Davor, zuvor, Vergangenheit
Frieda schaut sich nach rechts und links um als würde sie erwarten, dass jeden Moment ein Patient aus einem der Zimmer gesprungen kommt und sie mindestens umwirft, wenn nicht sogar umbringt. Das gerade meine beste Freundin Angst in einer psychiatrischen Anstalt bekommt, hätte ich nicht gedacht, aber wenn man bedenkt, wie solche Klinken in Filmen und Serien dargestellt werden, verstehe ich ihre Angst wiederum etwas besser. Natürlich hätte ich ihr die Angst vor diesem Ort im Voraus nehmen können, doch ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie sich hier unwohl fühlen könnte. Erst recht nicht, wenn man bedenkt wie freundlich und einladend diese Psychiatrie gestaltet ist.
Erst hätte ich Frieda gar nicht mitnehmen dürfen, aber da Ellie schriftlich darum gebeten hat und wir uns alle zusammen um den Papierkram gekümmert haben, konnte die Sache geregelt werden und Frieda durfte mich begleiten.
„Julie? Wie lange müssen wir noch durch die Gänge irren?", fragt Frieda unsicherer Unterton in der Stimme.
„Liebe Frieda. Wir sind da."
Das Zimmer hat sich nicht verändert. Wieso sollte es auch. Aber was ich im ersten Moment etwas gruselig finde ist, dass Ellie wie schon beim letzten Mal auf dem anthrazitgrauen Sofa sitzt. Ganz so als hätte sie sich seit meinem Besuch nicht mehr bewegt. Als wäre der Raum einfach eingefroren. Nur die grauen Mittagswolken geben dem Zimmer eine andere Stimmung. Alles wirkt etwas gedämmter. Ein weiterer Unterschied ist das Buch, das Ellie in der Hand hat. Emma. Ich muss lächeln. Wahrscheinlich hat sie es schon, seit ich es ihr mitgebracht habe, mindestens dreimal durchgelesen und kann jetzt noch genauer daraus zitieren.
Für einen kurzen Augenblick habe ich ganz vergessen, dass Frieda neben mir steht, so vertieft war ich in die Observation des Zimmers, das sich nicht verändert hat.
Ich räuspere mich.
„Frieda, das ist Ellie meine große Schwester. Ellie, das ist Frieda meine beste Freundin", stelle ich die beiden vor.
Ellie setzt ihr perfektes Lächeln auf. Es wirkt nicht erzwungen. Es ist wirklich perfekt. Perfekt für diesen Moment, denn es soll Frieda ein willkommenes Gefühl geben. Und da bei Ellie fast immer alles klappt, schafft sie es auch dieses Mal. Frieda entspannt sich merklich neben mir und ihre Lippen umspielt ein schiefes Lächeln. Im Gegensatz zu Ellies Lächeln wirkt es beinahe kläglich, aber es ist ja auch Ellie, die wir in der Psychiatrie besuchen und das hat seine Gründe.
Nach der Begrüßung sinkt die Stimmung merklich. Frieda scheint nicht genau zu wissen, ob sie bei der makellosen Ellie so sein kann, wie sie eben ist und Ellie scannt Frieda erstmal ab, um sich so gut wie möglich ihr gegenüber verhalten zu können. Ich mitten drin fühle mich nutzlos und gleichzeitig wie der einzige Anker für die beiden. Denn bei mir wissen sie genau, wie sie sich verhalten sollen.
„Und du bist von der neuen Schule von Julie?"
Ellie ist anscheinend durch mit ihrem Scann und beginnt jetzt auf eine freundlich interessierte Art Fragen zu stellen. Ich bezeichne dieses Verhalten gerne als zweite Stufe. In der zweiten Stufe studiert sie weiterhin die Person, die sie nicht kennt, aber es ist mehr eine Prüfung, ob der Gegenüber so reagiert, wie sie es sich in ihrem Kopf zurechtgelegt hat.
„Jap. Julie hat mich irgendwie vor ein paar bescheuerten Leuten gerettet, hat dann aber zu viel gesagt und wir saßen beide in der Patsche."
„Oh, davon hat sie mir noch gar nicht erzählt."
Ein lächelnder Seitenblick von Ellie folgt, der mir zu verstehen gibt, dass wir dieses Erlebnis auf jeden Fall noch als Schwestern auseinandernehmen und über mein loses Mundwerk lachen werden. So wie früher, nur halt woanders.
„Aber schön, dass du schon Freunde gefunden hast."
„Ja, Oma, das finde ich auch", antworte ich und verdrehe die Augen gespielt genervt. Sie muss aber auch ihre Aussage so formulieren als wäre sie mindesten siebzig.
„Und nicht nur Freunde hat unsere Julie gefunden. Sondern auch einen Jungen."
Frieda setzt sich neben Ellie und lehnt sich verschwörerisch zu ihr rüber. Wie kann man gleichzeitig so alt und kindisch zu gleich sein?
„Das ist nicht wahr. Du, einen Jungen?"
In ihren Augen blitzt schelmische Freude auf, als hätte sie den größten Spaß ihres Lebens, indem sie mich ein bisschen aufzieht. Ich will ihr den Spaß lassen. Es sei denn, sie fängt an über ihn zu reden. Natürlich weiß sie nichts von den Dingen mit denen ich mich die ganzen Sommerferien rumschlagen musste. Sie weiß nur, dass wir zusammen waren. Aber das wäre mir schon zu viel. Wenn jemand anders über ihn redet und er damit realer wird, als er es in meinen Gedanken ist.
„Fehlt euch nicht der Kaffee zu eurem Kaffeekränzchen?", frage ich und ziehe mir einen Stuhl zum Sofa, damit auch mich an dem Gespräch beteiligen kann, dass immerhin mich als Hauptthema hat oder besser gesagt Finley.
Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass wir schon seit knappen zwei Stunden bei Ellie sind und nicht nur die Besucherzeit bald zu Ende ist, sondern ich auch zu spät zum Abendessen komme. Das wäre sonst kein Problem, wenn da nicht die vielen kleinen Streite wären, die meine Mutter und ich in letzter Zeit so häufig ausfechten. Außerdem möchte ich am Samstag auf diese Party und wenn ich zu spät komme, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie mir erlaubt dort hinzugehen.
Also muss ich diese gemütliche Runde für heute auflösen, aber vielleicht können Frieda und ich Ellie bald wieder besuchen.
„Ellie, ich denke, wir müssen jetzt los. Mama ist heute dran mit Abendessen machen und da möchte ich ungern zu spät kommen", sage ich und stehe von meinem Stuhl auf, um ihn wieder an seinen Platz zurückzustellen.
Auch Frieda erhebt sich vom Sofa, umarmt Ellie zuvor aber noch zum Abschied und schaut mich dann mit einem Wollen wir los-Blick an. Ich nicke, aber verabschiede mich noch, mit einer Umarmung, richtig von Ellie.
„Frieda, du solltest unbedingt wiederkommen, ob mit oder ohne meine kleine Schwester. Lass dich davon nicht einschränken."
Habe ich das richtig verstanden? Meine große Schwester möchte, dass meine beste Freundin sie besucht. Ohne mich. Doch als ich mich mit einem argwöhnischen Blick zu ihr drehe, sehe ich den Schalk, der sich in ihren Augen spiegelt. Sie möchte mich ärgern. Provozieren. Meine Grenzen austesten. So wie... früher. Tränen sammeln sich in meinen Augen an. Ich vermisse sie. Verdammt. Ich vermisse sie so sehr. So sehr das mein Herz sich zusammen zieht und mein Blick von den Tränen verschleiert wird. Wieso mich gerade diese Provokation so melancholisch stimmt, weiß ich nicht, aber auch das fehlt mir. All diese unbedeutenden Auseinandersetzungen. Die Zeiten, in denen wir unzertrennlich waren und die, in denen wir wie zwei Streithähne aufeinander losgegangen sind und unsere Mutter damit in den Wahnsinn getrieben haben.
Bevor Frieda überhaupt ansetzten kann, etwas zu antworten, springt Ellie von dem grauen Sofa auf und kommt mit schnellen langen Schritten auf mich zu.
„Das war ein Witz. Natürlich möchte ich, dass du mitkommst. Immer. Ich würde es hier ohne deine Besuche nicht aushalten."
Sie zieht mich in eine feste Umarmung. Ich weiß, dass es ein Witz war. So sind Ellies Witze, aber dass sie es in der Psychiatrie ohne meine Besuche nicht aushalten würde, stoppt die Tränen nicht. Ihre Aussage lässt den Schmerz nur noch größer werden.
„Das ist es nicht. Ich verstehe deine Witze, aber du..."
Meine Stimme bricht. Aus irgendeinem Grund wurde mir nicht die Gabe verliehen, gleichzeitig zu reden und zu weinen. Das klappt bei mir nicht. Entweder ich weine oder ich rede.
„Schhh. Es ist alles gut. Ich bin doch da."
Ellie streicht mir sanft über die Haare und ich versinke in ihrem Geruch.
„Das ist es gerade. Du fehlst. Ohne dich ist alles irgendwie leer."
Jetzt berührt sie mich sanft an den Schultern und schiebt mich ein Stück von sich weg, um mir in die Augen schauen zu können.
„Julie, ich möchte, dass du eine Sache verstehst. Ich bin niemals wirklich weg. Nur weil ich für eine Zeit an einem anderen Ort bin, heißt das nicht, dass ich nicht da bin. Für dich bin ich immer da."
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may i love him
Teen FictionIn Julies Augen sind alle Jungs gleich, und zwar gleich schrecklich. Doch als sie die Schule wechselt und am ersten Schultag dem norwegischen Austauschschüler Finley über den Weg läuft, ändert sich einiges. Sie beginnt ihre Abneigung gegenüber Jungs...