Davor, zuvor, Vergangenheit
"Wieso bist du hier?"
Sein Knie berührt sanft mein Bein und ein Schauer durchfährt mich. Natürlich muss er breitbeinig dasitzen. Alles andere wäre ja unmännlich.
Ich seufze, klappe mein Buch zu und drehe mich zu ihm, um genau in seine Augen zu schauen. Es sind ganz normale braune Augen. Mein Blick gleitet über seine Erscheinung. Braune Haare, lässige Haltung, dem Anschein nach muskulös, aber da ist noch mehr. In seinem Blick liegt etwas Geheimnisvolles, als wäre er ein Rätsel, das nur darauf wartet gelöst zu werden. Doch dieser leicht nach oben gezogene Mundwinkel lässt mich vermuten, dass schon viele versucht haben dieser geheimnisvollen Ausstrahlung auf den Grund zu gehen. Ich werde ganz sicher nicht die Nächste sein.
"Ich habe die Schule gewechselt", erkläre ich ruhig, und ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Er verlagert sein Gewicht etwas und legt seinen Arm hinter mich auf die Rückenlehne des roten Sofas. Kunstleder tippe ich. Einer Horde junger Erwachsener sollte man lieber nichts Teureres überlassen.
Durch seine neu gefundene Sitzhaltung nimmt er noch mehr Raum ein und dringt langsam aber sicher in meine Komfortzone ein. Erst das manspreading und jetzt das noch. Wie kann man sich denn bitte noch klischeehafter verhalten?
"Wieso hast du die Schule gewechselt?"
Seine Stimme ist mehr ein Raunen und erneut durch durchfährt mich ein Schauer. Wieder nicht aus Erregung. Seine Masche nimmt vor meinem inneren Auge eine Form an und ich beuge mich runter, um das Buch in meinem Rucksack verschwinden zu lassen.
Ich habe keine große Lust zu erklären, welch eine verzweifelte Situation mich zu dieser Entscheidung gedrängt hat und so beschließe ich gar nichts zu antworten.
"Wurdest du gemobbt?", fragt er weiter. Ohne dieses Raunen.
Ich antworte wieder nicht und mit einem Ruck verschließe ich das Fach meines Rucksacks. Dennoch bemerke ich, dass er ein Stückchen näher rutscht. Ich lasse meinen Rucksack Rucksack sein und setze mich wieder auf. Jetzt berühren sich auch noch unsere Oberschenkel ...
"Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du gemobbt wurdest. Ich meine, du siehst ziemlich gut aus."
Jetzt reicht's mir. Geheimnisvolle Ausstrahlung hin oder her. Ich kann Körperkontakt mit Jungs nicht ausstehen, ich kann es nicht leiden, das Gefühl zu haben, angemacht zu werden und dazu noch verpackt in so einem Spruch.
"Ist dir vielleicht schon mal in den Sinn gekommen, dass Mobbing nicht immer etwas mit dem Aussehen zu tun haben muss? Leute werden aus so unterschiedlichen Gründen gemobbt."
Es kann gut sein, dass mich genau der gleiche Satz bei einem Mädchen nicht so aufgeregt hätte, aber er ist nun mal kein Mädchen und plötzlich habe ich das Gefühl es keine Minute länger neben ihm auszuhalten. Bilder, die ich die ganze Zeit über erfolgreich verdrängt habe, kämpfen sich an die Oberfläche, als er seine Hand von der Sofalehne nimmt und auf meine Schulter legt.
"Darf ich denn wenigstens fragen, wie du heißt?"
Mein Blick ruht auf seiner Hand. Vor meinen Augen verschwimmen seine eleganten, langen Finger zu den kräftigen kurzen in meinen Albträumen. Es ist alles gut. Tief durchatmen. Nur unter Aufbringung all meiner Kräfte schaffe ich es meinen Kopf zu heben und meine Erinnerungen in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses zu verbannen, wo sie hingehören.
"Julie", meine Stimme gleicht eher einem Krächzen.
Allein schon der Gedanke an diesen Moment lässt meine Kehle staubtrocken werden. Ich sollte aufhören daran zu denken und auch schleunigst hier verschwinden.
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may i love him
Teen FictionIn Julies Augen sind alle Jungs gleich, und zwar gleich schrecklich. Doch als sie die Schule wechselt und am ersten Schultag dem norwegischen Austauschschüler Finley über den Weg läuft, ändert sich einiges. Sie beginnt ihre Abneigung gegenüber Jungs...