Bis vor einem Jahr hatte das "Zu den Waffeln" noch Romeos Eltern, Onkel Giuseppe und seiner Frau Sofie, gehört. Dann waren die beiden in Giuseppes Heimat Italien zurückgekehrt, um die Pflege von Opa Arturo zu übernehmen. Der alte Mann war zwar – dank Olivenöl und italienischer Lebensfreude – noch ziemlich rüstig, traf aber gern äußerst risikofreudige Entscheidungen, wie zum Beispiel seine ganze Verwandtschaft zu enterben und von dem Geld Prada-Handtaschen für sein zwanzigjähriges Betthäschen Ana-aus-Brasilien zu kaufen. Seit der überstürzten Abreise seiner Eltern kümmerte sich Romeo um den Laden.
Isabella und ich hatten für die Dauer unserer Aushilfstätigkeit das Gästezimmer im oberen Stockwerk bezogen. Theoretisch hätten wir auch bei unseren Eltern übernachten können, aber da die beiden ohnehin im Urlaub waren, zogen wir es vor, über dem Waffelladen zu residieren. Auf diese Weise konnten wir wenigstens ausschlafen.
Am Abend nach meinem Ausflug mit Dimitri konnte ich mich kaum konzentrieren. Unruhig klickte ich mich auf meinem Laptop durch die wisschenschaftlichen Artikel, die das Grundgerüst meiner Masterarbeit formen sollten. Die Buchstaben waren für mich nur bedeutungslose Striche und Linien und so ertappte ich mich wiederholt dabei, wie ich Sätze mehrfach lesen musste, um ihren Sinn zu begreifen.
Auf dem Bett an der gegenüberliegenden Wand lag Isabella und gab vor, etwas für die Uni zu programmieren, während sie in Wirklichkeit Stardew Valley spielte. Die Haare hatte sie nach dem Duschen zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fiel. Sie trug ein schlabbriges T-Shirt mit dem Wappen von Minas Tirith darauf und Shorts, die ihren Po nur knapp bedeckten.
Obwohl die Sonne schon vor einer Weile untergegangen war, herrschte noch immer eine Bullenhitze. Sie staute sich unter den hölzernen Dachbalken, die dem Zimmer einen bäuerlichen Charme verliehen. Das geöffnete Fenster spendete kaum Abkühlung. Dafür drangen das Zirpen der Insekten, der Geruch von Gegrilltem und die Stimmen von Romeos Freunden, die unten im Büro ihr allabendliches Pokerturnier veranstalteten, zu uns herein.
Die Zeit schien stillzustehen und meine Gedanken schweiften zurück zu Dimitri. Dadurch wurde ich noch kribbeliger. Trotz all der Rätsel, die er mir aufgab, konnte ich es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Meine Gefühle fuhren keine Achterbahn, sondern rasten wie in einem dieser Brechreiz-induzierenden Freifalltürme dem Erdboden entgegen. Die Ungewissheit raubte mir den letzten Nerv. Was für ein Mensch war Dimitri? Konnte ich mir etwas mit ihm vorstellen? Und was dachte er von mir? Hielt er mich für eine durchgeknallte Stalkerin? Wie würde es sich anfühlen, mit den Fingern durch seine Haare zu fahren, seine erhitzte Haut zu berühren und seine Lippen auf meinen zu spüren?
»Hey«, beschwerte sich Isabella. »Du sabberst.«
Ich fasste mir an die Lippen. »Tut mir leid.« Ein Seufzer entwand sich meiner Brust. »Aber ich kriege ihn einfach nicht aus dem Kopf.«
Isabella klappte ihren Laptop zu und seufzte. »Willst du darüber reden?«
»Keine Ahnung«, murmelte ich und klemmte mir eine lose Haarsträhne hinter das Ohr.
»Also mir geht Dimi auch nicht aus dem Kopf«, sagte Isabella, setzte sich aufrecht hin und flippte sich den Zopf über die Schulter.
Ich schob meinen Laptop beiseite und zog die nackten Knie bis zum Kinn. »Ach ja?«
»Aus anderen Gründen als bei dir natürlich«, ergänzte Isabella. »Aber ja.« Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ ihren Blick zum Fenster hinauswandern, wo die Farben der Abenddämmerung langsam verblassten. »Ich hab' mir überlegt ... vielleicht ist er ein Serienkiller.«
»Bella«, keuchte ich. »Hörst du dich eigentlich manchmal selbst reden?«
»Ich versuch's zu vermeiden.«
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Nonlinear
Misteri / ThrillerEmilia und ihre kleine Schwester Isabella arbeiten in den Semesterferien im Waffelladen ihres notorisch kriminellen Cousins. Zu den üblichen Problemen - verschwundenen Eiern, paranoiden Lieferanten und nächtlichen Prügeleien - gesellt sich schon bal...