KAPITEL 1

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J I M I N

Nachdenklich lief ich den langen, steinigen Weg, der mich zur Schule führte entlang. Ich war verdammt müde und hatte leichte Schwierigkeiten, meine Augen offen zu halten, doch die Schmerzen meines Rückens machten sich jederzeit, in der ich unaufmerksam war, bemerkbar und daher hatte ich keine Möglichkeit von selbst gegen meine Müdigkeit zu kämpfen. Ich schulterte meinen Rucksack und verzog schmerzhaft das Gesicht, welchen ich schnell versuchte fallen zu lassen. Ich musste mich zusammenreißen, wenigstens für ein paar Tage.

Wir hatten Anfang Februar, der Boden war, von dem Regen heute Nacht, leicht feucht, die Gegend erschien trocken und kalt und der Geruch von markanter Luft, den ich etwas unangenehm fand, drang in meine Nase. Mir war zum Glück jedoch nicht allzu kalt, denn der oversized Hoodie, den ich mit samt Jacke trug, gaben mir die nötige Wärme und ich fühlte mich doch irgendwie wohl, in dieser trostlosen und grauen Umgebung. Ich seufzte, atmete tief aus und beobachtete weiterhin die Straße vor mir, in der Hoffnung die Schule schnell zu erreichen. Ich ging immer eher aus dem Haus, weswegen ich oft zu früh dran war.

Ich brauchte die Zeit, um nachzudenken und um meine Gedanken sortieren zu können. Ich war einer dieser Menschen, die über jede Situation und jede noch so kleine Kleinigkeit Stunden bis über Tage, wenn nicht sogar Wochen nachdachte. Und wenn ich das tat, dann machte ich es einfach gerne draußen. Unter anderem war ich auch ein Frühaufsteher, weswegen ich keine Lust hatte, so lange zu Hause zu hocken und zu warten, bis ich losgehen konnte. Anderenfalls brauchte ich auch einfach nur einen Grund, um das Haus zu verlassen. Ich fühlte mich da nicht mehr wohl und es als meinen Rückzugsort zu bezeichnen, war seit einiger Zeit sowieso nicht mehr möglich.

Tja, und wieso? Aus dem einfachen Grund, weil mein Vater mich abgrundtief hasste und wie einen persönlichen Fußabtreter behandelte. Jeden Tag wurde es etwas mehr, was ich deutlich zu spüren bekam, egal ob seelisch oder körperlich und das nur, weil ich anders war, zwar nicht großartig aber was meine Vorlieben betraf. Eigentlich hatte ich mir nie großartige Gedanken über meine Sexualität gemacht. Sie war einfach da und ich hatte viel Zeit damit verbracht, es zu akzeptieren. Aber nach meinem Outing an meinem siebzehnten Geburtstag, wendete sich mein Leben um hundertachtzig Grad und ich fühlte mich, als hätte ich meinen Wert als Mensch verloren, obwohl, dass war schon gar kein Gefühl mehr. Ich war nicht mehr der, der ich einmal war. Also glaubte und merkte ich irgendwie.

Mit der Zeit musste ich mir aber selbst eingestehen, dass meine Gefühle und Vorlieben anders waren und dem selben Geschlecht galten, völlig egal ob ich sie wollte oder nicht, da waren sie trotzdem. Ich hatte seitdem Probleme mich mit mir abzufinden, ich hatte mir das ganze hier ja nicht ausgesucht. Ich hatte lange gebraucht, um mich zu akzeptieren, mich im Spiegel ansehen zu können, nach all diesen Worten die ich mir anhören musste und mich heute noch tagtäglich demütigten.

Worte, die schärfer als ein Messer hätte je sein können. Den Scham, den ich jedesmal verspürte, der nie wegging. Das Gefühl zu haben, die ganze Familie in den Dreck gezogen zu haben. Sollte ich dies als mein persönliches Karma betrachten? Oder weil mein Leben bis dahin perfekt und sorglos erschien und ich nun einen Grund brauchte, es mehr wertzuschätzen?

Aber auch in ständiger Angst zu leben, was ich nun trotzdem tat, oder sogar ein Doppelleben führen zu müssen hätte ich sowieso nicht geschafft, dass war mir von Anfang klar und es meinen Eltern ewig verschweigen zu können, hätte genauso wenig geklappt. Unter anderem verspürte ich die Verpflichtung an Ehrlichkeit ihnen gegenüber. Aber jetzt sah ich ja, zu was das alles geführt hatte und ich könnte mich selbst dafür schlagen, dass ich diesen Drang hatte, es ihnen zu erzählen. Im Endeffekt hatte ich mir damit selbst ins eigene Bein geschossen, das war meine Schuld und ich musste nun damit leben. Dabei ignorierend das die Angst mich jeden einzelnen verdammten Tag, in denen ich in meinen vier Wänden saß, so wie auch das Haus verließ oder betrat, begleitete.

Ich passte einfach nicht mehr in die Welt meines Vaters und er rieb es mir jedes Mal aufs Neue unter die Nase. Und trotzdem suchte ich ständig die Schuld bei mir. Aber sein Verhalten lies mich überzeugen, das ich doch irgendwas getan haben musste. Ich meine, wieso sollte das alles sonst passieren? Und bekanntlich hieß es ja, dass nichts ohne Grund passieren würde. Ich hätte es womöglich verhindern können, hätte ich meinen Mund gehalten und gewartet, bis sie es von selbst herausgefunden hätten oder eben garnicht.

Ich empfand keine Freude mehr, lachte so gut wie nicht mehr, selbst wenn meine Freunde einen lustigen Witz erzählten, den ich normalerweise zum wegschmeißen gefunden hätte. Jedoch spürte ich kurz vorm lachen immer die Angst in meinem Hals, weil ich wusste, dass ich am Ende des Tages nichts mehr zu lachen haben würde. Das verdarb mir einfach immer meine aufkommende gute Laune und den Spaß mit meinen Freunden. Ich bin nicht gefühlskalt, ganz im Gegenteil. Ich war immer derjenige, der wegen jeder noch so dummen Kleinigkeit lachte, jeden noch so dummen Witz erzählte, aber ich hatte zu viele Schmerzen ertragen, die mir das Lachen verboten.

Ich hatte mich damit abgefunden, doch trotzdem verging kein Tag ohne Schmerzen jeglicher Art. Wenn der eigene Vater so distanziert ist, dich nicht mehr als seines sieht, nicht mehr das gleiche Blut wie du haben möchte, selbst der Nachname war zu viel, aber um dir wehzutun sich dir nähert. Und so verrückt das auch klingen mag, manchmal wünscht ich mir, er würde mich umarmen, sich entschuldigen oder normal an mir vorbeigehen können, ohne mich zu schubsen oder mir einen angewiderten Blick zuzuwerfen, aber das war eine Hoffnung, die immer wieder aufs neue starb.

Meine Sicht in andere Dinge änderte sich von Positiv zu Negativ, schlagartig. Die Zukunft erschien mir sinnlos, den Sinn in meinem Leben würde ich nicht mehr so schnell wiederfinden, vielleicht kam er auch garnicht wieder. Manchmal war ich selbst von mir erstaunt, dass ich die Kraft hatte, überhaupt aufzustehen und das Zimmer zu verlassen, nur um in die Schule zu gehen. Die Schule war schon fast zu einem Rückzugsort geworden, was selbst ich am Anfang einwenig schräg fand. Aber mit der Zeit wurde es immer vertrauter, weil ich wusste, dass mir hier niemand auflauern würde oder nur darauf warten würde, mich in der Luft zu zerfetzten, weil er mir ins Gesicht gesehen hatte.

Und da fragte ich mich jedes Mal wieder, wie zur Hölle konnte das nur passieren?

𝙎𝘼𝙑𝙀 𝙈𝙀  / 𝙥𝙟𝙢 𝙭 𝙢𝙮𝙜Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt