37.

7 2 0
                                    

Davor, zuvor, Vergangenheit

Ich habe mein Versprechen gehalten. Finley und ich sehen uns in jeder freien Minute, von denen wir reichlich haben, denn weder er noch ich habe etwas für die Herbstferien geplant. Und so verbringen wir viel Zeit damit uns gegenseitig zu besuchen. Obwohl man von gegenseitig nicht sprechen kann, da wir definitiv häufiger in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa rumliegen als bei Finley. Ob das daran liegt, dass mein Sofa bequemer ist oder dass ich David ungern über den Weg laufen würde, wird wohl für immer ein ungelöstes Rätsel bleiben.

Jedenfalls liegen wir den größten Teil der Ferien auf meinem Bett oder Sofa und schauen Filme, lesen uns gegenseitig Bücher vor oder unterhalten uns. Manchmal liegen wir auch einfach für ein paar Stunden aneinander gekuschelt auf meinem Bett. Dieser eher unproduktiven Beschäftigungen kann man uns aber auch nicht verübeln, da das Wetter nicht wirklich etwas anderes zulässt. Außer man steht auf Regenspaziergänge. Nur dass Finley und ich das schon ausprobiert haben und herausgefunden haben, dass wir nicht wirklich darauf stehen. Also wieso diese Unannehmlichkeit nicht überspringen und gleich zu Hause im Warmen und Trockenen sitzen.

Außerdem kocht Finley uns hin und wieder etwas und ich backe Kekse, Kuchen und alles andere, was uns gerade einfällt. Vielleicht sind wir etwas bequem unterwegs, aber zu guter Letzt haben wir immer noch die Ausrede, dass doch Ferien sind.

Nur wird diese bequeme Harmonie eines Abends unterbrochen.

„Julie, du hast Besuch", ruft meine Mutter aus dem Flur, nachdem sie denn Summer betätigt hat und die Wohnungstür mit aller Kraft geöffnet hat. Diese Wohnungstür wird wohl in diesem Leben nicht mehr repariert werden. Es sei denn, wir kommen irgendwann nicht mehr in unsere Wohnung.

Finley und ich liegen mal wieder auf unserem Stammplatz, dem Sofa, und ich bin gerade dabei ihm Jane Eyre vorzulesen. Noch quälen wir uns durch das ein wenig hochtrabende Deutsch, aber das wird bestimmt noch und spätestens, wenn Jane Mr. Rochester kennengelernt hat, werden wir uns schon damit zurechtgefunden haben. Aber zurück zu unserem unbekannten Besucher, der gerade die Treppen zu unserer Wohnung hochstapft. Mir kommt nur eine Person in den Sinn, die mich besuchen würde, da die andere gerade mit mir auf dem Sofa liegt. Keine Minute später höre ich Friedas etwas tiefere Stimme. Sie begrüßt meine Mutter und keine Minute später steht sie auch schon in der Tür zum Wohnzimmer.

„Na ihr?"

Frieda schaut sich im Wohnzimmer um und nickt leicht anerkennend.

„Einerseits verstehe ich, wieso ihr dieses Zimmer zu eurem Rückzugsort gemacht habt, aber... wann wart ihr das letzte Mal draußen?"

Ich lege das Buch weg, drehe mich zu Finley und kuschle mich an ihn sowie in die Decke. Frieda hat natürlich recht, wir sollten mal wieder einen Spaziergang machen, aber um ehrlich zu sein, möchte ich das nicht wirklich wahrhaben. Finley und ich haben die letzten Tage in einem man könnte es Paralleluniversum nennen verbracht. In diesem Paralleluniversum hat nichts existiert. Keine Zeit. Nur wir beide. Und der Rest der Welt? Der hat sich einfach ohne uns weitergedreht.

„Erinnere mich nicht an dieses beängstigende Draußen", antworte ich in die Decke nuschelnd und spüre kurz drauf ein leichtes vibrieren an meiner Wange. Finley lacht über meine Aussage und ich bin glücklich. Ich mag es, wenn er lacht, weil ich etwas Lustiges gesagt oder gemacht habe.

„Ich wusste gar nicht zu was für einer Einsiedlerin du geworden bist. Besser gesagt zu was für Zweisiedler ihr geworden seid."

„Man gewöhnt sich beängstigend schnell daran", erwidert Finley und schiebt mich langsam von sich, um aufzustehen. „Ich denke, ich schaue mal, was ich unserem Gast zu Essen oder Trinken bringen kann."

Das ist Finleys Art uns etwas Privatsphäre zu geben, ohne es direkt auszusprechen.  Für diese Feinfühligkeit liebe ich ihn noch mehr. In den letzten Tagen gab es eigentlich wenige Dinge, die mich ihn nicht noch mehr lieben haben lassen und komischerweise können wir beide nicht genug voneinander bekommen, anstatt uns irgendwann unglaublich auf die Nerven zu gehen.

„Und da verlässt dich dein Casanova. Bekommst du schon Entzugserscheinungen? Du bist ganz blass geworden. Aber nein, ich denke, das liegt eher an dem Vitamin-C-Mangel", zieht Frieda mich etwas auf, nachdem ich mich aufgerichtet und im Schneidersitz auf das Sofa gesetzt habe.

„Hahahaa, sehr witzig. Wie komme ich den zu der Ehre von dir besucht zu werden?"

Ich hatte doch schon einmal erwähnt, dass Frieda direkte Frage lieber sind, oder?

Frieda, die die letzten Minuten mitten im Wohnzimmer stand, lässt sich jetzt auf einen Sessel mir gegenüber fallen und sieht dabei auch noch cool und elegant zu gleich aus.

„Ich bin gekommen, um dich mit den neusten Informationen zu versorgen, Julie." Sie sagt das mit einem so bedeutungsschwangeren Ton und Blick, dass ich sofort das Gefühl bekomme, etwas Wichtiges nicht mitbekommen habe.

„Aber Frieda, wieso hast du mich denn nicht einfach angerufen oder mir eine Nachricht geschrieben? Versteh das nicht falsch, ich freue mich, dass du vorbeikommst, aber wirklich, wir leben in einer modernen digitalisierten Welt, in-..."

„Diese ‚moderne und digitalisierte' Welt funktioniert aber nur, wenn die Person, die man versucht zu erreichen sich nicht gerade vorgenommen hat, das Leben eines Einsiedlerkrebses zu mimen. Wann hast du denn das letzte Mal auf dein Handy geschaut?"

In Friedas Stimme mischt sich ein liebevoll ironischer Unterton und auch die angehobene linke Augenbraue unterstreicht ihre Belustigung. Sie hat recht, denn jetzt wo sie es anspricht, fällt mir auf, dass ich mein Handy schon vor ein paar Tagen in irgendeiner Sofaritze versenkt und es seitdem aber auch nicht vermisst habe. Ich werde rot als ich es jetzt aus besagter Sofaritze ziehe und erstaunt feststelle, dass es nicht nur immer noch Akku hat, sondern auch unzählige Nachrichten von den verschiedensten Leuten darauf warten geöffnet zu werden. Seufzend lege ich es auf die Seite. All diese Nachrichten werde ich später beantworten. Später oder vielleicht auch nie.

„Was sind denn die neusten Informationen, mit denen du mich versorgen wolltest, Frieda?"

Meine rothaarige Freundin lässt sich neben mich aufs Sofa fallen.

„Ich bin wieder mit Evan zusammen", sagt sie gerade heraus.

Obwohl ihre Aussage selbstbewusst klingt und ich diese Direktheit von Frieda gewöhnt bin, scheint etwas an ihr anders zu sein. Etwas an ihrem Verhalten passt nicht ganz ins Bild. Sonst betrachtet Frieda mich immer mit einem herausfordernden, selbstsicheren Blick, als wäre sie die Meisterin in dem Spiel, das sich Leben nennt. Doch jetzt huschen ihre Augen von einer Stelle zur nächste, nur nie in meine Richtung. Sie kann mir nicht in die Augen sehen. Sie hat Angst davor, was ich von dieser neuen Wendung halte. Und das wäre auch schon eine zweite Sache, die nicht ganz ins Bild passt. Frieda ist die Meinung anderer Leute eigentlich egal.

Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht einmal mehr, was ich davon halten soll. In erster Linie ist es Friedas Entscheidung. Sie ist ein eigenständiger Mensch. Dennoch mache ich mir Sorgen um sie. Evan ist kein guter Mensch und definitiv nicht gut genug für Frieda. Er ist zu blind, um zu sehen, wie wundervoll sie ist.

Ich möchte ihr gerade antworten, ihr meine Gedanken zu diesem Thema darlegen, doch ich komme gar nicht so weit. Sie legt ihr Hände auf meine, die ich in meinem Schoß gefaltet habe.

„Nein, sag lieber nichts, Julie. Du hättest niemals so gehandelt. Du wärst schlau genug gewesen und hättest dich nicht wieder auf Evan eingelassen. Leider bin ich nicht so perfekt wie du."

Sie schaut mich aus ihren blauen Augen an und zum ersten Mal kann ich so etwas wie Bewunderung in ihrem Blick erkennen. Ich muss schlucken. Ein Kloß hat sich in meinem Hals gebildet. Perfekt.

may i love himWo Geschichten leben. Entdecke jetzt