23-1 | Das Ei der Wahrheit

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»Alles in Ordnung?«, flüsterte Romeo.

Ich nickte schwerfällig. Auch einige Stunden nach dem Vorfall war ich noch immer wie betäubt. Vielleicht hatte ich es nur Felix zu verdanken, dass ich noch lebte. Durch sein Geschrei hatte er Aurora davon abgehalten, mir eine Kugel in den Kopf zu jagen. Davon war ich überzeugt.

Isabella schien ebenfalls zu glauben, dass ich dem Tod nur knapp entronnen war. Sie lehnte an meiner Schulter und schien diese Position auch in nächster Zeit nicht aufgeben zu wollen. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sich vermutlich auf meinem Schoß zusammengerollt, so wie auf den alten Fotos, die unsere Eltern in der Wohnzimmervitrine aufbewahrten.

»Wie lange soll das hier noch gehen?«, fragte Michi, der sich in einem unbeobachteten Moment von seinem Knebel befreit hatte.

»So lange, bis ich das Ei habe«, erwiderte Aurora, die uns gegenüber auf dem Sofa lümmelte und sich mithilfe eines Taschenspiegels die Lippen nachzog. Auf ihrem Schoß lag die Pistole und neben ihr stand der hellrosafarbene Maxi-Cosi. Felix war in den vergangenen Minuten immer unruhiger geworden. Kein Wunder. Draußen wurde es bereits dunkel. Bestimmt hatte er Hunger.

»Bald werden unsere Familien auf unser Verschwinden aufmerksam werden«, ergänzte Michi. »Und dann wimmelt's hier nur so von Bullen.«

Aurora ließ Lippenstift und Spiegel wieder in ihrer Handtasche verschwinden. »Natürlich. Wenn die kleinen Jungs um zehn nicht Zuhause sind, ruft Mami die Polizei.«

Im Hintergrund war noch immer zu hören, wie Max und Moritz den Laden und das dazugehörige Haus zerlegten. Es klang, als würden sie das Mobiliar zertrümmern und die Verkleidung von den Wänden reißen. Romeo konnte bloß froh sein, dass seine Eltern in Italien weilten.

»Nutzt die Zeit lieber zum Nachdenken«, sagte Aurora. »Denn wenn wir nicht finden, was wir suchen, werde ich wieder zu Plan A zurückkehren. Und das heißt, ich werde euch nacheinander abknallen – bis einem von euch wieder einfällt, wo das Ei ist.«

Patrice schüttelte ungläubig den Kopf.

»Was ist?«, fragte Aurora, richtete sich auf und spazierte mit wiegenden Hüften zu uns herüber. Während sie Kevin die Waffe gegen die Wange drückte, befreite sie Patrice von seinem Knebel. »Was hast du zu sagen, Äffchen?«

Patrice hatte tatsächlich etwas von einem Schimpansen. Trotzdem verspürte ich den seltsamen Impuls, ihn vor Aurora zu verteidigen. Nur die Erinnerung an kalten Stahl auf meiner Haut hielt mich davon ab.

»Nichts«, brummte Patrice, ohne Aurora anzusehen.

Sie stupste ihn mit dem Lauf ihrer Waffe an. »Na los, nicht so schüchtern.«

»Es sind diese verflixten Eier!«, platzte es aus Patrice heraus. »Seit Tagen verschwinden in diesem Haus Eier.«

»Ja, dass hier ein eklatanter Mangel an Eiern herrscht, hab ich schon gemerkt«, erwiderte Aurora, ließ sich wieder auf die Couch sinken und schlug damenhaft die Beine übereinander.

Patrice schien sie gar nicht zu hören. »Also wer auch immer diese verfickten Hühnereier geklaut hat, hat wahrscheinlich auch dein beschissenes Gold-Ei.«

»Ich verstehe. Und wer hat die Hühnereier geklaut?«

»Keine Ahnung. Aber wenn du ihn findest, kannst du ihn gern abknallen.«

Neben mir krümmte sich Romeo, als hätte er ganz plötzlich Schmerzen.

»Na, Romeo? Hast du dir beim Denken weh getan?«, fragte Aurora mit einer spöttisch hochgezogenen Augenbraue. »Das liegt daran, dass dir die Übung fehlt.«

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