Möbel starke Spuren von Vernachlässigung, Verfall und Vandalismus auf. Dem Kabinett fehlten Türen und Schubladen, dem Klavier der Deckel und mehrere Tasten. Auf dem zerkratzten Dielenboden lagen zertrümmerte Bilderrahmen und zerfetzte Leinwände. Nur ein einziges Gemälde war noch erhalten. Ein fast mannshohes Bild von einer unbekleideten Dame, die am Fenster stand und sich mit einem Federfächer Luft zufächelte.

Ich verstand nicht viel von Kunst, aber das Bild hatte etwas Faszinierendes. Es wirkte intim und voyeuristisch, aber nicht vulgär. Wie ein flüchtiger Blick durchs Schlüsselloch. Obwohl die Frau nackt war, standen nicht ihre Brüste oder ihr Intimbereich im Vordergrund, sondern ihr gelangweilter Gesichtsausdruck und ihr offensichtliches Desinteresse, nicht nur, was den Betrachter anging, sondern auch in Bezug auf ihre eigene Nacktheit. Sie schämte sich nicht. Es war ihr schlichtweg egal, wer sie so sah. Diese Einstellung, die der Künstler wirklich grandios eingefangen hatte, machte sie zur Herrin der Lage. Sie war nicht bloß ein schönes Motiv, sondern eine lebendige Person, die ihre Geschichte erzählte.

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