19.

9 2 0
                                    

Danach, gegenwärtig, Gegenwart

Schon zwei Tage nachdem die freundliche Oberärztin mir eine Traumatherapie empfohlen hatte, hat meine Mutter eine Therapeutin aufgetrieben, die nicht nur auf die Behandlung von Traumata spezialisiert ist, sondern auch noch einen freien Platz hat. Es ist entweder Glück oder meine Mutter hat ihre Kontakte spielen lassen, die sie als Ärztin im medizinischen und therapeutischen Bereich nun mal hat.

Und dann kam Frau Freud. Wegen meiner besonderen Situation machte sie eine Ausnahme und bestand nicht darauf, dass die Sitzungen in ihrer eigenen Praxis stattfanden. Als sie mein Zimmer betritt, bin ich überrascht. Ich weiß nicht ganz genau, was ich erwartet habe, aber irgendwie überrascht mich Yvonne Freuds Aussehen. Zwar hat sie einen Block und einen Stift bei sich, aber der Bob und die weiße Bluse, die sie unter einem blauen Blazer trägt, zu der ebenso blauen Anzughose scheinen mir weniger typisch für eine Therapeutin.

„Hallo Julie, wie schön dich kennenzulernen", begrüßt sie mich.

Ihre Stimme ist sanft und auch schon in diesen Worten schwingt dieser bestimmte Sing-Sang mit, den ich schon bei verschiedensten Therapeuten gehört habe. Ob man das wohl im Psychologiestudium lernt?

Frau Freud zieht sich einen Stuhl zu meinem Bett, nimmt Platz und streicht sich ihre braunen Haare hinter die Ohren. Bis jetzt habe ich nichts gesagt und nur alles skeptisch beobachtet.

„Also Julie, ich denke, wir sollten uns erstmal ein bisschen kennenlernen. Was meinst du?"

Immer noch etwas unsicher, wie ich die Situation und ihre Freundlichkeit einschätzen soll, nicke ich nur. Als meine Mutter mir erzählt hat, dass Yvonne Freud Anfang fünfzig ist, habe ich nicht mit einer stilvoll gekleideten, netten, sondern eher mit einer grantigen in weiten Klamotten gekleideten Frau gerechnet. Eine die nicht ernst nimmt, was mir passiert ist, weil es noch tausendmal schlimmere Vorfälle auf dieser Welt gibt.

Sie fragt wie es mir geht, was meine Freunde und Familie so machen und was ich für Hobbys habe. Natürlich ist das Smalltalk vom Schlimmsten, aber anders kann man jemanden nicht kennenlernen, ohne gleich zu persönliche Fragen zu stellen. Also beantworte ich jede ihrer Fragen geflissentlich. Nur bei den Freunden gerate ich ins Stocken.

„Ich habe keine Freunde", erkläre ich ihr, kann aber selber nicht ganz glauben, was ich sage. Denn eine Stimme in mir flüstert mir zu, dass ich doch Freunde habe. Nur kann ich mich nicht daran erinnern.

„Du hast keine Freunde?", hakt auch die Therapeutin nach.

Ich schüttle den Kopf. Erste Tränen sammeln sich in meinen Augen. Was ist nur los mit mir?

„Und da bist du dir ganz sicher?"

Ihre zweite Frage klingt genauso wertschätzend wie die erste und während ich noch mal darüber nachdenke, ob ich wirklich keine Freunde habe und wieso ich verdammt nochmal anfangen muss zu weinen, durchsucht Frau Freud ihre Unterlagen.

„Schau mal, was ich hier habe."

Was sie in ihren Unterlagen gesucht hat, stellt sich als Fotos von Jugendlichen heraus. Sie legt sie vorsichtig auf meiner Bettdecke vor mir aus.

„Meinst du, du erkennst jemanden davon?", fragt sie und eine Aufforderung mich zu erinnern, liegt in ihrer Frage.

Da, das Mädchen mit den roten Haaren, das habe ich irgendwo schon einmal gesehen und der Junge mit den blonden Haaren und den grünen Augen kommt mir auch bekannt vor. Seine Augen erinnern mich an Jade. Auch den Jungs auf den anderen beiden Bildern muss ich schon einmal begegnet sein. Und dann dämmert es mir langsam. Diese Leute, diese Jugendlichen auf den Bildern, das müssen meine Freunde sein. Darum hat Frau Freud für einen kurzen Moment verwirrt gewirkt, als ich erzählt habe, dass ich keine Freunde habe. Denn ich habe Freunde. Ich habe Freunde und kann mich nicht an sie erinnern.

„Julie, ich denke, ich lasse dich fürs Erste mit den Bildern alleine. Wir können uns, wenn du möchtest, nächstes Mal über deine Freunde unterhalten."

Auch jetzt nicke ich nur. Sie hat recht, ich möchte mich alleine mit diesen Bildern auseinandersetzen. Mit leisen Schritten verlässt sie das Zimmer.

Das sind meine Freunde. Ich hebe das Bild mit dem rothaarigen Mädchen auf. Ob das meine beste Freundin war? Sie sieht unglaublich cool und selbstbewusst aus. Und der blonde Junge. Ich nehme auch sein Bild in die Hand, um es näher betrachten zu können. Er sieht ziemlich gut aus und das Lächeln auf seinen Lippen ist umwerfend. Ich werfe einen Blick auf die übrigen zwei Bilder. Aus einem mir unverständlichen Grund, fühle ich mich zu den ersten zwei Bildern mehr hingezogen, als zu diesen. Trotzdem lege ich die Bilder zurück und wende mich jetzt den Bildern mit dem braunhaarigen und dem schwarzhaarigen Jungen zu. Der erste hat zu den braunen Haaren, braune Augen und ein komisches Gefühl macht sich in mir breit. War ich wirklich mit diesem Jungen befreundet? Ich glaube kaum. Und auch bei dem anderen bin ich mir nicht sicher, wie sympathisch ich ihn wirklich gefunden haben kann. Seine blauen Augen haben etwas Kaltes und auch seine Züge sind grob und Aggressive.

Wann lichtet sich dieser verdammte Nebel in meinem Kopf?

may i love himWo Geschichten leben. Entdecke jetzt