Zurück im "Zu den Waffeln" war ich so wortkarg, dass es sogar mir selbst auffiel. Isabella musste es ebenfalls bemerken, kommentierte mein Schweigen jedoch nicht. Vielleicht spürte sie mit ihren Kleine-Schwester-Sinnen, dass ich meine Ruhe brauchte.
Während Patrice zur Werkstatt fuhr, um Dampf abzulassen und Romeo Bericht zu erstatten, zog ich mir Leggins und Laufschuhe an und drehte eine Runde durch die Nachbarschaft. Inzwischen waren Wolken aufgezogen, was die Hitze einigermaßen erträglich machte.
Ich lief zuerst Richtung Innenstadt und bog dann in den Stadtpark ein. An Kastanien und Gingkobäumen vorbei, führte mich mein Weg bis zur zentralen Teichanlage, wo die Wasserspiele meterhohe Fontänen in den Himmel bliesen. Der lockere Kies knirschte unter meinen Schuhen.
Am Jugendstilpavillon, der auf einer schwimmenden Plattform in den größten der drei Teiche hineinragte, fand soeben eine Trauung statt. Die Braut trug ein traditionelles, glockenförmiges Kleid und hielt einen Strauß aus pinkfarbenen Rosen mit beiden Händen umklammert. Ihr Ehegatte in spe war in einen dreiteiligen, cremefarbenen Anzug gekleidet und grinste von einem Ohr zum anderen. Für einen kurzen Moment stellte ich mir vor, dass Dimitri und ich irgendwann hier stehen würden, aber der Gedanke verrauchte wie ein Strohfeuer. Ich war nicht in Stimmung für Romantik.
Genau genommen, war ich in einer Stimmung, wie ich sie noch nie zuvor empfunden hatte. Tausende Fragen schwirrten mir durch den Kopf und gleichzeitig war da ein ungeheurer Druck in meiner Brust. Wie ein Ventil, das kurz davor stand, zu platzen. Insgeheim wünschte ich mir, Jack the Ripper würde mir noch einmal über den Weg laufen. In diesem Zustand hätte ich ihn vermutlich direkt konfrontiert. Hätte ihn gefragt, was er sich dabei dachte, mir hinterzuspionieren und mir eine solche Angst einzujagen. Ich hätte ihm den albernen Hut vom Kopf gerissen und in den See geworfen. Und dann hätte ich ihn so fest in den Hintern getreten, dass er hinterher gefallen wäre. Auf keinen Fall würde ich mich noch einen Tag länger von so einem dahergelaufenen Freak in Angst und Schrecken versetzen lassen. Ich würde die Angelegenheit in die Hand nehmen. Und nicht nur diese Angelegenheit. Alle Angelegenheiten. Angefangen bei Romeo und Dimitri.
Endlich! Der Knoten löste sich und das seltsame Gefühl in meiner Brust verwandelte sich in Wut. Der Zorn trieb meine Schritte an. Wie ein uralter Brennstoff. Ich rannte bis zum Sportplatz des Heider-Gymnasiums. Dort bog ich in die Schulstraße ein und sprintete im Höchsttempo durch ein tristes Viertel, das zum Großteil aus biederen Einfamilienhäusern im Stil der 60er Jahre bestand. Ohne auf meine Umgebung - ohne auf irgendetwas - zu achten, außer auf das Bordsteinpflaster vor meinen Füßen, hastete ich die Straße hinunter, bis mir die Puste ausging und ich zwei Ecken von der Rückseite des "Zu den Waffeln" entfernt, nach Luft schnappend zum Stehen kam. Meine Muskeln brannten und meine Lunge schmerzte, aber ich fühlte mich befreit und war von einer neu gewonnenen Entschlossenheit erfüllt.
Langsam schleppte ich mich in den Laden zurück und nahm oben in der Wohnung eine kurze, kalte Dusche, bevor ich mich zu Isabella auf die Couch verdrückte. Wir sahen eine Dokumentation über die Inkas. Danach fühlte ich mich endlich wieder bereit, den Mund aufzumachen.
»Wir müssen die Kerle zum Reden bringen«, sagte ich und stibitzte mir ein paar Erdnüsse aus der Schale, die meine Schwester auf dem gläsernen Beistelltisch platziert hatte.
Isabella griff ebenfalls zu und nickte gedankenverloren. »Aber du weißt, wie störrisch Romeo sein kann. Und Patti wird nichts verraten. Dafür steckt er zu tief in Romeos-«
»Ja, schon klar«, fiel ich meiner Schwester ins Wort. »Aber ich will wissen, was zwischen Romeo und Dimitri vorgefallen ist.« Ich zog die Beine unter den Körper und setzte mich auf. Dabei fielen mir die noch feuchten Haare, die ich über die Sofalehne drapiert hatte, auf die Schultern. »Ich glaube, Romeo hatte mal wieder ein krummes Ding geplant und etwas ist schiefgelaufen.«
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Nonlinear
Mystery / ThrillerEmilia und ihre kleine Schwester Isabella arbeiten in den Semesterferien im Waffelladen ihres notorisch kriminellen Cousins. Zu den üblichen Problemen - verschwundenen Eiern, paranoiden Lieferanten und nächtlichen Prügeleien - gesellt sich schon bal...