Danach, gegenwärtig, Gegenwart
„Frieda?", frage ich.
„Frieda?"
Evan schaut von dem gelben Mathebuch auf. Als er heute durch die Tür spaziert gekommen ist, hat er mir verkündet, dass er bald eine Mathearbeit schreibt und darauf lernen muss. Seine blauen Augen haben dabei spöttisch gefunkelt. Ich bin mir nicht sicher, ob Evan zuvor jemals auf eine Arbeit gelernt hat und habe auf seine Verkündigung einfach nur mit den Schultern gezuckt. Jetzt sitzt er aber wirklich schon seit geschlagenen fünfzehn Minuten neben mir, murmelt die ein oder andere Formel vor sich hin und studiert hoch konzentriert das Mathebuch.
„Sie ist meine beste Freundin, oder?"
Ich halte ihm mein Notizbuch hin und zeige auf die Doppelseite, die ich Frieda gewidmet habe. Schon seit ein paar Tagen lässt mich die Frage nicht mehr los, ob wir wirklich Freunde gewesen sind. Erst recht seit dem Evan bei unserem letzten Treffen angemerkt hat, das er und ich nicht wirklich Freunde gewesen sind. Wer weiß, vielleicht haben die Ärzte, meine Mutter und Frau Freud sich getäuscht und ich hatte wirkliche keine Freunde.
Während ich so meinen Gedanken hinterher hänge, schaffe ich es dennoch gleichzeitig Evan abwartend anzusehen. Ich bin eben ein wahres Multi-Tasking-Naturtalent.
Sein Blick senkt sich auf das Bild von Frieda und seine Miene ist schmerzverzerrt. Frieda löst etwas in ihm aus. Etwas das ihn dazu bringt, um seine Fassung zu ringen. Er schließt seine Hände immer wieder zu Faust, nur um sie kurz darauf wieder zu öffnen. Was habe ich getan?
„Evan, wenn du weinen möchtest, ist das okay. Ich verrate es auch keinem."
Er lacht freudlos. Dabei war es gar nicht ironisch oder gar spöttisch gemeint.
„Ich bin nicht Finley, ich weine nicht vor dir."
Sein kalter, emotionsloser Ton verschlägt mir die Sprache und ich schlucke schwer. Finley. Dieser Name, dieser Junge. Evans Kommentar ist wie ein Schlag in die Magengrube. Ich möchte mich verdammt nochmal an alles erinnern. Ich möchte wissen, wieso Finley vor mir geweint hat, wieso ich mich gerade an ihn hätte erinnern müssen. Und bei dem Versuch gegen all diese Unwissenheit vorzugehen, habe ich einen Fremden in mein Leben gelassen. Eine Person dessen Namen ich zwar kenne, aber ganz sicher nicht ihre Absichten. Evan könnte ebenso gut ein unbekannter Massenmörder sein und ich würde es nicht wissen können. Was ich aber weiß, ist das er kein durch und durch guter Mensch ist. Wahrscheinlich springt auch für ihn irgendetwas dabei raus, dass er auf eine konfuse Jugendliche aufpasst.
„Ja, sie war deine beste Freundin", setzt Evan an, nachdem er sich wieder gefangen hat. „Ihr beide wart unzertrennlich und wenn ich Frieda auch nur schief angekuckt habe, hast du mich einen Kopf kürzer gemacht. Ihr wart ein Power-Duo."
Mit wachsendem Interesse höre ich mir an, was er erzählt. Frieda und ich also. Ein Power-Duo. Nur eine Sache ergibt für mich einfach noch keinen Sinn. Wieso erzählt er von unserer Freundschaft in der Vergangenheit? Nur weil mein Kopf schlapp macht, heißt das ja noch nicht, dass unsere Freundschaft gleich zu Ende ist. Andererseits würde dieses Puzzlestück in ein anderes Bild passen. Ein Bild das sich mehr und mehr vor meinem inneren Auge formt und mir nicht nur Kopfschmerzen bereitet, sondern auch ein flaues Gefühl in meiner Magengegend auslöst.
Schnell schiebe ich diese Gedanken beiseite und schreibe auf, was Evan mir gerade über Frieda erzählt hat. Natürlich könnte ich ihn auch gleich mehr über Frieda fragen oder nachhaken, wieso er in der Vergangenheit von Frieda und mir spricht, doch seine vorherige Reaktion hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Heute, werde ich ihn nichts mehr fragen.
Die entstandene Stille ist gefüllt von unseren Gedanken. Evan ist sauer und blättert unruhig in seinem Mathebuch umher. Da ist nicht mehr von der Konzentration, die er noch vor ein paar Minuten hatte. Doch dann habe ich ihm die Fragen über Frieda gestellt. Ich kann immer noch nicht ganz verstehen, warum ihn das so gereizt hat. Ob er Frieda wohl kannte? Also so richtig kannte?
Auch diese neuen Gedanken schreibe ich auf. Ich muss ihnen auf den Grund gehen. Es gibt so vieles, das noch im Verborgenen liegt und nur darauf zu warten scheint von mir entdeckt zu werden.
Auf Evans Doppelseite füge ich noch meine Zweifel an seinen Absichten hinzu. Ich weiß einfach noch viel zu wenig über ihn und solange mein Gedächtnis nicht auf die Idee kommt sich auf magische Weise wiederherzustellen, sollte ich etwas vorsichtiger in seiner Gegenwart sein. Also so viel Körperkontakt wie nötig und so wenig wie möglich. Außerdem sollte ich aufpassen, was ich zu ihm sage, ansonsten ist unsere heutige Auseinandersetzung nicht die letzte.
Ich schaue in mir nochmal genau an. Eigentlich sollte mir klar sein, dass dieser Junge definitive eine brutale, unbarmherzige Seite hat. Die sonst vollen Lippen sind zu einem dünnen Strich gezogen und lassen sein kantiges Gesicht noch finsterer aussehen. Dazu liegt in seinen blauen Augen, die über die Seiten des Mathebuchs jagen, eine eiskalte Wut. Dieser Junge ist kein guter Mensch.
Länger halte ich es nicht aus, diesen Racheengel anzusehend. Ich wende meinen Blick ab. Egal, wie unwirsch Evan heute war, ich verzeihe ihm, denn irgendetwas in mir versteht ihn. Versteht die Situation, in der er sich befindet. Mir ist auch klar, dass dies der erste Schritt in den Abgrund seiner dunkelblauen Augen ist.
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may i love him
Teen FictionIn Julies Augen sind alle Jungs gleich, und zwar gleich schrecklich. Doch als sie die Schule wechselt und am ersten Schultag dem norwegischen Austauschschüler Finley über den Weg läuft, ändert sich einiges. Sie beginnt ihre Abneigung gegenüber Jungs...