17-2 | Brad Pitt

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Der Film war tatsächlich nicht so furchtbar, wie die ersten fünf Minuten vermuten gelassen hatten. Er entwickelte sogar einen geradezu hypnotischen Sog. Trotzdem fiel es mir schwer, mich auf die Handlung zu konzentrieren.

Dimitris Nähe brachte mich mehr aus dem Konzept als ich mir eingestehen wollte. In gewisser Weise glich er einem großen Magneten – und ich war unbedarft in sein Kraftfeld geraten. Nicht wortwörtlich, aber meine Aufmerksamkeit war ständig auf ihn gerichtet, selbst wenn ich ihn nicht direkt ansah. Jede Regung auf seinem Gesicht und jedes Muskelzucken in seinen Fingern nahm ich um ein Vielfaches verstärkt wahr. Auch mein Körper war ihm zugewandt und unsere Hände blieben für die ganze Dauer des Films ineinander verschränkt. Ich hätte Sonette darüber schreiben können, wie es sich anfühlte, ihn zu berühren. Es war wirklich lange her, dass ich so für irgendeinen Menschen empfunden hatte.

Erst als Nick Cave auf der Leinwand sein Lied anstimmte und die letzten Minuten des Films anbrachen, erwachte ich langsam aus meinem traumähnlichen Zustand. Es wurde Zeit, den zweiten Teil unseres Dates einzuleiten. Oder mich zumindest gedanklich darauf einzustimmen.

Der Abspann wurde abgespult. Dimitri legte den Kopf zurück und sah mich an. Im Licht der Notbeleuchtung glänzten seine Augen wie dunkle Glasmurmeln. »Und?«

Ich nickte und hoffte, dass er von mir keine tiefgehende Analyse des Films erwartete.

»Muss man jetzt klatschen?«

»Nein«, erwiderte ich erleichtert. »Das heben wir uns für's Theater auf.«

Dimitri warf einen Blick auf seine Armbanduhr, deren Zeiger im Dunkeln fluoreszierten. »Jetzt gleich im Anschluss?«

»Ich dachte, wir gehen zuerst was essen.«

Dimitri linste demonstrativ in seine leere Popcorntüte. »Klingt verlockend.«

Ich hatte mein Popcorn nicht einmal angerührt.

»Gut. Dann lass uns gehen«, sagte ich, auch wenn ich im Grunde nichts dagegen gehabt hätte, noch etwas sitzenzubleiben. 

Unsere Hände lösten sich voneinander. Wir standen auf und gingen zum Ausgang. Von Toni war nichts zu sehen. Vielleicht hatte er sich verdrückt, um uns etwas Privatsphäre zu gönnen. Dafür musste ich mich auf jeden Fall bei ihm erkenntlich zeigen. Toni war wirklich ein Heiliger unter Schwachmaten.

Am Ende der müffelnden Kinopassage erwartete uns eine überraschend angenehme Abenddämmerung. Der Regen hatte sich verzogen und die meisten Pfützen waren schon wieder getrocknet. Die Luft fühlte sich warm und samtig an und hinter dem Glockenturm der Jacobus-Kirche zeichnete sich ein goldener Sonnenuntergang ab.

»Weißt du, ich denke, Robert Ford war gar kein Feigling«, sagte Dimitri unvermittelt.

»Was meinst du?«

»Ich denke, Jesse James wollte in gewisser Weise erschossen werden.«

Mir wurde klar, dass er vom Film redete. »Wie kommst du denn darauf?«

Dimitri steckte die Hände in die Hosentaschen und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Er hob den Kopf und blinzelte in das Licht der untergehenden Sonne. »Oder vielleicht doch. Mein Vater hat sich am Anfang seiner Erkrankung ähnlich verhalten. Er war verwirrt, depressiv, launisch, regelrecht feindselig und streitlustig.«

»Darf ich fragen, was er-«

»Mehrere sukzessive Schlaganfälle«, sagte Dimitri wie mechanisch. »Vaskuläre Demenz. Ich habe viel darüber gelesen.« Es klang, als wollte er sich oder das Verhalten seines Vaters rechtfertigen. »Zu Anfang hätte man vielleicht noch etwas unternehmen können, um den Verlauf abzumildern, aber mein Vater wollte nicht in ein Krankenhaus. Nicht einmal zu einem Arzt. In dieser Hinsicht ist er schon immer sehr eigen gewesen.«

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